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Endlich mal wieder ein guter Tag für Deutschlands Kinder und Eltern

Die Regierungschefs beschließen umfangreiche Corona-Lockerungen – und bekennen sich zu dem Ziel, dass bald auch an den Kitas und Schulen eine neue Form der Normalität einkehren soll.

Stundenlange Debatte: Heute Nachmittag telefonierte Angela Merkel erneut mit ihren Kollegen aus den Ländern. Martin Falbisoner: "Bundeskanzleramt at Night.JPG", CC BY-SA 4.0.

DAS TEMPO, das Bund und Länder bei den Corona-Lockerungen an den Tag legen, ist atemberaubend. So atemberaubend, dass ihr rhetorisches Desinteresse in Bezug auf Kitas und Schulen bei der Vorstellung ihrer Beschlüsse umso deutlicher herausstach.

 

Was haben Kanzlerin Angela Merkel und die 16 MinisterpräsidentInnen heute nicht alles durchgewunken: Wenn die Länder wollen, können sie zum Beispiel kurzfristig Restaurants, Kneipen, Massage- oder Fitness-Studios öffnen, sämtliche Geschäfte unabhängig von der Fläche sowieso, die Bundesliga beginnt ihren zuschauerfreien Spielbetrieb Mitte Mai, Hotels werden aufmachen. Die Verantwortung, was wie geöffnet werde, gehe in den meisten Bereichen jetzt in die Länder, sagte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) im Anschluss an die mehrstündige Telefon-Schalte der Ministerpräsidenten. So kann man das formulieren – oder das, was sich in den vergangenen Tagen abzeichnete und als nächstes kommen wird, schlicht als umkoordiniert bezeichnen. "Wir gehen schon einen mutigen Weg", sagte Merkel. Den könne sie jedoch vertreten angesichts einer "sehr gute Entwicklung" bei den Neuinfektionen – und auch angesichts des eingebauten "Notfallmechanismuses", der auf Landkreis- bzw. Städteebene ab einem bestimmten Level an Neuinfektionen neue Beschränkungen vorsieht. Merkel sagte aber auch: "Wir müssen aufpassen, dass uns die Sachen nicht entgleitet."

 

Nicht der Spielraum hat sich geändert, sondern
Merkels Einschätzung der politischen Realitäten

 

Fast scheint es so, als wollten die Regierungschefs mit ihrem sehr weitreichenden Öffnungsbeschluss das Brechen aller Dämme in der Bevölkerung verhindern, was zeigt, wie sehr sich die öffentliche Stimmungslage in den vergangenen drei Wochen geändert hat. Nach ihrer Telefonkonferenz mit den Ministerpräsidenten am 15. April hatte Merkel noch von einem "zerbrechlichen Zwischenerfolg" gesprochen und gewarnt: Es gebe nicht viel Spielraum für Änderungen oder ein Vorpreschen, auch wenn eine gute Absicht dahinter stecke. Geändert haben sich seitdem weniger die Lage und der Spielraum als vielmehr Merkels Einschätzung der politischen Realitäten. Offenbar fürchtet sie jetzt: Wenn sie einfach weiter auf der Bremse steht, höre ihr keiner mehr zu. Am wenigsten viele der Regierungschefs, deren politischer Geltungsdrang nach Wochen der krisenbedingten Zurückhaltung zuletzt sichtbar zurückgekehrt ist.

 

Und bei alldem verloren Merkel, Söder und Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) bei ihrer Pressekonferenz erneut kaum ein Wort zu Kitas und Schulen. Bei den Nachfragen durch die anwesenden Journalisten kam das Thema Bildung gar nicht vor.

 

Für das, was die Regierungschefs in Sachen Öffnung von Kitas und Schulen beschlossen haben, bieten sich nach heute zwei Sichtweisen an. Die erste: Verglichen mit dem Vorpreschen in anderen gesellschaftlichen Bereichen ist das nur allmähliche Hochfahren von Betreuungsumfang und Präsenzunterricht auffällig verhalten. Die zweite: Wenn man daran denkt, dass noch nach ihrer Schalte Mitte April viele Ministerpräsidenten die Kitas am liebsten ganz zulassen wollten bis August, dass sie lediglich bereit waren, den Abschlussklassen eine zeitliche Perspektive zu geben, ist der Fortschritt auch im Bildungswesen groß. Noch vor wenigen Tagen hätte man auf so viel kaum zu hoffen gewagt.

 

KMK-Präsidentin Hubig spricht von
einem "wegweisenden Beschluss"

 

"Schulen, Eltern sowie Schülerinnen und Schüler haben in den letzten Tagen eine Perspektive eingefordert", kommentierte Stefanie Hubig, die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK) die Beschlüsse. "Diese können wir ihnen mit der heutigen Entscheidung geben." Was die Regierungschefs konkret für die Schulen und Kitas vereinbart haben, steht unter Punkt 5 und 6 ihres Beschlusses.

 

Zunächst zu den Schulen: "Die Schulen sollen schrittweise eine Beschulung aller Schüler unter Durchführung entsprechender Hygienemaßnahmen bzw. Einhaltung von Abstandsregeln ermöglichen. Diese betreffen sowohl den Unterricht als auch das Pausengeschehen und die Schülerbeförderung." Die Wiederaufnahme des Unterrichts in Form von teilweisem Präsenzunterricht habe begonnen und solle in weiteren Schritten "gemäß dem Beschluss der Kultusministerkonferenz in der Zuständigkeit der Länder" fortgesetzt werden. "Ziel ist, dass in Abhängigkeit vom Infektionsgeschehen bis zu den Sommerferien jede Schülerin und jeder Schüler einmal die Schule besuchen kann." Parallel dazu sollten digitale Unterrichtskonzepte und -angebote weiterentwickelt werden.

 

Der Beschluss fußt auf dem vergangene Woche von der KMK vorgelegten Rahmenkonzept. Kein Wunder also, dass KMK-Präsidentin Hubig ihn als "wegweisend" bezeichnet. In einer Hinsicht ist er es tatsächlich: Jedes Land kann jetzt selbst entscheiden, wie schnell es bei den Schulöffnungen vorgehen will – natürlich unter Berücksichtigung der von den Kultusministern formulierten Hygiene- und Abstandsregeln. Der ebenfalls von den Kultusministern eingebrachte Satz in der heutigen Erklärung der Regierungschefs, dass möglichst jede Schülerin und jede Schülerin bis zu den Sommerferien einmal die Schule besuchen können soll, ist dabei ein weiteres rhetorisches Understatement; wichtiger ist schon die Ansage, dass "schrittweise eine Beschulung aller Schüler" ermöglicht werden soll. Konkret zeigen Pläne wie etwa in Baden-Württemberg, was das heißen wird: Nach den Pfingstferien Mitte Juni soll es dort wieder Präsenzunterricht für alle Schüler geben, teilte CDU-Kultusministerin Susanne Eisenmann mit – eingeschränkt, im zeitlichen Wechsel, mit hohem Anteil an Homeschooling, aber immerhin. Länder, wo die Sommerferien früher anfangen, werden voraussichtlich noch schneller sein. 

 

"Uns allen ist dabei deutlich geworden, dass Schule sehr viel mehr ist als nur Unterricht. Schule ist ein Ort des sozialen Miteinanders, des Austausches und der Freundschaften", sagte Stefanie Hubig, die zugleich SPD-Bildungsministerin in Rheinland-Pfalz ist. "Er spielt im Leben unserer Familien eine sehr große Rolle." Jetzt gehe es in allen Ländern darum, weiter "behutsam und verantwortungsvoll" vorzugehen. In einer Schaltkonferenz am Dienstagabend hätten sich die Kultusminister darüber darauf verständigt, "dass sie sich auch weiterhin eng abstimmen und beraten werden". 

 

Ein Beschluss, der endlich
eine Perspektive gibt

 

Insofern ist das, was Bund und Länder heute beschlossen haben, tatsächlich ein großer Fortschritt, der endlich eine Perspektive gibt und die Bedürfnisse der Kinder, die nach Bildung und nach sozialer Teilhabe, anerkennt. Die Kultusminister und Schulträger sind jetzt in der Bringschuld, und das wissen sie. Dass der Einstieg in den möglicherweise langfristigen Schulalltag nach Corona-Bedingungen im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Bereichen etwas verhaltener verläuft, ist angesichts des halsbrecherischen Tempos anderswo fast schon wieder positiv. 

 

Der Beschluss zu den Kitas, Punkt 6 in der Vereinbarung, ist knapp gehalten. Mit Verweis auf den Vier-Stufen-Plan der Jugendministerkonferenz, heißt es da, "wird die Kinderbetreuung durch eine flexible und stufenweise Erweiterung der Notbetreuung spätestens ab dem 11. Mai in allen Bundesländern eingeführt." Sie bedeutet die Ausweitung auf weitere Berufe, Alleinerziehende oder auch auf Kinder, die beengt aufwachsen oder einen besonderen pädagogischen Bedarf haben. Doch wollen die Regierungschefs zugleich sicherstellen, "dass bis zu den Sommerferien jedes Kind am Übergang zur Schule vor dem Ende seiner Kita-Zeit noch einmal die Kita besuchen kann." Und: "Die Einzelheiten regeln die Länder."

 

Wie? Nur die Kinder am Übergang zur Schule kommen auf jeden Fall nochmal alle zum Zug? Auf dem Papier: ja. In der Realität: höchstwahrscheinlich bei weitem nicht nur. Denn der Hinweis auf den Vier-Stufen-Plan der Jugendminister ist ausschlaggebend: Die erweiterte Notbetreuung vom 11. Mai an ist darin lediglich Stufe 2. Entscheidend ist zugleich der letzte Satz im Beschluss-Punkt 6 der Regierungschefs:  Die Länder müssen selbst wissen, und dann auch sagen, wie weit sie wann gehen wollen. Und sie tun es bereits.

 

In Baden-Württemberg etwa soll es schon vom 18. Mai an einen "eingeschränkten Regelbetrieb", Stufe 3 des Vier-Stufen-Plans, geben. So sollen an einzelnen Wochentagen abwechselnd je die Hälfte der Kitakinder kommen, in festen Gruppen. Nordrhein-Westfalens Landesregierung wird aller Voraussicht nach auch kurzfristig weitere Schritte zum Kita-Regelbetrieb gehen – freilich unter Corona-Bedingungen, was eine enorme Einschränkung bleibt. Die "maximale Freiheit für die Länder, selbst zu entscheiden", die NRW-Jugendminister Joachim Stamp (FDP) im Spiegel verlangt hatte, hat er jedenfalls bekommen. 

 

Immerhin ist jetzt klar: Es wird bald einen
neuen Alltag in Kitas und Schulen geben

 

So ist es am Ende ein guter Tag für Kinder und Eltern in Deutschland. Die Beschlüsse bedeuten nicht, dass ab morgen der Schalter zur Normalität umgelegt wird. Sehr wohl aber zeigen sie, dass der Druck der vergangenen Wochen, endlich stärker die Lebenswirklichkeiten auch der Jüngsten und ihrer Familien zu berücksichtigen, gewirkt hat. Gespannt werden vor allem die Eltern abwarten, welche konkreten Ansagen sie in den nächsten Stunden und Tagen von ihren Landesregierungen bekommen. Spannend wird auch sein, wie sich in den nächsten Wochen immer genauer der Alltag in Kitas und Schulen abzeichnen wird, der bis zum Vorhandensein eines Impfstoffs die neue Normalität bedeuten wird. Immerhin ist es jetzt klar: Es wird bald einen solchen Alltag geben. 

 

Die nächste Aufgabe der Politik wird sein, diesen Alltag vieler Familien, der trotz der tageweisen Rückkehr aller Kinder in Kitas und Schulen auf lange Zeit einen höheren familiären Betreuungsbedarf bedeuten wird, durch finanzielle Unterstützungsmaßnahmen zu flankieren. SPD-Chefin Saskia Esken hat in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung  schon die Richtung vorgegeben. "Wir müssen sehr zügig klären", sagte sie, "wie wir Eltern künftig unterstützen, damit sie sich auch nach den Sommerferien darauf verlassen können. Ich plädiere für eine Lösung, die alle Eltern gleichermaßen erreicht, wie wir es in der Krise 2009 mit dem Kinderbonus als Einmalbetrag gemacht haben." Schon morgen debattiert der Bundestag über ein Corona-Elterngeld. 



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Kommentare: 2
  • #1

    Working Mum (Donnerstag, 07 Mai 2020 08:06)

    Ich tendiere deutlich zur ersten angesprochenen Sichtweise: Während in anderen Bereichen gefühlt alles und mit konkreter Perspektive (Freibäder!) geöffnet wird, gibt es für unsere Kinder (Kita und 1. Klasse Grundschule) weiterhin keine Perspektive, wann und in welchem Umfang sie in Kita bzw. Schule zurückkehren werden, keinerlei Planungsgrundlage für die Eltern. Und eine verlässliche Unterstützung benötigen Familien übrigens auch für die Sommerferien, denn auch die können bei normalem Urlaubsanspruch nur mit Unterstützung von Großeltern oder externen Betreuungsangeboten abgedeckt werden.

  • #2

    Iso Propyl (Dienstag, 12 Mai 2020 10:41)

    Unglaublich: BIERGARTEN vor KINDERGARTEN (bei uns in Bayern). Politiker, bedenkt: Es gibt mehr Eltern als Biergarten-Besitzer und -besucher.