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"Eine komplett unmögliche Situation"

Die Labore waren wegen Corona teilweise monatelang geschlossen. Trotzdem will die EU-Kommission von ihr finanzierten Doktoranden nicht länger Geld zahlen. Doch Antonia Weberling kämpft. Ein Interview.

Antonia Weberling, 27, Biochemikerin und promoviert mit einem EU-Stipendium an der Universität Cambridge. Foto: privat.

Frau Weberling, Sie sind Doktorandin in Cambridge und haben einen Brandbrief an EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen geschrieben. Warum?

 

Es war ein Offener Brief, weil ich möchte, dass möglichst viele Menschen erfahren: Viele Doktoranden überall in Europa stehen genau wie ich gerade vor dem Nichts. Deshalb habe ich Frau von der Leyen um Unterstützung gebeten. Sie hätte die Macht, etwas an den Zuständen zu ändern. Denn es ist die EU, die uns nicht die Unterstützung gibt, die wir brauchen.

 

Das müssen Sie erklären.

 

Ich studiere in meinem dritten Jahr hier in Cambridge. Das ist zugleich das letzte Jahr meines Stipendiums, finanziert durch die höchst prestigeträchtigen Marie Skłodowska-Curie Actions, die Teil des EU-Forschungsprogrammes Horizon 2020 sind. Innerhalb der Actions gehöre ich zum Europäischen Training-Netzwerk ImageInLife. Wir sind 14 Doktoranden, deren Gemeinsamkeit ist, dass wir alle mit bildgebenden Verfahren Zellorganismen erforschen. Seit Dezember 2017 arbeite ich sieben Tage die Woche, manchmal 20 Stunden am Tag, um rechtzeitig fertig zu werden mit meinem Forschungsprojekt. Und ich hätte es geschafft. Aber dann kam Corona. Die Krise hat mich um Monate zurückgeworfen. Doch die EU hat mir und allen anderen ihrer Stipendiaten mitgeteilt, dass wir kein zusätzliches Stipendiengeld bekommen werden. 

 

Woran arbeiten Sie?

 

Als Biochemikerin erforsche ich, was passiert, wenn ein Embryo sich in den Mutterleib einnistet. Das ist der Zeitpunkt, an dem 30 Prozent der menschlichen Schwangerschaften fehlschlagen, und wir wissen immer noch nicht genau, warum das so ist. Denn im Moment seiner Einnistung entzieht sich der Embryo der direkten Beobachtung. Unser Labor hier in Cambridge hat eine Methode entwickelt, wie wir trotzdem zuschauen können, und die meiste Zeit über sitze ich vor großen Live-Imaging-Mikroskopen und beobachte grün leuchtende Embryonen, wie sie sich verhalten. Das ist faszinierend und extrem zeitaufwändig. 

 

"Jetzt denke ich, wenn ich mir weiter große Mühe gebe, kann ich es bis Mitte nächsten Jahres schaffen. Aber kann ich eben nicht. Mein Stipendium läuft ja aus." 

 

Als die Corona-Krise begann, wurden die Labore zugemacht?

 

Für drei Monate, ja. Und nicht nur das. Ich musste auch fast alle meine Versuchstiere töten, eigens zu diesem Zweck gezüchtete Mäuse. Jetzt kann ich zwar wieder ins Labor, aber nur in Schichten von vier, fünf Stunden am Tag. Und es wird nochmal bis zu zehn Wochen dauern, bis ich die Mäusepopulation wieder soweit aufgebaut habe, dass ich weitermachen kann. Hinzu kommen Lieferprobleme: Einige dringend benötigte Labormaterialien bekommen wir zurzeit nur mit großer Verzögerung.

 

Was schätzen Sie, wann Sie fertig sein können mit ihrer Dissertation?

 

Ich leite im Moment fünf Projekte, ein weiteres habe ich bereits letztes Jahr abschließen können. Alle Projekte zusammengenommen ergeben meine Doktorarbeit. Und zu jedem dieser Projekte muss ich am Ende ein Paper in einem wissenschaftlichen Journal veröffentlichen. 

 

Sechs Paper ist eine enorm hohe Zahl für eine Doktorarbeit.

 

Ich weiß. Aber ich hatte sehr schnell gearbeitet. Jetzt denke ich, wenn ich mir weiter große Mühe gebe, kann ich es bis Mitte nächsten Jahres schaffen. Aber kann ich eben nicht. Mein Stipendium läuft ja aus. 

 

In Deutschland hat die Bundesregierung entschieden, dass die Doktoranden-Stipendien der Begabtenförderwerke wegen Corona um bis zu ein Jahr verlängert werden können. 

 

Aber bei den EU-Stipendien ist das eben anders. Und es geht ja nicht nur den Leuten in meinem ImageInLife-Konsortium so wie mir. Nachdem ich Anfang Juni erfahren musste, dass die Kommission weder vorhat, unsere Stipendien zu verlängern, noch sonst irgendwelche Ausgleichsmaßnahmen anbietet, habe ich den Offenen Brief an Kommissionspräsidentin von der Leyen geschrieben. Ich wusste mir nicht anders zu helfen und habe ihn über Twitter und Facebook gestreut in der Hoffnung, dass irgendwer uns helfen kann. Innerhalb weniger Tage hatte ich zwar keine Lösung, aber Rückmeldungen von 50, 60 EU-geförderten Doktoranden aus ganz Europa, die mir schrieben: Wir stehen auch vor dem Aus. Das Einzige, was die EU uns anbietet, ist eine kostenneutrale Verlängerung unseres Stipendiums. 

 

Was bedeutet das?

 

Das bedeutet, wir können weitermachen, bekommen aber kein Geld mehr. Uns wurde mitgeteilt, wir müssten unser Gehalt woanders auftreiben, da es für eine verlängerte Zahlung der Stipendien keinen Präzedenzfall gebe. Das verstehe ich ja. Aber für die Corona-Krise gibt es auch keinen Präzedenzfall. 

 

"Es ist irritierend, dass die EU die Bedeutung der Grundlagenforschung beschwört und zur selben Zeit 

denen das Rückgrat bricht, die sie leisten."

 

Hat sich Ursula von der Leyen auf Ihren Brief hin bei Ihnen gemeldet?

 

Nein, das hat sie bislang nicht. 

 

Was bedeutet die faktische Nicht-Verlängerung für Sie?

 

Eine komplett unmögliche Situation. Ich musste meine Miete zahlen trotz Lockdowns, alle anderen Kosten liefen auch weiter, ich konnte also nichts zurücklegen. Und ich habe ja auch nicht gefaulenzt währenddessen. Keiner von uns Stipendiaten hat das. Ich habe am Computer weitergearbeitet, ich habe Daten analysiert und neue Forschungsprojekte angefangen, für die ich die Laborarbeit nicht brauchte. Wenn ich ab Januar kein Geld mehr habe, muss ich weggehen aus Cambdrige und hoffen, dass ich irgendwo anders eine Postdoc-Stelle bekomme, die es mir erlaubt, nebenher meine Publikationen abzuschließen. Aber das ist ja das Widersinnige: Um eine Postdoc-Stelle zu bekommen, brauche ich die Publikationen. Wer nimmt mich schon ohne sie – zumal in einer Zeit, in der alle Institute und Forschungsgruppenleiter froh wären, zumindest ihre eigenen Leute irgendwie weiterfinanziert zu bekommen?

 

Warum hilft Ihnen nicht die britische Regierung?

 

Die Hilfen der britischen Regierung gelten nur für die Inhaber britischer Stipendien. Übrigens, nur um auch das zu sagen: Wir haben es hier nicht mit einem Brexit-Problem zu tun. Ich habe auf meinen Offenen Brief hin Zuschriften von EU-Stipendiaten zum Beispiel aus Frankreich bekommen, aus Spanien, Deutschland oder auch Griechenland. Alle haben das gleiche Problem, wenn sie nicht auf nationalen Stipendien promovieren, sondern über EU-Programme. Ich glaube, dass wir einfach übersehen wurden.

 

Wie meinen Sie das?

 

Die EU-Politik ist momentan komplett auf das Coronavirus und dessen Bekämpfung fixiert, sie steckt Milliarden in die Corona-Forschung und vergisst darüber, dass es viele andere ernsthafte Bedrohungen gibt, an deren Ursachen wir ebenfalls dringend weiterforschen müssen. In meinem ImageInLife-Konsortium gibt es Leute, die forschen zu Tuberkulose oder Immunantworten auf bakterielle und virale Infektionen. Viele Mechanismen, die wir in der frühen Embryonalentwicklung erforschen, werden später von Krebszellen reaktiviert. 240.000 Menschen sterben allein in Deutschland jedes Jahr an Krebs. Das sind die Größenordnungen. Aber die Politik sieht sie gerade nicht. Es ist doch irritierend, dass die EU die Bedeutung der Grundlagenforschung gerade in Zeiten der Corona-Krise beschwört und zur selben Zeit denen das Rückgrat bricht, die sie leisten. Ich würde mich nicht wundern, wenn das dazu führt, dass die richtig guten Leute abwandern in Länder außerhalb der EU.

 

Was wollen Sie als nächstes tun?

 

Ich habe schon eine offizielle Beschwerde beim Ombudsman der EU eingereicht. Von dort habe ich immerhin die Antwort erhalten, dass sie meine Beschwerde auf ihre Zulässigkeit prüfen. Auch habe ich eine Online-Petition gestartet, mit der ich Unterschriften zu meinem Brief sammle. Wir Doktoranden haben keine Lobby. Wir sind nicht wichtig, und wir fallen noch nicht einmal dadurch auf, dass wir besonders viel Geld kosten. Wir reden hier von ein paar tausend Euro pro Stipendiat, von drei bis sechs Monaten Verlängerung. Vielleicht ist das zu kleinteilig für die EU-Kommission, weil sie derzeit nur mit großen Beträgen um sich wirft. Aber nur weil wir keine Lobby haben und andere uns nicht für wichtig halten im Augenblick, dürfen wir Doktoranden jetzt nicht still sein nach dem Motto: Uns hört ja sowieso keiner zu. 


Kein Geld, aber nette Worte: Was die EU-Kommission
zur Lage der Doktoranden sagt

Und was sagt zu all dem die EU-Kommission? Die Situation der Stipendiaten der Marie Skłodowska-Curie Actions und die Auswirkungen der COVID-19-Krise auf ihre Forschungsprojekte seien der Kommission bekannt, sagte eine Sprecherin am Dienstagabend. "Um darauf zu reagieren, wenden wir den bestehenden Rechtsrahmen der Aktion, das Forschungsrahmenprogramme Horizon 2020, so flexibel wie eben möglich an."

 

Die EU-Kommission fördert derzeit nach eigenen Angaben 2491 Postdocs über individuelle Stipendien und 4984 Doktoranden über die Europäischen Training-Netzwerke. 

 

Was die geforderte Verlängerung der Stipendienzahlungen angeht, bleibt die Kommission jedoch hart – und verschiebt die Verantwortung an die Einrichtungen der Doktoranden: Sie würden "ermutigt", ihre Projekte fortzusetzen, die dazu gehörenden Planungen so weit wie möglich an die Bedingungen der Krise anzupassen und somit auch die betroffenen Stipendiaten weiter zu fördern, sagt die Kommissionssprecherin. 

 

"Dass einige der im Rahmen der Stipendien zu erbringenden Leistungen "verspätet oder gar nicht" erbracht oder dass einige Projektziele möglicherweise angepasst werden müssten, gehe angesichts der "außergewöhnlichen Umstände"

in Ordnung. Die zuständige Exekutivagentur für Forschung stehe täglich in Kontakt mit Stipendiaten, "um passende Lösungen zu finden". Und dann kommt eine überraschende Ansage: "Für die überwiegende Mehrheit der Stipendiaten wurden bereits Lösungen gefunden." Welche das sind, sagt die Sprecherin allerdings nicht – und ob damit auch finanzielle Lösungen gemeint sind.

 

Stattdessen verweist sie auf eine Umfrage der Marie-Curie-Alumni-Vereinigung  unter den aktuellen Stipendiaten."Wir haben die Ergebnisse der Umfrage vor einigen Tagen erhalten, und wir analysieren derzeit diese Informationen sowie die Rückmeldungen der Agentur." Sie würden der Kommission helfen, besser zu verstehen, "wie sich die derzeitige Krise auswirkt und welche zusätzlichen Maßnahmen gefunden werden könnten, um die Auswirkungen auf die Projekte zu verringern."

 

Klingt nach Zeitspiel. Zeit, die Stipendiaten wie Antonia Weberling nicht haben. Sie müssen jetzt wissen, wie es für sie weitergeht. 

 

Apropos Antonia Weberling, sagt die Sprecherin: Präsidentin von der Leyen hat ihren Brief erhalten, "und sollte er noch nicht beantwortet sein, so wird er sicherlich noch beantwortet werden."


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Kommentare: 5
  • #1

    Sebastian (Mittwoch, 01 Juli 2020 12:56)

    >Alle haben das gleiche Problem, wenn sie nicht auf nationalen Stipendien promovieren, sondern über EU-Programme. Ich glaube, dass wir einfach übersehen wurden.

    Ich habe bisher von keinem deutschen Stipendium/Projekt gehört, dass *mit Finanzierung* verlängert worden wäre, alle nur kostenneutral. Das ist also kein isoliertes Problem der EU-Gelder (auf die Gefahr hin das Thema zu derailen).

  • #2

    Jan-Martin Wiarda (Mittwoch, 01 Juli 2020 13:43)

    @Sebastian: Die Begabtenförderwerke haben beispielsweise die Stipendiendauer verlängert, siehe hier:
    https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/neuigkeiten/durchbruch-bei-verlaengerung-von-promotionsstipendien/

    und hier:
    https://www.jmwiarda.de/2020/04/27/deutsche-meisterin-für-lückenschirme/

    Beste Grüße!

  • #3

    Björn (Mittwoch, 01 Juli 2020 21:15)

    und die DFG tut es auch...
    http://www.dfg.de/download/pdf/presse/download/anschreiben-corona_massnahmen_stipendien_fellows.pdf

    Ebenso gibt es Verlängerungsmögluchkeiten bei Projekten der DFG bei spezifischen Bedingunge.

    Danke für die Berichterstattung.

  • #4

    Caspar M. Schwiedrzik (Freitag, 03 Juli 2020 22:50)

    ERC Grants und die aus ihnen finanzierten Stellen werden übrigens auch nicht verlängert.

  • #5

    David Bogle (Mittwoch, 08 Juli 2020 15:41)

    At UCL we are funding extensions to students whose funders won’t wherever they come from provided it goes through our accounts so this is different at different universities. I was expecting the EC to give extensions but as it happens we were just looking into this. UK govt is giving extensions and most but not all are uk nationals. As she says it’s nothing to do with Brexit however regrettable that is. Sorry for the English