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Die Mahnung der 43

Kurz vor den gestrigen Corona-Beschlüssen meldeten sich führende Wissenschaftlerinnen zu Wort und forderten, doch auch die Kitas zu öffnen. Erhört wurden sie nicht – oder doch ein bisschen?

43 UNTERZEICHNERINNEN. 43 Wissenschaftlerinnen, darunter die Soziologin Jutta Allmendinger, bekannte Bildungsforscherinnen wie Petra Stanat, Mareike Kunter oder Katharina Spieß. Alles Frauen. 

 

Schon das gehörte zu den zentralen Botschaften ihres Aufrufs, den sie gestern kurz vor dem Treffen der Regierungschefs und der Bundeskanzlerin veröffentlichten: ein Kontrapunkt zu dem vielbeachteten Corona-Gutachten der Leopoldina, unter deren 26 Autoren sich gerade mal zwei Frauen befanden.

 

Und gegen einen wichtigen Teil dieser hauptsächlich von Männern gemachten Empfehlungen wandten sich die 43 Unterzeichnerinnen des "Kommentars zur Adhoc-Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina" dann auch: gegen den Teil, der, wie die Wissenschaftlerinnen betonten, ein "hohes Belastungspotenzial" vor allem für kleine Kinder, Familien und Frauen bedeute – die fortgesetzte Schließung von Kitas.

 

Blieben die Kindertagesstätten auf Monate zu, warnen die Forscherinnen, wären davon "Kinder im Alter zwischen einem und vier Jahren und ihre Familien in vielerlei Hinsicht betroffen." Und dann zählen die Unterzeichnerinnen detailliert die drohenden Schäden auf: entwicklungspsychologisch, lernpsychologisch, sozial. Die größten Nachteile drohten Kindern, "deren Familien keine entsprechenden Angebote machen können und für die frühe Förderung besonders wichtig ist. Viele Kinder mit geringen Deutschkenntnissen werden über mehrere Monate kaum Kontakt zu deutschsprachigen Kindern und Erwachsenen haben." Hinzu komme das wachsende Konfliktpotenzial in vielen Familien, die Belastungssituation könne sich in Gewalt entladen.

 

Haben sich die Leopoldina-Wissenschaftler
um einen Teil der Wirklichkeit herumgemogelt?

 

Für die Mütter ergäben sich ebenfalls beträchtliche negative Konsequenzen, da sie die Hauptlast der weggefallenen  Kitabetreuung trügen. "Aus soziologischer und ökonomischer Perspektive werden Frauen durch diesen verlängerten Wegfall der institutionellen Betreuung entweder von der Erwerbsarbeit abgehalten oder können sich nicht mit gleicher Kraft und Konzentration ihrer Arbeit widmen." Die erhöhte psychische Belastung und die Nachteile im Job träfen Alleinerziehende am härtesten, die noch dazu nicht auf die Unterstützung etwa der Großeltern zurückgreifen könnten.

 

Eine schonungslose Beschreibung der Wirklichkeit in vielen Familien; eine Wirklichkeit, um die sich sich die größtenteils männlichen Leopoldina-Wissenschaftler herumgemogelt haben? Zumindest lässt sich dieser implizite Vorwurf aus dem Aufruf der 43 herauslesen. Andernfalls hätten sie nämlich in der "Abwägung der Zielkonflikte" zwischen Eindämmung der Corona-Infektionen und ihren sozialen Folgen für Kinder, Familien und Frauen ebenfalls zu "einer anderen Einschätzung" kommen müssen, das ist die kaum verklausulierte Botschaft des Appells der Wissenschaftlerinnen.

 

Wie diese Einschätzung ihrer Meinung nach hätte ausfallen müssen, sagen die Unterzeichnerinnen überdeutlich: Man solle die jüngsten Kinder "nicht pauschal im Lockdown verharren lasen, sondern auch für sie differenzierte Lösungen für die Bildung und Betreuung umsetzen." Dabei sollten dieselben Richtlinien angewandt werden, die die Leopoldina-Stellungnahme für die älteren Kinder vorgeschlagen habe. Kleine Gruppen und konstante Gruppen vor allem, "die tageweise oder in kürzeren Betreuungsschichten die Kindertageseinrichtungen besuchen dürfen." Da in der Tat damit zu rechnen sei, dass Kinder unter fünf Jahren keine Abstandsregeln einhalten könnten, sollten die Gruppen nur aus wenigen Kindern bestehen. In jedem Fall, schließen die Forscherinnen ihren Appell, ließen sich die Herausforderungen nicht dadurch bewältigen, "dass gerade die Jüngsten über einen sehr langen Zeitraum von institutioneller Belastung ausgeschlossen und damit gerade Familien mit sehr jungen Kindern besonders belastet werden."

 

Söder: "Kitas bleiben
erstmal zu"

 

Ein klares Votum – doch wurde es erhört? Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) brachte die wenig später getroffene Entscheidung der Regierungschefs in der Hinsicht gestern Abend auf einen Satz: "Die Kitas und Grundschulen bleiben erstmal zu." Fast so, als hätten die Warnungen vieler Bildungsforscher und Erziehungsforscher, und natürlich ganz besonders die der 43 Unterzeichnerinnen, keinerlei Rolle gespielt.

 

Dass sich die Regierungschefs, wie sie gern betonen, bei ihren Beschlüssen an den wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren,  stimmt also nur teilweise – zumindest wenn man der Meinung ist, dass Wissenschaft mehr ist als Virologie und Epidemiologie. Denn auch die vielkritisierte – sehr interdisziplinär zusammengesetzte – Leopoldina-Arbeitsgruppe hatte, abgesehen von ihrer Zurückhaltung bei den Kita-Öffnungen,  ebenfalls für eine deutliche Prioritätensetzung auf die jüngeren Schüler plädiert– und lag dadurch mit ihrem Votum in Wirklichkeit deutlich dichter am Aufruf der 43 als an dem, was Bund und Länder gestern beschlossen haben. 

 

 

Andere Regierungen, vor allem im Norden Europas, haben sich in der Abwägung der vorliegenden wissenschaftlichen Empfehlungen anders entschieden. Dänemark öffnete als erstes die Kindergärten und Grundschulen bis Klasse fünf – unter Auflagen, die so ähnlich sind wie jene, die die 43 deutschen Wissenschaftlerinnen beschreiben. Norwegen will von nächster Woche an fast identisch vorgehen. Islands Kitas und Grundschulen waren nie vollständig zu. Es ist sicherlich kein Zufall, dass all dies Gesellschaften sind, in denen die Teilhabe und Gleichberechtigung von Frauen fortgeschrittener ist als in Deutschland. 

 

Dabei wäre, wie der Appell der Wissenschaftlerinnen zeigt, tatsächlich auch in der Bundesrepublik eine spürbare Öffnung möglich, ohne den Infektionsschutz zwangsläufig zu gefährden. Weitere kreative Modelle wären denkbar. Ein Kita-Wiedereinstieg an ein bis zwei Tagen pro Woche zum Beispiel, um die Gruppen klein zu halten. Mit festen Gruppen von Kindern und ErzieherInnen, die es auch ermöglichen würden, dass sich dieselben Kinder privat treffen, ohne potenziell zusätzliche Infektionsketten zu eröffnen. So würde zudem verhindert werden, dass Kinder und Kitas komplett überfordert würden – genau dann nämlich, wenn sie doch irgendwann wieder öffnen dürfen und plötzlich die kleinsten Kinder alle auf einmal neu eingewöhnt werden müssten. Eine Albtraumvorstellung für Eltern und Pädagoginnen.

 

Kommt die Kita-Öffnung jetzt
durch die Hintertür?

 

Aber sind dies auch Gedanken, die sich gestern die Regierungschefinnen und -chefs gemacht haben? War ihre Entscheidung zu einseitig von der Sorge um die in Infektionsstatistiken sichtbaren Schäden geprägt?

 

Womöglich muss man hier am Ende doch noch einmal differenzieren. Im Beschluss der Regierungschefs heißt es wörtlich: "Die Notbetreuung wird fortgesetzt und auf weitere Berufs- und Bedarfsgruppen ausgeweitet." Mit Bedarfsgruppen sind, obwohl dies nicht genauer spezifiziert wird, vermutlich besonders Kinder gemeint, die in sozial schwierigen Verhältnissen aufwachsen. Also genau die Gruppe, um die sich auch die Unterzeichnerinnen des Appells die größten Sorgen machen.

 

Die Regierungschefs haben sich also um sie Gedanken gemacht. Da parallel auch die Erweiterung um neue Berufsgruppen genannt wird, könnte je nach Großzügigkeit der Umsetzung der gestrige Beschluss sogar einer schrittweisen Öffnung der Kitas gleichkommen. Denn da schon in der Vergangenheit die Notbetreuung Stück für Stück ausgeweitet wurde, dürften die Gruppen in den Kitas und, solange die Grundschulen zu sind, in den Horts in den nächsten Wochen spürbar wachsen – die Frage ist, wie stark und nach welchen Kriterien genau.

 

Und genau deshalb kann man den Regierungschefs die Kritik doch nicht ersparen: Denn selbst wenn die von ihnen beschlossene Lösung am Ende zu fast genau derselben schrittweisen Öffnung der Kitas führen sollte wie von den Wissenschaftlerinnen angeregt, fehlt nicht nur die Transparenz, die verlässliche Ansage und die Perspektive für die Mehrzahl der Kinder und Eltern. Es fehlt, was genauso schlimm ist, das demonstrative Commitment der Spitzenpolitiker für die Jüngsten und Schutzbedürftigsten in unserer Gesellschaft. Es fehlt, wohl aus dem Kalkül, sich gesellschaftliche Widerstände gegen die Kita-Öffnungen zu ersparen, die explizite Entscheidung. Führungsstark ist das nicht. 



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Kommentare: 2
  • #1

    Working Mum (Donnerstag, 16 April 2020 17:20)

    In der Praxis scheint mir die schrittweise Öffnung noch sehr weit entfernt. In der Kita unserer Kinder, die eigentlich eine große ist, nimmt niemand das Notbetreuungsangebot an, auch nicht in der erweiterten Form. Und das obwohl durchaus Eltern in systemrelevanten Berufen tätig sind und Anspruch hätten. Mein - nur schwer belegbarer - Eindruck ist, dass da ein subtiler Druck besteht, dass Eltern, die das Angebot nutzen, ihre Kinder unverantwortlich in Gefahr bringen.

  • #2

    Homeoffice (Mittwoch, 22 April 2020 21:53)

    Es müssen kreative Lösungen her. Kündigungsschutz und flexibles Elterngeld für diese Zeit. Das Recht, sich privat in festen Kleinstgruppen zu organisieren. Ja, Kinder können die Regeln nicht einhalten. Ja, das Personal im KiGa wird gefährdet und ja, viel Personal bricht weg, weil es selbst zur Risikogruppe gehört. Aber dann erlaubt, dass wir Eltern uns organisieren und sorgt für Sicherheit. Sonst bleibt am Ende nur die Kündigung und damit ist der Wirtschaft nun auch nicht gedient.