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Plädoyer für eine Währungsreform des Lernens

Gute Bildung ist zeitlos. Doch wir müssen ihren Wert neu beschreiben. Ein Gastbeitrag von Susanne Hensel-Börner.

Dirk Vorderstraße: "Zeugnis / Schulzeugnis", CC BY 2.0

NIRGENDWO SONST scheint die Diskussion um den Einfluss der Digitalisierung so hitzig geführt zu werden wie beim Thema Bildung. Dabei dominieren zwei Argumentationslinien, die widersprüchlicher kaum sein könnten.

 

Bildung müsse messbar und vor allem vergleichbar sein, sagen die einen und fordern die Standardisierung durch ein Einheitsabitur. An den Hochschulen dienen die ECTS-Kreditpunkte längst zur internationalen Vereinheitlichung studentischer Arbeitszeit.

 

Gleichzeitig rüttelt der uneingeschränkte Zugang zu digitalisierten Informationen und Wissen am Fundament althergebrachter Bildungsziele. bei denen die kognitiven Fähigkeiten noch immer im Vordergrund stehen. Und so halten Kritiker dagegen: Anstelle normierter Wissensvermittlung müssten die 4 K‘s – Kreativität, Kommunikation, Kollaboration und Kritisches Denken – als Schlüsselkompetenzen des 21. Jahrhunderts gelten.

 

Digitalisierung der Lehre vs. Bildung für eine digitale Welt

 

Kann es möglich sein, diese beiden gegensätzlichen Herangehensweisen an Bildung irgendwie zusammenzubringen? Ich behaupte: ja. Ich behaupte: Das, was gute Bildung ausmacht, ist weder neu noch strittig. Wir müssen den Wert guter Bildung allerdings auf neue Weise beschreiben. Als Ökonomin fällt mir da eigentlich nur ein passender Begriff ein. Wir brauchen eine Währungsreform in der Bildung. 


Susanne Hensel-Börner ist Professorin für Betriebswirtschaftslehre an der Hamburg School of Business Administration (HSBA) und Initiatorin des neuen Master-Studienganges "Digitale Transformation und Nachhaltigkeit".


Lassen Sie mich zunächst ein Missverständnis ausräumen. Zweifelsohne bietet E-Learning viele und gute Möglichkeiten zur Individualisierung des Lernens, sei es in Form von Lernvideos, Lern-Apps oder zahlreichen weiteren Formaten. Wer sie nutzt, hinterlässt als Lernender permanent Spuren seines Lernprozesses, die auf Knopfdruck ausgewertet werden können. Digitalisierung erlaubt also nicht nur die Individualisierung der Bildung in bisher ungeahntem Ausmaß, sondern auch deren Messbarkeit.

 

Doch solche Formate des E-Learnings dürfen nur der Einstieg sein. Denn bei ihnen steht noch immer die reine Wissensvermittlung im Mittelpunkt, und die Erfolgsmessung basiert auf einer vorab definierten Ziellinie. 


Wer Smartphone und Tablets nur als Werkzeuge für automatisierte Trainingseinheiten zur Wissensabfrage einsetzt, vergibt große Chancen für einen Wandel. Ich befürchte sogar, dass durch den Fokus auf Technisierung, die wirklich notwendigen Veränderungen systematisch verhindert werden. Wir müssen die Digitalisierung nutzen und vor allem eines lernen: vernetzt zu denken.

 

Projektlernen muss zur zentralen Lernform werden

 

Das Problem: Künstlich getrennte Schulfächer und isoliert konzipierte Vorlesungen verhindern dieses Denken. Darum muss das Lernen in und durch Projekte zum zentralen Bestandteil der Lehre werden. Der Schulalltag, Forschungsfragen an Hochschulen und das soziale und gesellschaftliche Umfeld bieten eine Vielzahl an Herausforderungen, die es in die Curricula zu integrieren gilt. Wenn sich die Lernenden mit diesen Fragen und Aufgaben identifizieren, wird die notwendige Motivation entzündet, selbst nach Antworten zu suchen. Statt vorgefertigte Lehrinhalte zu reproduzieren, geht es um das selbstständige Erarbeiten von Lösungen. Betont sei hier ausdrücklich, dass dies den Wissenserwerb keinesfalls vernachlässigt. Ganz im Gegenteil. Auf der Suche nach Antworten eignet sich der Lernende durch seine aktive Fragehaltung das notwendige Fachwissen durchaus an. Und wir alle wissen, dass diese Erkenntnisse und Erlebnisse um ein Vielfaches nachhaltiger sind als das sogenannte Bulimie-Lernen.  

 

Ein Blick auf den Alltag vieler Schulen und Hochschulen zeigt: Projektlernen findet vielerorts und in zahlreichen Facetten bereits statt. Nicht selten hört man allerdings den Vorwurf, dass dabei gar nichts gelernt würde. Auch die Schüler selbst bezeichnen solche Projekte oftmals als „nicht richtig Schule“. Und meine Studierenden differenzieren knallhart danach, was klausurrelevant ist und was nicht. 

 

Wir dürfen es den jungen Menschen nicht verdenken. Das herrschende Bewertungssystem ist noch immer genau so konzipiert: Es dominieren normierte Klausuren und Einzeltests als Prüfungsform. Erfolgreich ist, wer unter Zeitdruck das Erlernte abrufen kann. Kooperation bedeutet bei dieser Form der Problemlösung sogar Betrug. Innovative Ergebnisse sind bei vorgegebener Musterlösung nicht erwünscht. Selbst bei Gruppenarbeiten schreibt die Kultusministerkonferenz vor, jeden Einzelbeitrag namentlich zu kennzeichnen, um eine individuelle Leistungsbeurteilung zu gewährleisten. Teamarbeit, gegenseitige Unterstützung und Teilung von Wissen haben in diesem (Bewertungs-)System keinen Platz. Womit wir wieder bei der von mir postulierten Währungsreform sind.

 

Denn wenn viele Ansätze modernen Lernens längst da sind, aber nicht ausreichend gewertschätzt werden, dann müssen wir dafür sorgen, dass sich das ändert. 

 

Mir geht es ausdrücklich nicht um die Abschaffung von Bewertungen. Wir alle wollen und brauchen Feedback zu den Dingen, die wir leisten. Das ist menschlich und legitim. Zwar sind Noten nicht immer fair und schon gar nicht objektiv. Das waren sie im Übrigen noch nie und werden sie auch in digitalisierter Form nie sein. Wir müssen aber dringend hinterfragen, was und wie bewertet wird. Abschlussnoten ergeben sich aus den Ergebnissen der oben beschriebenen Prüfungsformate. Es geht um Performance, nicht um die sozialen und Problemlösekompetenzen, die eine solche Performance überhaupt erst möglich machen. Anders formuliert: Der hinter den Noten liegende Kompetenzerwerb bleibt unsichtbar oder wird, genau wie das soziale Engagement der Schüler und Studierenden, im besten Fall umschrieben und dann auf der zweiten Zeugnisseite dokumentiert – gern auch in Form nicht zum Zeugnis gehörender Anerkennungsurkunden. 

 

Die aus meiner Sicht notwendige Währungsreform muss deshalb dafür sorgen, dass Kompetenzen und außercurriculares Engagement gleichwertig und explizit in die Notengebung eingehen. Als eigentliche Unterrichts- und Prüfungsformen. Hierzu müssen wir auch die bestehenden Muster der Unterrichtstaktung aufbrechen. In Schulen hängt der Tageskurs einer Veranstaltung oder der Projektwoche immer noch maßgeblich davon ab, ob sie vor oder nach einer Zeugniskonferenz stattfindet. Darum müssen die Projektwochen künftig davor liegen. An den Hochschulen gilt ähnliches: In dem von mir neu konzipierten Masterprogramm zum Beispiel gibt es explizit Module für ehrenamtliches Engagement und Führungs-Verantwortung für andere Studierende.  

 

Neue Wertigkeiten auch für die Lehrenden

 

Entscheidend für erfolgreiches Projektlernen ist die verantwortungsvolle Begleitung der Lernenden. Selbstständig bedeutet an dieser Stelle keinesfalls allein. Der Lehrende wird Begleiter, Mutmacher und Berater und ist nicht Stoffvermittler. Diese veränderte Rolle wirkt sich signifikant auf das Zeitbudget aus. Die Anleitung mehrerer Teams zu verschiedenen Themen in unterschiedlichen Lerntempi ist nicht vergleichbar mit standardisierten Lehreinheiten, die sich jahrelang wiederholen lassen. Für ein solches Lehrverständnis müssen Zeiteinheiten und Betreuungsschlüssel neu berechnet werden.

 

Für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gibt es keine Musterlösungen, die automatisiert abgeprüft werden können. Die Bildungsziele und Bewertungsmaßstäbe müssen dahingehend verändert werden, dass das Fragen stellen und in Frage stellen, sowie kreative Lösungssuche und gesellschaftliches Engagement belohnt werden – auch wenn die Ergebnisse dann sehr individuell und nur schwer vergleichbar sind.

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Kommentare: 3
  • #1

    Marius Alexander Schulz (Dienstag, 02 Oktober 2018 10:57)

    Vielen Dank für den Artikel!

    Ich bin auch der Meinung, dass Projektarbeit wichtig ist. Genau genommen in Jigsaw-Gruppen.

    Die Digitalisierung erlaubt ein viel vernetzteres Wissensmanagement über Expertenmatching für Fragen.

    Ich bin kein Experte für das Bildungswesen, habe aber meine Erfahrungen und mein Wissen in eine Definition von Bildungszielen und eine Konzipierung eines modernen Bildungswesens überführt. Vgl. https://marius-a-schulz.de/2018/10/01/jigsaw-bildungswesen/ .

  • #2

    scheppler (Dienstag, 02 Oktober 2018 11:03)

    Es ist schon bemerkenswert, dass im Eingang die Standardisierung als ein Pol bezeichnet wird - während man das Modell der 4C/4K als Gegenmodell der "Kritiker" verstanden wisse will. Im restlichen Text läuft dann alles darauf zu, dass es doch eine Messbarkeit und Überprüfbarkeit - inkl. Bewertung - geben müsse. Nur halt irgendwie anders.
    Hierzu sollte man wissen, dass die eingangs vollzogene Dichotomie keineswegs eine ist. Im Gegenteil handelt es sich bei den 4C/4K um ein lobbyistisches Narrativ des ThinkTank p21, welches nicht unwesentlich durch die OECD Verbreitung gefunden hat. Der ThinkTank ist zu einem gehörigen Maße wirtschaftsgetrieben und die OECD trägt dies bereits im Namen. Und wenn p21 ihr Modell dafür ins Feld führen, die SelbstSTEUERUNG des Lernens zu forcieren (hier sei auf den aktuellen Beitrag von SWR Bildung verwiesen: https://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/selbstgesteuertes-lernen/-/id=660374/did=21970104/nid=660374/1i5kuwy/index.html), haben wir es mit einer Scheindichotomie zu tun. Und p21 als Kritiker der Standardisierung ins Feld zu Führen, ist schon einigermaßen absurd.

    Die hier vorgestellte Ökonomisierung der Bildung durch eine Ökonomin folgt daher quasi vorbildlich der Logik der Standardisierer und Verwertbarkeitsverfechter von Bildung, indem man einfach eine andere "Währung" einführen möchte. Die Form, in der dabei der Lehrer "entwertet" - deprofessionalisiert - wird, spiegelt sich in der gerade in diesen Kreisen stets angebrachten Metapher des Lernbegleiters/Coach/Trainers. Denn die standardisierte Bildung ist ja dann vorgegeben, so dass es nur noch jemanden braucht, der auf den vorgezeichneten (in Kompetenzrastern haarklein ausdifferenzierten) Weg lenkt und steuert. Die Königsform ist dann diejenige, die den Lerner selber dazu bringt, sich derart an das vorgeschriebene Lernen anzupassen, dass er sich selber steuern kann/soll.

    Wer also den Narrativen der Bildungsökonomisierung folgt und gar einen die ökonomische Selbststeuerung des Lernens anstrebenden ThinkTank als "Kritiker" ins Feld führt, bekommt auf Twitter natürlich rasch Beifall von der Bertelsmannstiftung.

  • #3

    Dr. Martin Schubet (Donnerstag, 04 Oktober 2018 10:56)

    Gleich wie, bleibt es bei der Entsubjektivierung des Lernprozesses. Es ist ja aber auch so schwer zu vermessen, was da zwischen (Hochschul-)Lehrer und (Hoch-)Schüler passiert! Wie heißt es so schön: Wer nicht für seine Sache brennt, kann andere nicht entzünden.
    Die Einheit von Forschung und Lehre, die Humboldt eingeführt hat, bringt das gut zum Ausdruck. Im Studium wird nicht nur Fachwissen vermittelt, sondern implizit auch Haltung, Standardinterpretationen und Sichtweisen.
    Würde die Lehre lediglich die Wiedergabe von Lehrbuchwissen bedeuten, gäbe ich der Autorin vielleicht recht. Vertrauen in den Lehrenden ist eine wichtige Voraussetzung für jeden Lernprozess. Ein Buch oder ein Arbeitsblatt aber kann niemandes Feuer entfachen.

    Vielleicht verzichten die Ökonomen einfach mal ein paar Generationen auf den Wunsch, alles - alles außerhalb ihrer eigenen Spähre - in Kennzahlen pressen zu wollen.