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Da lässt sich was draus machen

Eine neue Studie belegt: Die Zahl der Quereinsteiger an Berlins Schulen ist nicht nur hoch, sie sind noch dazu extrem ungleich verteilt. Wenn die Politik richtig reagiert, können die Neulinge dennoch eine große Bereicherung werden, sagen die Forscher – und loben die Berliner Senatsverwaltung für ihre Transparenz.

Foto: Cover der Studie (Ausschnitt)
Foto: Cover der Studie (Ausschnitt)

VERMUTLICH WERDEN SICH jetzt wieder alle auf Berlin stürzen. Werden sagen: Typisch Hauptstadt. Nirgendwo sonst ist das Bildungschaos so groß. Und dazu noch jede Menge schlechte Lehrer. Womöglich ist die Sache jedoch etwas komplizierter.

 

Zunächst zu den Fakten. Dass der Lehrermangel besonders die Grundschulen trifft, war bereits bekannt – auch dass die Zahl der Quereinsteiger deshalb dort besonders hoch liegt. In einer heute erscheinenden Studie hat die Bertelsmann-Stiftung jedoch anhand Berliner Schuldaten erstmals empirisch nachgewiesen, was viele vermuteten: dass die Quereinsteiger sich noch dazu an den sogenannten Brennpunktschulen ballen. Konkreter: Ihr Anteil lag dort mit knapp 9,8 Prozent an allen Lehrkräften doppelt so hoch wie an Grundschulen, wo die meisten Schüler aus besser situierten Familien stammen. Und: Während an 16 Prozent der Grundschulen gar keine Quereinsteiger unterrichten, stellen sie an anderen Schulen 20 Prozent und mehr des Personals. Die Daten stammen aus dem vergangenen Schuljahr, inzwischen dürften sie noch höher liegen.

 

Von "Schulen in herausfordernder Lage" spricht die Studie, wenn dort mindestens 80 Prozent der Schüler von der Zuzahlung zu Lernmitteln befreit sind oder nicht mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen sind. Oder wenn die Schüler einer Schule im Schnitt mehr als sechs Prozent der Schulstunden verpassen. Eine statische Definition, die auf wenige Merkmale abhebt, aber, siehe oben, deutliche Unterschiede, in der Personalausstattung an die Oberfläche befördert.

 

Ganz offenbar, sagen die Studienautoren um den Potsdamer Bildungsforscher Dirk Richter, gelinge es der Berliner Bildungspolitik nicht, die bereits bestehende Benachteiligung der ärmeren Schüler abzufedern – im Gegenteil: Durch den Lehrermangel verschärfe sie sich sogar noch, weil die regulären Lehramtsabsolventen sich tendenziell die vermeintlich "einfachen" Grundschulen aussuchen.

 

Der Berliner Landeselternausschuss nennt die Befunde "äußerst beunruhigend" und kritisiert vor allem "den besonders hohen Anteil an Quereinsteigenden in Schulen mit hohen Quoten von Schüler_innen lernmittelbefreiten Schüler_innen und Schüler_innen nicht-deutscher Herkunftssprache".

 

Auch die bildungspolitische Sprecherin der SPD im Abgeordnetenhaus, Maja Lasic, sagt, es brauche dringend mehr Steuerung bei der Verteilung der Quereinsteiger. "Es kann nicht sein, dass die Brennpunkte die Hauptlast der Ausbildungsverantwortung tragen. Wir brauchen eine gleichmäßige Verteilung der Quereinsteigenden in der Stadt."

 

Womöglich ist die Schieflage 

sogar noch größer

 

Noch besorgniserregender ist, dass die Schieflage möglicherweise sogar größer ist, als die Daten der Studie es hergeben. Denn als "Quereinsteiger" erfasst die amtliche Statistik nur diejenigen Lehrer ohne reguläres Lehramtsstudium, die aktuell eine berufliche Qualifizierung durchlaufen. Danach sind ehemalige Quereinsteiger statistisch nicht mehr zu erfassen. "Wir gehen davon aus, dass der tatsächliche Anteil nichtregulärer Lehrkräfte noch deutlich höher ist", sagt Richter. Womit er nicht sagen wolle, dass ehemalige Quereinsteiger auf Dauer die schlechteren Lehrer seien. "Aber womöglich dauert ihre Einarbeitungszeit länger als die Qualifizierungsprogramme. Wir wissen es schlicht nicht."

 

Das ist den Forschern ohnehin extrem wichtig, womit wir bei der ersten von zwei möglichen Fehlinterpretation ihrer Studie angekommen sind: Nein, ehemalige Quereinsteiger müssten nicht die schlechteren Lehrer sein, im Gegenteil, sagt Mitautorin Alexandra Marx von der Deutschen Schulakademie: "Sie bringen besondere Stärken und oft auch eine besondere Motivation mit. Aber entscheidend ist, dass sie vernünftig qualifiziert werden. Und ab einem hohen Anteil von Quereinsteigern im Kollegium klappt das nicht mehr."

 

Der zweite Schlussfolgerung, die womöglich heute die Schlagzeilen bestimmen wird: Dass Berlin besonders mies dran ist. "Auch das lässt sich aus unseren Daten so nicht ableiten", sagt Dirk Richter. "Der Unterschied ist, dass die Berliner Senatsverwaltung für Bildung so mutig war, uns ihre Daten zur Verfügung zu stellen, und zwar bis auf die einzelne Schule genau." Ein bemerkenswerter Schritt der Behörde von Senatorin Sandra Scheeres (SPD), die derzeit in der Dauerkritik steht, auch weil im gerade begonnen Schuljahr nur 12,3 Prozent der neueingestellten Lehrer an Grundschulen ein passendes Lehramtsstudium durchlaufen haben.

 

Schon vom Schuljahr 2016/17 zum Schuljahr 2017/18 war der Anteil der Quereinsteiger in den Berliner Grundschulkollegien von 4,3 auf 6,5 Prozent gestiegen, im Schnitt aller Schulen wohlgemerkt. Den entsprechenden – und vermutlich erneut deutlich höheren – Anteil für das neue Schuljahr konnten die Studienautoren noch nicht errechnen.

 

Senatorin Scheeres sagt, die Ergebnisse seien "nicht neu für uns". Selbstverständlich stelle der zunehmende Anteil von Quereinsteiger die Schulen und die Bildungsverwaltung vor besondere Herausforderungen, sei aber alternativlos. "Berlin hat daher bereits früh darauf reagiert und die Rahmenbedingungen für den Quereinstieg geschaffen. So wurde beispielsweise die Unterrichtsverpflichtung für diese Gruppe abgesenkt und Qualifizierungskurse in den Sommerferien eingerichtet." 

 

Eine positive Nachricht haben Richter, Marx und der dritte Autor Dirk Zorn von der Bertelsmann-Stiftung immerhin zu vermitteln: Die dramatische Zunahme an Quereinsteigern habe in Berlin die Schere zwischen armen und reichen Schulen nicht weiter aufgehen lassen, die "Neuen" seien von allen Grundschulen in ähnlichem Umfang aufgenommen worden. Die Erklärung, die die Studienmacher für diese Entwicklung anzubieten haben, ist allerdings schon nicht mehr so ermutigend: "Irgendwann ist der Mangel eben so groß, dass selbst für die Stellenbesetzungen an privilegierteren Schulen die Lehramtsabsolventen nicht mehr ausreichen", sagt Dirk Zorn.

 

Womit wiederum langsam auch die Quereinsteiger knapp werden – und die sogenannten LovLs ins Blickfeld rücken. Unter LovLs versteht die Berliner Senatsverwaltung sogenannte "Lehrkräfte ohne volle Lehrbefähigung", das sind Leute, die die Fächer, die sie unterrichten sollen, gar nicht studiert haben, sondern lediglich inhaltlich verwandte Studiengänge. Und deren Zahl explodiert: Während im Schuljahr 2017/18 lediglich fünf LovL an Berliner Grundschulen anfingen, habe ihre Zahl (489) im neuen Schuljahr sogar die der neu eingestellten Quereinsteiger um 100 überschritten, berichten die Forscher. 

 

Nehmt Euch ein Beispiel an Berlin, fordern

die Forscher von den Kultusministern anderswo

 

Was empfehlen sie der Politik nun angesichts ihrer Ergebnisse? Der erste Appell geht an die Kultusminister außerhalb Berlins: Nehmt euch an der Hauptstadt ein Beispiel und seid genauso transparent mit euren Daten! "Berlin sticht auch dadurch hervor, dass in einer Online-Datenbank umfangreiche Informationen zu allen Schulen abrufbar sind, für jedermann, schon das ist lobenswert", sagt Alexandra Marx.

 

Der zweite Appell: Die Politik, sagen die Forscher, tue gut daran, die Finanzierung der Schulen stärker an der sozialen Zusammensetzung der Schülerschaft auszurichten. Sprich: Je mehr benachteiligte Schüler eine Schule hat, desto mehr Geld und Personal erhält sie. Womit sie nicht nur ihren Schülern gerechter werden könne, sondern auch potenziellen Bewerbern attraktiver erscheine. Eine Forderung, die zuletzt immer häufiger laut wird. 

 

Auch hier schreite Berlin voran – wenn nach Darstellung der Studie auch unzureichend: Das "Bonusprogramm" gesteht Brennpunktschulen bis zu 100.000 Euro Extra-Budget pro Jahr zu. Das genüge natürlich bei weitem nicht, sagen die drei Autoren und verweisen auf Hamburg: Eine "wirksame und bedarfsorientierte Ressourcensteuerung" über den Sozialindex, so formuliert das die Studie in schönster Wissenschaftlersprache, sei in der Hansestadt in deutlich weitgehender Weise umgesetzt, "indem Schulen mit besonderer sozialer Belastung spezielle Unterstützung erhalten, zum Beispiel durch gestaffelte Absenkung der Klassenfrequenzen oder durch Sprachförderangebote."

 

Unterdessen kündigte Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) bei einer Fachtagung in Kiel an, zum Schuljahr 2019/20 auch im nördlichsten Bundesland einen Bildungsbonus einführen zu wollen. Er solle "ein Aufbruch zu mehr Bildungsgerechtigkeit und damit zu mehr sozialer Gerechtigkeit sein", sagte die Ministerin. Anfangs seien dafür zwei Millionen Euro pro Jahr eingeplant, bis 2022 solle der Bonus auf zehn Millionen Euro anwachsen. Die Unterstützung der Schulen solle effizient ausgestaltet werden. "Es wird kein Gießkannenprinzip geben. Wir werden uns auf Schulen konzentrieren, an denen der Bedarf am größten ist." Dazu solle das Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) einen datengestützten Sozialatlas entwickeln. 

 

Den Bertelsmann-Forschern dürften diese Pläne zusagen. Wenig halten sie dagegen von Versuchen, Lehrer über eine individuelle Gehaltszulage an die Brennpunktschulen zu locken. "Die 300 Euro, die Berlin plant, reichen erstens nicht aus und zweitens, so befürchten die meisten Schulleiter, wird ihre Stigmatisierung als Brennpunkt so nur noch verstärkt." Als Ergänzung ihrer statistischen Untersuchung haben die Forscher Interviews mit Schulleitern, Vertretern von Lehrerverbänden, Wissenschaftlern und Mitarbeitern der Bildungsverwaltung geführt.  Maja Lasic, die zu den Initiatoren der Zulage gehört, meint jedoch, hier unterstelle die Studie uns "eine Absicht die wir nicht verfolgen. Uns geht es nicht um Ressourcensteuerung über monätere Anreize, sondern um Wertschätzung der Mehrarbeit."

 

Abgesehen vom Streit um die Zulage: Entscheidend sei betonen die Studienautoren, dass die Quereinsteiger nach dem Start nicht allein gelassen würden. In Berlin zum Beispiel absolvieren Quereinsteiger parallel zum Schuldienst einen 18-monatigen Vorbereitungsdienst oder müssen zunächst ein zweites Unterrichtsfach nachstudieren, wenn für einen direkten Einstieg in den Vorbereitungsdienst die Voraussetzungen fehlen. Für diese zusätzliche Belastung bekämen sie neun von 28 Stunden Unterrichtsverpflichtung pro Woche erlassen, berichten die Studienautoren. Der Zeitdruck sei für die Betroffenen enorm hoch, sagt Richter. "Gleichzeitig, und das ist noch problematischer, erhalten die Schulen pro Quereinsteiger nur zwei Ermäßigungsstunden."

 

Soll heißen: Mehr als zwei Stunden Betreuung pro Woche durch erfahrene Kollegen sind derzeit nicht finanziert, und selbst diese zwei Ermäßigungsstunden kommen offenbar nicht immer bei den Quereinsteigern an, sondern werden von den Schulleitungen anders verwendet. Die Forscher fordern deshalb eine substanzielle Erhöhung und zusätzlich den verstärkten Einsatz pensionierter Lehrer als Mentoren, womit das Land Berlin zuletzt bereits begonnen hat. Zudem sollten besonders Schulen mit hohem Quereinsteiger-Anteil eine Funktionsstelle für einen zentralen Ansprechpartner finanziert bekommen, und die Schulen sollten übergreifende Netzwerke bilden, um die Quereinsteiger besser betreuen zu können.   

 

Bildungssenatorin Scheeres hält den Autoren entgegen, Berlin sei "bei der Entwicklung der Maßnahmen zur Unterstützung der Quereinsteigenden ist Berlin inzwischen wesentlich weiter", als diese implizierten. Scheeres nennt nicht nur das Bonusprogramm, sondern "in erster Linie die zusätzliche Ausstattung mit Lehrkräften für Schulen mit vielen Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache oder Familien, die soziale Transferleistungen erhalten." Unterstützung hält Scheeres von der SPD-Bildungspolitikerin Lasic: Für die Ausbildung, Begleitung und Stundenermäßigung für Quereinsteiger hätten die Regierungsfraktionen SPD, Grüne und Linke 60 Millionen Paket in den Haushalt reingestellt. "Die Auswertung von Bertelsmann bezieht sich auf die Zeit vor diesem Schwerpunkt."

 

Norman Heise vom Berliner Landeselternausschuss (LEA) sagt in seiner Reaktion auf die Studie, sie belege die Einschätzung des LEA, dass die Quereinsteiger mit ihrer Vielfalt an vorangegangenen beruflichen Erfahrungen den Unterricht praxisnäher gestalten könnten. "Wir sehen uns allerdings auch bestätigt, dass es ein deutliches Ungleichgewicht in der Verteilung der Quereinsteigenden auf die Schule bezogen auf Schülerschaft gibt." Der LEA gehe davon aus, dass die Berliner Politik den Empfehlungen der Studie nachkomme.

 

Besser nicht nur die Berliner Politik: In den nächsten Jahren wird sich der Lehrermangel voraussichtlich noch verstärken, auch die Anzahl der nicht regulär ausgebildeten Lehrkräfte dürfte weiter steigen. Wenn die Kultusministerien jetzt die richtigen Schlüsse daraus ziehen, heißt das nicht zwangsläufig, dass deshalb die Qualität der Schulen signifikant in den Keller geht, im Gegenteil: Dann können die Quereinsteiger eine echte Bereicherung für die Schulen sein.

 

Das ist die wahrscheinlich wichtigste Botschaft der Studie. Allerdings sollte die Politik auch anderswo in Deutschland mit diesen Schlussfolgerungen bald anfangen. Andernfalls drohen wirklich langfristige Verwerfungen – mit den ärmsten Schülern als den größten Leidtragenden.

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