Die Mär vom deutschen Bildungsflaggschiff

Bei Ökonomen kennen wir ein ähnliches Phänomen. Ihre Wachstumsprognosen sind gelegentlich kaum mehr als eine Fortschreibung des Status Quo. Anders formuliert: Läuft die Wirtschaft gut, vermögen sie sich einen plötzlichen Absturz nicht vorzustellen. Ist die Konjunktur aber im Tal, können sie tausend Gründe nennen, warum es genau so kommen musste und warum der nächste Aufschwung eigentlich nur eine Niete werden kann. Und wahrscheinlich ist das nicht einmal eine schlechte Strategie: Argumentiere ich aus der Gegenwart heraus, ist das Risiko geringer, beim Blick in die Zukunft total danebenzuliegen. 

 

Warum ich mich in einem Blog über Bildung und Wissenschaft so länglich über Konjunkturprognosen auslasse? Weil mich der Deutschen Selbstzufriedenheit mit ihrer angeblich weltweit so einzigartigen dualen Ausbildung schon geraume Zeit stört. Die Jugendarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik ist europaweit am geringsten? Nirgendwo sonst ist die Quote der Erwerbslosen auch insgesamt so niedrig wie in Deutschland (zurzeit 4,6 Prozent nach der ILO-Berechnung)? Das muss doch wohl mit unserem tollen System zu tun haben, oder? Angeblich lecken sich die Sozialpolitiker anderer Länder danach die Finger, die EU will das deutsch-österreichisch-schweizerische Vorbild in andere Länder übertragen sehen, und laut Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ist die duale Ausbildung ohnehin schon lange "ein Exportschlager" und "ein Flaggschiff des deutschen Bildungssystems".

 

So. Gehen wir mal ein Jahrzehnt zurück, Februar 2005: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland erreicht nie gekannte Rekordhöhen. 5,2 Millionen Menschen haben keinen Job, eine Arbeitslosenquote weit über dem EU-Schnitt."Ein katastrophaler Tag für Deutschland", nennt das der Unionsvize im Bundestag, Roland Pofalla. Wie kann denn das sein? Die Ursachensuche der Bundesregierung ergibt unter anderem: Das duale Ausbildungssystem muss dringend modernisiert werden. Das damalige Motto des BMBF: "Neuer Herausforderungen und neue Chancen brauchen neue Wege."  

 

Wie gesagt: Es ist wie bei den Ökonomen. Läuft es schlecht, muss alles anders, alles besser werden. Läuft es gut, ist alles super. Und wenn doch nicht, sind die anderen schuld. Womit wir bei der Akademikerdebatte wären, die uns seit rund zwei Jahren vor allem dank Julian Nida-Rümelin beschäftigt. Denn obwohl das duale Ausbildungssystem so klasse und international begehrt ist, finden die Betriebe nicht ausreichend qualifizierte Bewerber. Woran das liegt? Nicht am dualen System, nein – sondern daran, dass heute unbedingt jeder studieren möchte. Dass die Politik fortwährend Signale sendet, jeder soll studieren. Und so nehmen die Hochschulen den Betrieben die Azubis weg. Soweit die Flaggschiff-Logik vieler Wirtschaftslenker, die Verbündete finden in eher als konservativ einzustufenden Professoren, denen die Massenuniversität schon lange deutlich zu massig geworden ist. 

 

Endlich ist da einer, der Tacheles redet. Wieder mal Tacheles redet, denn schon bei der Bologna-Debatte war Thomas Sattelberger, damals Telekom-Personalvorstand, derjenige, der auf Seiten der Wirtschaft gegenhielt, wenn mal wieder jemand die Reform für gescheitert und den Bachelor für wertlos erklärte. Jetzt sagt er laut Süddeutscher Zeitung, "Akademiker-Schwemme" sei für ihn das Unwort das Jahres. Dass sich alle aufs Studium stürzten, sei ein hausgemachtes Problem der Unternehmen. Deren duale Ausbildung, deren "Produkt ist nicht mehr attraktiv genug". Schlechtes Angebot, schlechte Nachfrage - "Marktkräfte" eben, so Sattelberger. 

 

Ein Tiefschlag für die Selbstzufriedenheit. Und lange überfällig. Denn es geht eben nicht an, dass die Unternehmen über zu wenig Azubis klagen und gleichzeitig Hunderttausende von Jugendlichen Warteschleifen im so genannten Übergangssystem drehen, weil keiner sie haben will. Sagen wir doch mal, wie es ist: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist nicht wegen des dualen Ausbildungssystems so niedrig. Sie ist auch nicht trotz des dualen Ausbildungssystems so niedrig. Der Arbeitsmarkt profitiert von ganz anderen Dingen: von einer konjunkturell für Deutschland immer noch extrem günstigen Lage und (das ist zumindest meine Meinung) von den Langzeitwirkungen der unter Gerhard Schröder angestoßenen Arbeitsmarktreformen. 

 

Gönnt man sich diesen nüchternen Blick, ist das duale Ausbildungssystem zwar kein Heilsbringer mehr und kein globalgeniales Konzept, aber immer noch eine ziemlich gute Idee. Eine Idee, die man gemäß dem Motto von 2005 gerade jetzt mal wieder an die Zukunft anpassen sollte. Die Akademikerquote wird auf Dauer so hoch bleiben, und das ist gut so. Die wenigsten Studienanfänger werden sich mit ein paar flotten Sprüchen oder noch so netten Geschenken in die Unternehmen umleiten lassen. Die Quote der Ausgeschlossenen hingegen darf auf keinen Fall so hoch bleiben. Sie sind, neben Studienabbrechern und neu eintreffenden Flüchtlingen, die einzig sinnvolle und zahlenmäßig überzeugende Zielgruppe für Unternehmen, die unter Nachwuchsmangel leiden. 

 

Was die Ausbildungsbetriebe brauchen, sind integrative, inklusive Konzepte. Konzepte, die Antworten auf die Frage geben, wie man das Potenzial aus Menschen herausholt, die auf den ersten Blick verschlossen erscheinen. Auf diese Antworten sollten Wirtschaft, Politik und Bildungswissenschaft ihre Kräfte konzentrieren, anstatt abwechselnd vom dualen System zu schwärmen und den vermeintlichen Akademikerwahn zu geißeln. 


PS: Sie sehen, ich spitze gern zu in diesem Blog. Aber habe ich auch Recht? Diskutieren Sie mit!

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Klaus Diepold (Mittwoch, 16 September 2015 17:13)

    Lieber Herr Wiarda,
    das duale Bildungssystem ist sicher in seiner Wirkung oft überschätzt. Allerdings zeigt ein Blick über den Teich auch, wie sehr z.B. die Kanadier versuchen ein vergleichbares System zu etablieren. Die Kanadier haben so ziemlich die höchste Quote an Akademikern im Land. Wenn man aber in Kanada reich werden will, dann ist man am besten ein in Deutschland ausgebildeter Kaminbauer, Elektriker, Installateur etc. Akademiker haben. Dort gibt es einen Mangel an Fachkräften, die nicht notwendigerweise akademisch (aus)gebildet sein müssen. Ob uns mehr Akademiker helfen oder schaden haben schon andere Expert vor Nida-Rümelin untersucht und diskutiert.

    In politischen Diskussion neigen wir dazu sehr einfache Ursachen-Wirkungsgefüge zu sehen und als richtig zu betrachten. Oft sind das reine Covariationen, die von einer ganz anderen Ursache indirekt gesteuert werden. Ich denke, dass Sie das in ihrem Blog durchaus gut beschreiben haben.

    Bei der Diskussion um die Akademikerschwemme ist es eine Frage, ob es für einen Staat ökonomisch sinnvoll ist, überproportional viel Geld in die Ausbildung, sprich akademische Ausbildung seiner jungen Bürger zu stecken. Gibt es für das zusätzliche Investment einen entsprechenden Return ? Ich empfehle dazu die Lektüre von Alison Wolfs Buch "Does Education Matter? aus dem Jahren 2003. Darin arbeitet die Autorin eine vergleichbare Diskussion in GB auf.

    Als Ergänzung zur Diskussion über die Treffersicherheit von Wachstumsprognosen der Ökonomen ist es unterhaltsam und lehrreich das ein oder andere Buch von Nassim Nicholas Taleb zu lesen. Er nennt dies das Truthahn- Phänomen ...

    Ciao, kldi