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70 Prozent Betreuungsquote, 0 Prozent Normalität

Kitas und Schulen öffnen zügiger als noch vor kurzem befürchtet. Damit rückt ein neuer Alltag in Zeiten der Corona-Pandemie in Sichtweite. Eine gute Nachricht. Und zugleich für viele Eltern ein bitterer Realitätscheck.

SELTEN IST EINE so grundlegende bildungspolitische Weichenstellung so beiläufig verkündet worden. Im gestrigen Beschluss der Regierungschefs waren Kitas und Schulen nur ein paar Absätze gewidmet, in ihrer anschließenden Pressekonferenz gönnten Angela Merkel, Markus Söder und Peter Tschentscher den Kindern und ihren Familien nur ein paar uninspirierte Sätze, die Nachfragen der Journalisten sparten das Thema gleich ganz aus. Und doch: Was die Kanzlerin und die 16 MinisterpräsidentInnen gestern beschlossen haben, ist der planmäßige Einstieg in die vermutlich auf lange Zeit geltende neue Normalität des deutschen Bildungssystems. 

 

Das ist einerseits eine bildungspolitisch gute Nachricht. Denn anders als noch vor ein paar Wochen haben die Regierungschefs die Bedeutung von Kitas und Schulen für das Wohl der Kinder nicht nur mit ein paar bestenfalls lauwarmen, vor allem aber vertröstenden Worten anerkannt; sie haben sich festgelegt: In wenigen Wochen schon sollen alle Kinder mindestens wieder stunden- oder tageweise die Kitas und Schulen besuchen. Die schon vor dem Beschluss vorliegenden, vor allem aber auch die seitdem präsentierten Zeitpläne der einzelnen Länder zur stufenweisen Wiederöffnung lesen sich teilweise so ambitioniert, dass sich viele Lehrer und Eltern von ihrer Plötzlichkeit überrumpelt fühlen. Den Frust kann man angesichts der vielerorts unorganisiert wirkenden Hemdsärmeligkeit verstehen; doch haben sich viele Lehrer und Eltern zugleich ein zügigeres Handeln in der Bildungspolitik dringend gewünscht. Und das liefern die Landesregierungen: Sie werden die Kapazitäten von Kitas und Schulen, die personellen und räumlichen, absehbar ans Limit dessen pushen, was unter Corona-Bedingungen möglich ist – so sehr, dass Epidemiologen schon wieder zur Vorsicht mahnen.

 

Pädagogisch wird sich die Corona-
Schulnormalität zurechtruckeln

 

Doch vieles wird sich in den nächsten Wochen organisatorisch und pädagogisch zurechtruckeln. Die Kultusministerkonferenz koordiniert sich in einer neuen Arbeitsgruppe dazu, und zum Beispiel die Friedrich-Ebert-Stiftung hat eine Kommission "Schuljahr 2020/21" einberufen unter der Leitung des Bildungsforschers Kai Maaz; sie soll bis Mitte Juni Antworten geben, wie die neue Corona-Schulnormalität in der sinnvollen Verknüpfung von Präsenzunterricht und digitalem Lernen aussehen wird, wie Bildungsgerechtigkeit unter solchen Bedingungen gelingen kann. Es gehe auch um "Qualitätssicherung, Organisation von Schule, aber auch didaktische, schulrechtliche, psychosoziale, medizinische und hygienische Aspekte", sagte Maaz, der Geschäftsführender Direktor des DIPF Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation ist.

 

Trotzdem ist das Ergebnis nur einerseits eine gute Nachricht. Denn andererseits gilt: Indem die Landesregierungen das bildungspolitisch Mögliche pushen, indem sich unter Mitarbeit von Bildungsforschern, Pädagogen und Bildungspraktikern die neue Corona-Normalität deutlicher und deutlicher abzeichnen wird, desto unerbittlicher tritt eine Erkenntnis zu Tage, die viele Eltern schon jetzt in aller Härte realisieren: Die Hoffnung, der persönliche und familiäre Ausnahmezustand seit Mitte März werde nach dem Ende des Shutdowns zügig wieder enden, wird sich nicht erfüllen.

 

Selbst eine maximale Betreuungsquote von 60, 70 Prozent in den Kitas, wie sie etwa Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) besonders vollmundig ankündigte, wird bedeuten, dass jedes Kind auf Dauer nur 60, 70 Prozent des Vor-Corona-Alltags in die Kita gehen wird. Eine Präsenz-Kapazität der Schulen von, wenn es ideal läuft, vielleicht 30 oder 40 Prozent bedeutet: Mindestens 60 Prozent des Lernens wird auf Dauer im Homeschooling erfolgen, und mindestens 60 Prozent der Vor-Corona-Schultage werden die Kinder anderweitig betreut werden müssen. Und anderweitig bedeutet in den meisten Fällen natürlich: von ihren Eltern.

 

Genau das aber macht die neue Normalität, die den Familien jetzt versprochen wird, für viele noch härter als den Ausnahmezustand zuvor. Während der vergangenen Wochen hatten sie wenigstens ein klares Ziel – das Ende des Shutdowns – vor Augen. Das wird ihnen jetzt genommen mit der Aussage: Keiner weiß, wann ein Corona-Impfstoff da ist und das Ende der Pandemie markiert. Vielleicht, wie Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) im Interview sagte, Mitte nächsten Jahres. Im "günstigsten Fall."

 

Für viele Eltern bedeutet die neue Corona-
Normalität ein dauerhaftes Aufreiben

 

Im günstigsten Fall: Für viele Familien muss das wie Hohn klingen. Denn für Eltern, vor allem für die Mütter, die die meiste Sorgearbeit leisten, wird im nächsten Jahr wenig günstig laufen. Die neue Corona-Normalität bedeutet für sie, dass sie sich dauerhaft aufreiben werden zwischen der Sorge um ihre Kinder, um ihre Bildung und Betreuung auf der einen Seite und ihren beruflichen Verpflichtungen auf der anderen, von der zumindest ansatzweisen Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse ganz zu schweigen. 

 

Bislang konnten die Eltern ihren Frust gegen "die Politik" richten, die über den Kampf gegen das Virus die Belange der Kinder zu vergessen schien. Seit den weitreichenden Beschlüssen gestern wird auch das nicht mehr so einfach gehen. Denn, siehe oben, die Politik öffnet ja fast überall, was geht. Auch das wird das Gefühl der Hilflosigkeit in vielen Familien noch erhöhen. 

 

Schon jetzt spüren viele Eltern und wiederum vor allem die Mütter, wie ihre Kollegen im Betrieb durchstarten können, wie die ersten aus dem Home Office ins Büro zurückkehren; und je mehr sich das Arbeitsklima vielerorts wieder Richtung "normal" dreht, desto deutlicher wird den Eltern bewusst, wie die Corona-Normalität sie ausbremst. Worauf können sie sich verlassen? Können sie künftig pro Tag ein paar Stunden arbeiten? Oder, abhängig vom rollierenden Stundenplan in Kitas und Schulen, nur alle paar Tage ins Büro kommen?

 

Das Mitgefühl der Kollegen mag ihnen sicher sein, das ihrer Chefs womöglich auch, aber sobald das Gespräch auf zeitliche Entlastung kommt, wird von "Fairness" den Kollegen gegenüber die Rede sein und von der Möglichkeit, im Zweifel doch bitte unbezahlten Urlaub zu nehmen. Was das auch für die Karriereplanung gerade von Frauen bedeutet, die im Berufsleben ohnehin unter systematischen Nachteilen leiden, kann man sich ausmalen.

 

Soweit die Bestandsaufnahme. Doch wo sind die Antworten, wo die Lösungen? Wieviel Verständnis, wieviele Erleichterungen können Eltern ernstlich von Betrieben erwarten, die selbst durch die Corona-Krise in Not geraten sind, von denen viele absehbar selbst um ihre Existenz kämpfen werden? Drohen Konflikte am Arbeitsplatz, die sich viele Eltern noch gar nicht ausmalen wollen? Und: Reicht das Standing von Kindern und Familien in unserer Gesellschaft wirklich so weit, dass die Familien auf dieselbe politische Unterstützung zählen können wie die Wirtschaft, deren Rufe nach Rekord-Konjunkturpaketen bald erhört werden dürften?

 

Auf halber Strecke
stehengeblieben

 

Viele haben sich gewundert, warum skandinavische Länder die Kitas und Schulen in der Coronakrise von Anfang an mit ganz anderer Priorität behandelt haben. Christina zur Nedden schrieb heute in der Welt dazu zwei sehr wahre Sätze: "In den egalitären Gesellschaften Skandinaviens arbeiten oft beide Elternteile und kleine Kinder müssen ganztags betreut werden. Jedoch wird Kindern in diesen Ländern auch grundsätzlich ein anderer Stellenwert eingeräumt."

 

Deutschland, so scheint es, hat Corona irgendwo auf halber Strecke erwischt: Auch hier arbeiten inzwischen meist beide Elternteile, und die Politik hat den gesellschaftlichen Aufbruch durch den massiven Ausbau von Kitas und Ganztagsschulen nach Kräften gefordert. Doch hat dies, so wird in der Krise deutlich, an ein paar bitteren Wahrheiten noch nichts geändert: Deutschland ist, was die Teilhabe und Aspirationen von Frauen angeht, trotz aller Fortschritte noch lange nicht so egalitär wie Dänemark oder Schweden. Hinzu kommt: Anders als in Skandinavien wurden Kinder in der Bundesrepublik über Jahrzehnte vor allem als Privatsache gesehen. Ihre gesellschaftliche Rolle mag sich ebenfalls in den vergangenen Jahren gewandelt haben, doch die Perspektive von Familien und der Kinder ist bis heute nicht die der Mitte der Gesellschaft. 

 

Genau das macht die neue Priorität, die Kitas und Schulen seit dieser Woche in der Politik einnehmen, obgleich viel zu spät, so erfreulich. Und die sich abzeichnende neue Corona-Normalität für viele Eltern so schwer zu ertragen. 

 

Offenlegung: Ich bin selbst Vater von drei Kindern (sieben, vier und zwei).



Nachtrag am 08. Mai 2020

Ich habe eine Zahl im Text nach nochmaligem Nachrechen geändert, weil ich zu dem Ergebnis kam, zu optimistisch gewesen zu sein. Da an den Schulen alters- und risikogruppenbedingt zwischen 25 und 30 Prozent der Präsenz-Lehrkräfte auf längere Zeit fehlen dürften und die Lerngruppen Pi mal Daumen halbiert werden, ergibt die Berechnung der maximalen Präsenzunterrichts-Kapazität eher 30, vielleicht bis zu 40 Prozent. Gestern war ich von 40 bis maximal 50 Prozent ausgegangen. Ein bis maximal zwei Präsenz-Schultage pro Woche: Das wird selbst, wenn die Bildungspolitik pusht, die ernüchternde Corona-Schulnormalität sein. Und das ist ein Stückweit auch für alle die Antwort, die es als Hohn empfinden, dass die Schulen mit diesen ein, oder zwei Präsenztagen planen. Mehr ginge nur unter Aufgabe der Abstandsregeln. Dahinter steckt wahrlich kein zurückhaltender Einsatz der vorhandenen Ressourcen. Was es, wie mein Text ausdrücken sollte, für viele Eltern nur umso bitter machen wird.

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Kommentare: 4
  • #1

    Holger Impekoven (Donnerstag, 07 Mai 2020 21:35)

    Wie wahr! Vielen Dank, Herr Wiarda, für diesen Beitrag!
    (selbst Vater dreier Kinder)

  • #2

    Claas (Freitag, 08 Mai 2020 11:27)

    Artikel ist gut geschrieben, Herr Wiarda.
    Lediglich die Fokussierung auf Mütter finde ich zu einseitig. Wenn beide Elternteile arbeiten, dann sind es auch beide, die die Kinderbetreuung mit übernehmen; d.h. sich aufreiben. Verschärfend für den "Mann" ist noch, dass die Vorgesetzten im "alten Rollenmodell" denken, 100% fordern und nicht verstehen, dass man sich auch als Vater um die Erziehung seiner Kinder mit kümmern will; auch um die Mutter zu entlasten. Dies hört man vermehrt im Freunde-/Bekannten- Arbeitskreis

  • #3

    Pete (Freitag, 08 Mai 2020 16:49)

    Vielen Dank für den sehr guten Artikel, der das beschreibt, was vielen Eltern jüngerer Kinder (mich eingeschlossen) im Moment so durch den Kopf geht. Dass Kinder oft auf der Stufe eines Hobbies gesehen werden, ist leider nach wie vor so. Wahrscheinlich hat das auch damit zu tun, dass es den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für unter 3jährige in Deutschland erst seit gut 7 Jahren gibt. Damit gibt es jetzt zwar mehr Eltern kleiner Kinder, die gemeinsam mehr als 150 Prozent arbeiten bzw. bereits gearbeitet haben , als die Kinder noch jünger waren. In der Gesamtschau aller Eltern (also auch der der erwachsenen Kinder) sind die aber nach wie vor in der Minderheit. Meine Beobachtung ist, dass insbesondere Personen, die selbst Kinder groß gezogen haben, den praktischen Unterschied, den die geteilte Verantwortung für die Betreuung der Kinder und "Broterwerb" macht, nicht nachfühlen können. Nach dem Motto "Wir haben das damals doch auch irgendwie hinbekommen" und dabei vergessen, dass es früher anders war, z.B. weil neben einem berufstätigen Mann i.d.R. eben eine (nicht oder kaum berufstätige) Frau stand, die sich um die Kinder gekümmert hat und ihre beruflichen Ziele bedingt verwirklichen konnte oder weil früher i.d.R. ein Einkommen als Familieneinkommen ausreichend war. Leider wird die Perspektive der "Mitte der Gesellschaft" auf Familien mit Kita- und Schulkindern nach wie vor ganz wesentlich von den Erfahrungen dieser (zahlenmäßig auch im Vergleich sehr großen) Elternkohorten definiert. Im Umgang mit der Corona-Krise ganz allgemein und jetzt im Besonderen bei den ganz individuellen Diskussionen am Arbeitsplatz , über die Frage, was passiert, wenn Schulen- und Kitas nur eingeschränkt geöffnet sind, wird das jetzt besonders sichtbar und relevant.

  • #4

    H. (Montag, 11 Mai 2020 09:26)

    Meine Tochter hat diese Woche Unterricht an ihrer Geundschule Dienstag + Donnerstag 8.30 - 10.05 Uhr. So sehr mich das für sie freut - für die Organisation von Beruf und Familie ist das schlimmer als vorher. Es wird jetzt jede Woche einen anderen "Stundenplan" geben. Wir müssen also jede Woche neu organisieren.