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Was sich seit letzter Woche geändert hat

Das Coronavirus hat dieselbe Wachstumslogik wie vor sieben Tagen. Doch wir als Gesellschaft sind anders geworden. Woran das liegt – und warum wir jetzt aufpassen müssen. Ein Essay in Zeiten des Shutdowns.

DIE GESCHWINDIGKEIT, mit der Deutschland und Europa in den Shutdown gehen, ist atemberaubend. Nur kurz zur Erinnerung: Noch am Donnerstagnachmittag, vor rund 100 Stunden, wehrten sich die Kultusminister gegen die generelle Schließung von Kitas und Schulen. Seitdem fällt ein Dominostein der offenen Gesellschaft nach dem anderen. Nachdem Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) die Bundesregierung zuletzt sogar aufgefordert hatte, die Verbreiter von Falschmeldungen unter Strafe zu stellen, twitterte Florian Klenk, Chefredaketeur der österreichischen Wochenzeitung Falter, heute Mittag zur diesbezüglichen Spiegel-Meldung: "Leset in den Kommentaren darunter, wie schnell die Leute bereit sind Informationsfreiheit aufzugeben. Besorgniserregend."

 

Was hat sich eigentlich geändert in den vergangenen, sagen wir mal: sieben Tagen? Das Coronavirus jedenfalls nicht – oder nur kaum. Gleich geblieben ist auch die Wachstumslogik seiner Ausbreitung.

 

Viele haben jetzt erst begriffen,
wie exponentielles Wachstum funktioniert

 

Doch es gibt tatsächlich Unterschiede. Erstens: Es scheint, als sei vielen Politikern erst irgendwann seit vergangenem Dienstag geschwant, wie genau eigentlich exponentielles Wachstum funktioniert. Und nicht nur den Politikern. Auch in weiten Teilen der Gesellschaft ist der Groschen seitdem gefallen. Dass die niedrigen Zahlen heute keine Fortschreibung in die nahe Zukunft erlauben. Die Offenbarung einer gesellschaftlichen Bildungslücke?

 

Zweitens: Was wir seither erleben, ist eine Art massenpsychologische Kettenreaktion. Die Lage ist ernst, lautete die berechtigte – zunächst verzögerte, dann überfallartige – Realisierung, es muss jetzt ganz schnell was passieren. Das war der Ausgangspunkt. Die Politik war kurz versteinert, dann handelte sie. Doch parallel handelten die Regierungen anderer Länder ebenfalls, und die deutsche Politik gerät erneut unter Zugzwang – und zieht nach.

 

Weite Teile der Öffentlichkeit und der Medien sind durch die Maßnahmen der vergangenen Tage sogar noch fester der Auffassung, dass, so ernst das Virus zu sein scheint, das Beschlossene eigentlich immer noch nur der Anfang sein kann. Diese Lageeinschätzung bestätigt sich aufgrund der ihretwegen beschlossenen drastischen Maßnahmen von selbst immer weiter – und die Menschen rufen, siehe oben, irgendwann freiwillig nach noch weitergehenden Beschränkungen der persönlichen Freiheit. Ob die tatsächlich das Virus eindämmen? 

 

Was genau jetzt passieren wird und wie effektiv die Maßnahmen sind, weiß niemand. Wenn sie greifen, wird man nur sagen können: Es ist nochmal glimpflich ausgegangen. Dann werden natürlich auch die Kritiker der jetzigen Maßnahmen auf den Plan treten und sagen: Das Ganze war von vornherein übertrieben. 

 

Wenn die Maßnahmen freilich zu vorsichtig bleiben oder nicht befolgt werden, kommt die Quittung in Form von massenhaftem Leiden und Tod. In dieser Alternative wählt die Regierung nun die harten Schritte, um später nichts bereuen zu müssen, wie es die Experten der Weltgesundheitsorganisation empfehlen. Das treibt die Eskalation der Maßnahmen an. In den kommenden Wochen wird auch die Frage lauter werden, ob es bei den Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft ebenfalls etwas zu bereuen geben wird.

 

Die Politik fährt in dieser Hinsicht zwangsläufig weiter auf Sicht. Und geht aus der beschriebenen Angst, nicht genug zu tun, vielleicht sogar bald noch weiter, als die Experten es ihr nahelegt haben. Noch wird uns versichert, man könne und wolle eine Ausgangssperre verhindern, und jeder könne dazu beitragen, indem er den Anweisungen der Behörden folge.

 

Alexander Kekulé von der Universität Halle, der in den vergangenen Wochen immerzu drängte, entschiedener zu agieren, spricht zum Beispiel davon, das öffentliche Leben zwei, drei Wochen stillzulegen. Doch warnte er bei Anne Will: "Es macht keinen Sinn, eine ganze Republik in der Bude einzusperren." Im Gegenteil. Es sei vernünftig, dass sich beispielsweise Familien in der frischen Luft bewegten, Spaziergänge machten – solange sie Abstand von anderen hielten. 

 

Es fällt immer schwerer, zwischen den tatsächlich sinnvollen
und den  eher schädlichen Maßnahmen zu unterscheiden

 

Tatsächlich fällt es immer schwerer, zwischen den wirklich sinnvollen und den eher schädlichen Maßnahmen zu unterscheiden. Schädlich nicht nur in dem Sinne, dass die bürgerlichen Freiheiten auf Dauer übermäßigen Schaden nehmen. Schädlich auch, dass die Wirtschaft einen Schaden nimmt, der in seinen Dimensionen genauso wenig abzuschätzen ist die Wirkung des Virus. Wir brauchen jetzt eine funktionierende Gesellschaft, einen starken, auch finanzstarken Staat; wir brauchen ihn aber auch, wenn die akute vorbei ist. Vor allem für die Schwächsten und Kranken. Doch was macht der Shutdown mit den Steuereinnahmen, mit den tausenden Betrieben und Unternehmern, die an der Grenze zur Pleite stehen und an deren Wohl auch unsere Gesellschaft hängt?

 

Ich will damit nicht sagen, dass ich die Antwort weiß. Niemand sollte in diesen Tagen auf Verschwörungstheoretiker hören oder auf die Verharmloser. Doch zugleich sorge ich mich, wenn jene, die zur Vorsicht beim Weiterdrehen der Spirale raten, zunehmend in die Defensive geraten. Nein, keiner bei Verstand will ein Massensterben riskieren. Aber wir sollten auch nicht den Kopf verlieren über der Dynamik der vergangenen Tage. 

 

Es gibt sogar einen gewissen
Grund zur Zuversicht

 

Tatsächlich gibt es sogar einen gewissen Grund zur Zuversicht. Der Charité-Virologe Christian Drosten sagt, die Epidemie sei in Deutschland verhältnismäßig früh erkannt worden – weshalb, wenn man Drostens Aussage weiterdenkt, die jetzt ergriffenen Maßnahmen im Vergleich früher kommen und damit wirksamer sein sollten als in einigen anderen europäischen Ländern.

 

Dass bislang die Zahl der deutschen Covid-19-Toten (20) so viel niedriger liegt als etwa in Frankreich (148), das offiziell ähnlich viele Fälle hat wie die Bundesrepublik, spricht dafür. Um es – eventuell bildlich etwas schief – auszudrücken: Bei uns ragt ein größerer Teil des Eisberges aus dem Wasser als in einigen anderen Ländern, wo die "Durchseuchung" (welch ein Wort!) der Gesellschaft laut Experten weiter fortgeschritten ist, als es die gemeldeten Zahlen zeigen. Womit die tatsächliche Corona-Sterblichkeitsrate in Deutschland derzeit realitätsnäher sein dürfte als zum Beispiel in Frankreich oder Italien, wo offenbar sehr viel mehr milde Fälle bislang gar nicht getestet wurden.  

 

Woraus folgt: Ob die ergriffenen Shutdown-Maßnahmen wirklich die Corona-Kurve abflachen, werden wir in einigen Tagen weniger an der offiziellen Statistik der Neuinfektionen sehen. Diese Statistik wird weiter drastisch steigen – und zwar in jedem Fall, auch dann, wenn die wirkliche Zahl der Infizierten (die wir nicht kennen) weniger zunehmen sollte. Aus einem einfachen Grund: weil parallel die Tests noch mehr ausgeweitet werden, also der Anteil der erkannten Infektionen steigt.

 

Verlässlicher, um die Wirksamkeit der ergriffenen Maßnahmen abzulesen, ist deshalb die Kurve der schwer Erkrankten und der Toten. Vor allem auf die sollten wir achten, wenn wir vor der Frage stehen, ob noch drastischere Maßnahmen ergriffen werden sollen. 


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Kommentare: 4
  • #1

    Volker (Dienstag, 17 März 2020)

    Es ist schwierig abzuschätzen, an welcher Stelle die Maßnahmen Grenze überschreiten selbst mehr Menschenleben zu gefährden als sie retten.
    Die Schließung von Spielplätzen ist ein guter Kandidat dafür. Abgesehen davon dass sie eine Katastrophe für den sozialen Frieden ist, da die sie insbesondere ärmere Schichten betrifft, ist ein längeres Einsperren von Kindern eine Maßnahme, die extreme Auswirkungen auf die körperliche und geistige Entwicklung und damit die Gesundheit der zukünftigen generation hat.

  • #2

    McFischer (Mittwoch, 18 März 2020 09:31)

    Abwägung ist sicherlich gut, Abwägung zwischen sinnvollen Beschränkungen und problematischen Eingriffen in die Freiheitsrechte. Grundsätzlich würde ich aber auch sagen: lieber jetzt einmal schnell handeln und ggf. auch über das Ziel hinausschießend, als spät, langsam, halbherzig. In gewisser Weise ist das jetzt die "Stunde der Politik" - gerade weil es um Sachentscheidungen geht, weniger um Diskurs und (im positiven Sinne) ideologische Grundsätze.
    Die Herausforderung wird dann sein, die Maßnahmen wieder zurückzufahren! Wer kann das einschätzen? Wer macht den ersten Schritt?
    Anbei: Es war nur eine kleinere Meldung gestern, aber dass Schleswig-Holstein die Einreise aus touristischen Gründen verbietet hat mich schon erschrocken - dass Staatsgrenzen mal mehr, mal weniger kontrolliert werden, ist wenig überraschend, aber dass jetzt auch die Freizügigkeit in Deutschland eingeschränkt wird, ist wirklcih neu.

  • #3

    Egal (Mittwoch, 18 März 2020 13:14)

    Mehr als 50.000 Tote aufgrund von erhöhten Feinstaub-Werten allein in Deutschland -> Die Reaktion der Bundes- und Landesregierungen waren/ sind nahe Null bzw. zumeist symbolisch.
    Tausende Tote aufgrund des Klima-Wandels allein in Deutschland -> Die Reaktion der Bundes- und Landesregierungen sind sehr zögerlich.

    Und nun ist es möglich, bei einer sicher sehr bedrohlichen Lage massive Eingriffe in die Grundrechte vorzunehmen, bei denen Fragen der Verhältnismäßigkeit in meinen Augen nicht geklärt sind. Wenn (!) irgendwann einmal diese umfangreichen Grundrechtseinschränkungen gelockert/ aufgehoben werden, wird unsere Gesellschaft eine andere sein: Kleine Läden werden zahlreich geschlossen (Kneipen, Bäcker, Fleischer, Einzelhändler) und die großen Ketten noch mehr Marktmacht haben; Weite Teile der Bevölkerung werden sich an Einschränkungen von Grundrechten gewöhnt haben; vielen Kulturschaffende werden verarmt sein und die demokratische Kultur noch mehr verarmen.

    Wo sind die Sozialwissenschaftler oder auch die Staatsrechtler, die diese Fragen diskutieren. Bei allem Respekt vor Mediziner und Biologen - allein auf deren Expertise zurückzugreifen mag kurzfristig sinnvoll sein - aber ich erwarte hier mehr von den Entscheidungsträgern in den Krisenstäben.

  • #4

    Sigmund J. (Mittwoch, 18 März 2020 20:35)

    Da 1. ein Impfstoff noch Monate entfernt ist,
    da 2. die weit überwiegende Mehrzahl der Infektionen einen (sehr) milden Krankheitsverlauf haben,
    da 3. ein Überschießen der politisch-gesellschaftlichen Reaktionen das System noch mehr beschädigen könnte,
    da 4. tatsächlich das Verhältnis von Schwererkrankten und Behandlungskapazität zentral ist,

    fährt aus meiner Sicht z.B. der Hamburger Bürgermeister eine kluge Linie: „Das wirksamste Mittel gegen das Virus ist unser Immunsystem selbst.“ Also dosierte "Durchseuchung" statt einerseits Laissez-Faire oder andererseits Lockdown, um dem Trend die Spitze zu brechen. In der Hoffnung, dass sich für Monate trotz Epidemie ein "Alltagsleben" einpendelt.

    Interessant, Herr Wiarda, ist Ihr Hinweis auf die Exponentialität. Das bietet ggf. Lehren auch über die Coronasituation hinaus...