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Debatte ums gemeinsame Lernen: Mehr Respekt für die Grundschule!

Einige Gratulationen zum 100. Geburtstag der Grundschule sind unfreundlich. Zu unrecht: Die Grundschule muss nicht leistungsfern sein, wie einige ihr vorwerfen.

Grundschule, damals und heute. Quellennachweise: siehe unten.

DIE GRUNDSCHULE WIRD 100, doch einige der Gratulationen fallen reichlich unfreundlich aus. Vier Jahre seien genug, verkündet der Philologenverband, die Vertretung der Gymnasiallehrer, pünktlich zum Jubiläum. Sonst bleibe nicht genug Zeit fürs Gymnasium und zur Vorbereitung aufs Abitur, sagt die Verbandvorsitzende Susanne Lin-Klitzing laut Handelsblatt. Der Lehrerverband sekundiert:

 

Die sechsjährige Grundschule, die es so nur in Berlin und Brandenburg und so ähnlich in Mecklenburg-Vorpommern gibt, sei "von ihren Befürwortern immer bewusst leistungsfern angelegt worden", sagt der Vorsitzende Heinz-Peter Meidinger.

 

Woher Meidinger, selbst Leiter eines bayerischen Gymnasiums, diese Erkenntnis nimmt, sagt er im Handelsblatt freilich nicht. Susanne Lin-Klitzing wiederum vermutet, dass höhere Abi-Durchfallquoten in den genannten Ländern auch mit der längeren Grundschulzeit zusammenhingen, spart sich allerdings Meidingers Überzeugungsbrustton und sagt, diese Annahme sei "bislang nicht empirisch untersucht".

 

Was empirisch untersucht ist: 2008 ermittelte zum Beispiel der Bildungsforscher Rainer Lehmann, dass Abgänger der sechsjährigen Berliner Grundschule zwei Jahre Lernrückstand hatten gegenüber Gleichaltrigen, die nach der vierten Klasse auf eines der zahlreichen grundständigen Gymnasien der Stadt gewechselt waren – und zwar unabhängig von ihrer sozialen Herkunft.

 

Haben Verfechter des gemeinsamen
längeren Lernens unrecht?

 

Heißt das nun, dass alle Verfechter des gemeinsamen längeren Lernens doch Unrecht haben? Ist die gerade mit Festakt und Bundespräsidenten-Elogen gefeierte "Schule für alle" am Ende eine Bremse für die besonders Schlauen, und den weniger Schlauen hilft sie auch nicht wirklich?

 

Ganz so einfach ist es dann doch nicht. Lehmanns Erkenntnisse waren damals umstritten, andere Forscher betonten mit Blick auf dieselben Studiendaten, dass die Leistungen der Grundschüler genauso schnell zunähmen wie an den Gymnasien. Lehmann selbst hielt 2008 im Interview mit der ZEIT fest: Die Qualität der Lehrer sei entscheidend – nicht die Frage, wer mit wem in einem Klassenzimmer lernt. Und ausgerechnet für die Inhalte der Klassen fünf und sechs fehle es den Grundschullehrern in der Regel die fachdidaktische Ausbildung.

 

Dass die Grundschule ganz und gar nicht "leistungsfern" sein muss, zeigen auch internationale Vergleichsstudien. Lange Zeit lagen Deutschlands Grundschüler zum Beispiel beim Lesen global im vorderen Drittel, während sich die deutschen 15-Jährigen im Mittelfeld quälten. Also ja: Das gemeinsame Lernen, die – Vorsicht, Kampfbegriff – "Einheitsschule" kann im Schnitt sogar bessere Schulleistungen produzieren als ein gegliedertes System.

 

Die Grundschule ist
in eine Krise geraten

 

Zur Wahrheit gehört aber genauso, dass die Grundschule in den vergangenen Jahren in die Krise geraten ist. Je heterogener ihre Schülerschaft wird, desto wichtiger ist ihre Aufgabe als gesellschaftliches Integrationsmotor. Und desto schwieriger wird es, diese Aufgabe angemessen zu erfüllen.

 

Was hilft in dieser Situation? Sicher keine aufgewärmten Debatten über eine Verlängerung oder Verkürzung der Grundschule. Sondern allein die politische Prioritätensetzung, dass Grundschullehrer die bestmögliche Aus- und Weiterbildung erhalten. Im Augenblick sind Grundschulen jedoch diejenige Schulform, wo der Lehrermangel am größten ist. Ob das vielleicht etwas mit fehlender Anerkennung zu tun hat? Eine Frage, über die auch Lin-Klitzing und Meidinger einmal nachdenken sollten.

 

Dieser Artikel erschien zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.


Fotos links: Altes Klassenzimmer / TeeFarm - cco. Foto rechts: "Schulräume/Klassenzimmer der privaten katholischen Grundschule im Haus St. Marien" / DALIBRI - CC BY-SA 3.0

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