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Das brüchige Schulversprechen der Kultusminister

Die Bildungspolitik plant den Regelbetrieb für alle Schüler nach den Sommerferien. Das ist gut so. Doch sollte sie sich zugleich verlässlich auf eine zweite Corona-Welle vorbereiten – und dann zwischen älteren und jüngeren Schülern differenzieren.

IN ISRAEL läuft sie längst, die zweite Corona-Welle. In Australien und Japan ebenso, in den USA sind die Neuansteckungen hoch wie nie. Auch in Deutschland stiegen die Infektionszahlen zuletzt wieder, das Robert-Koch-Institut bezeichnet die Entwicklung als "sehr beunruhigend".

 

Ohne gleich in Alarmismus zu verfallen, der Blick ins Ausland zeigt: Die erst wenige Tage alte Einschätzung von Helge Braun, Chef des Bundeskanzleramts, Deutschland habe das Virus derzeit "im Griff", kann, wie er selbst sagte, nur eine "Momentaufnahme" sein. Erst recht in der Urlaubszeit.

 

Verlässliche Kriterien, wie lange
der Regelbetrieb bleibt, fehlen

 

Genau das macht das Versprechen der Kultusminister, nach dem Sommerferien überall zum schulischen Regelbetrieb zurückzukehren, sofern und solange "es das Infektionsgeschehen zulässt", so brüchig. Denn verlässliche Kriterien, ab wann das Infektionsgeschehen nach Meinung der Länder zu heftig für den Regelbetrieb wäre, fehlen noch immer.

 

Das ist ein enormes Manko – vor allem, wenn man sich zugleich nicht des Eindrucks erwehren kann, dass bei einigen Politikern und in einigen Teilen der Bundesrepublik das Recht auf Bildung immer noch nicht höchste politische Priorität genießt. Anders ist nicht zu erklären, dass Bayerns CSU-Ministerpräsident Markus Söder neulich sagte, er sei "noch nicht so überzeugt, dass es einen ganz normalen Regelunterricht geben wird", CSU-Bundesinnenminister Horst Seehofer aber meinte, man könne im Herbst wieder Zuschauer in die Fußballstadien lassen.

 

Dabei sind wissenschaftliche Erkenntnisse, zumindest was die jüngeren Schüler und ihre Rolle in der Pandemie angeht, inzwischen ziemlich robust. Kinder unter zehn Jahren stecken sich nicht nur seltener an, sie geben das Virus auch deutlich seltener weiter: einer neuen umfangreichen Studie aus Südkorea zufolge etwa halb so oft wie Erwachsene, was sich von der Tendenz her mit zahlreichen weiteren Untersuchungen, auch aus Deutschland, deckt.

 

Dieselbe südkoreanische Studie bescheinigte den 10- bis 19-jährigen Jugendlichen allerdings die höchste Übertragungsrate aller Altersgruppen, viermal so hoch wie bei den kleineren Kindern. Das könnte überzeichnet sein, zumal in der Untersuchung nur sehr wenige Infektionsketten überhaupt bei den Jugendlichen starteten.

 

Auch ist die Studienlage bei den 10- bis 19-Jährigen insgesamt widersprüchlicher. Dass sie mit zunehmendem Alter ansteckender werden, zeichnete sich indes schon länger ab. Zudem scheint es tatsächlich so, als sei zum Beispiel die zweite Corona-Welle in Israel gerade auch durch ältere Schüler getrieben worden.

 

Die Bildungspolitik wird
differenzieren müssen

 

Was sich daher ebenso abzeichnet: Die Bildungspolitik wird differenzieren müssen. Es ist epidemiologisch vertretbar sowie sozial- und bildungspolitisch dringend geboten, Kitas und Grundschulen auch in einer zweiten Welle so lange wie möglich im Vollbetrieb zu halten – und wirklich erst als Ultima Ratio, wenn zum Beispiel Geschäfte und Restaurants längst zu sind, in einen reduzierten Ablauf, dann aber für alle Kinder zugänglich, zu wechseln. Komplette Schließungen darf es für die Unter-10-Jährigen gar nicht mehr geben.

 

Gleichzeitig aber werden die oberen Klassen deutlich früher als die unteren in den Misch- oder im absoluten Notfall sogar in den reinen Fernunterricht gehen müssen – umso früher, je älter die Jugendlichen sind. Voraussetzung dafür ist aber ein tägliches digitales Angebot, das wirklich funktioniert.

 

Klar ist auch: Die Politik muss diese Differenzierung Schulen, Eltern und Schülern vor Beginn des Schuljahres kommunizieren, inklusive nachvollziehbaren Schwellenkriterien für Regionen und Bundesländer. Darauf sollten die Kultusminister jetzt drängen. Das erfordert Mut, doch andernfalls wird ihnen die politische Debatte, falls die Infektionszahlen tatsächlich noch einmal außer Kontrolle geraten sollten, erneut entgleiten.

 

Und dann sind Regierungschefs wie Markus Söder die ersten, die frei von jeder Abstufung und wissenschaftlichen Fundierung als erstes alle Bildungseinrichtungen dichtmachen. Auch die Kitas und Grundschulen.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.


Kommentare: 4 (Diskussion geschlossen)
  • #1

    Susanne Kriegel (Sonntag, 26 Juli 2020 22:54)

    Ich bin in der Pädagogik U6 tätig... Alle Eltern rufen nach dem Recht auf Bildung für ihre Kinder. Ich bin der Meinung, viele rufen nach Aufbewahrung. Würden sie nach Bildung rufen, wären längst alle Eltern für kleinere Gruppen- und Klassengrößen, bessere Ausstattung und besseren Personalschlüssel auf die Straße gegangen! Wie soll den mit solchen Rahmenbedingungen bitte gute Bildung stattfinden ?? Und übrigens: In Kitas und Grundschulen halten sich zum einen nicht nur Kinder auf (Selbstverwaltung funktioniert noch nicht richtig), sondern auch Personal, das ansteckend sein könnte, zum anderen übertragen laut Drostens Studie Kleinkinder den Virus symptomfrei. Während jede Kassiererin hinter einer Plexiglasscheibe sitzt, schniefen uns demnächst alle Kinder wieder an. Denn es ist ja nur Schnodder (meist auf Augenhöhe), der uns dann trifft #Ironie off.
    Ich verstehe alle berufstätigen Eltern-ich bin alleinerziehende Mama, aber bitte seid ehrlich in dem, was ihr fordert!

  • #2

    M. Weber (Montag, 27 Juli 2020 08:53)

    Hallo Hr Jiwarda,

    danke d
    f. Ihren Beitrag. Was mich nur immer wieder wundert ist der sich zu Aussagen hinreißende Kommentator, in Ihrem Fall sogar in der Zeitung zumind. online. Sie beziehen sich auf Studienaussagen und verallgemeinern diese zu bildungspol. Handlungsempfehlungen, mit Forderungscharakter. Meine Forderung wäre selbige Studien auf die Sie sich beziehen sauber zu zitieren und damit dem Leser die Möglichkeit zu geben sich ein eigenes Bild zu verschaffen. Meine Beobachtung journalistischer Tätigkeit mit Bezugnahme auf "irgendwelche wissenschaflichen Studien" ist eine oft selektive, wenn nicht sogar oft falsch verstandene Übernahme bzw. Interpretationvon "Studienergebnissen" ohne über statistische Validität bzw. von den Forschenden oft geäußerten Einschränkungen, aufgrund der vorh. Datenlage. Da leider auch die Politik sich oft genug verkürzt, ggf. aus Zeitmangel, Unkenntnis oder getrieben von der Aufmerksamkeitsökonomie des vermeintlichen Wählerwillen aus journalistischen Quellen informiert, wäre gerade hier die Quellenoffenbarung notwendig. Ich wünschte da auch bei Ihnen mehr Liebe zum Detail als Ausdruck der Transparenz sauberer Recherche.

  • #3

    Jan-Martin Wiarda (Montag, 27 Juli 2020 09:14)

    @M. Weber: Vielen Dank für Ihr Feedback. Dazu allerdings zwei Anmerkungen. Es handelt sich nun einmal um eine Kolumne sprich einen journalistischen Kommentar, der auf den Ergebnissen verschiedener Studien, auch der südkoreanischen, basiert. Diese Ergebnisse sind nicht in allen Details wiedergegeben, weil es sich a) nicht um einen Bericht über die Studie handelt und b) auch nicht um eine wissenschaftliche Arbeit. Aber die Aussagen an sich sind meines Erachtens korrekt, und ich freue mich schon, wenn Sie mir sowohl Liebe zum (notwendigen) Detail als auch ein Interesse an einer transparenten Recherche zugestehen würden. Besten Dank und beste Grüße Ihr J-M Wiarda

  • #4

    Jan-Martin Wiarda (Montag, 27 Juli 2020 09:17)

    PS: Ich habe Ihrem Wunsch folgend nun aber auch noch die direkte Quelle zur Studie hinzugefügt, die im verlinkten Tagesspiegel-Artikel bereits enthalten war. Beste Grüße!