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Sind wir wieder im März angelangt?

Was sich aus dem aktuellen Anstieg der Corona-Infektionen herauslesen lässt – und was nicht. Eine Analyse anlässlich der Schulstarts in Nordrhein-Westfalen.

DEUTSCHLAND VERZEICHNET MIT 1224 ans Robert-Koch-Institut (RKI) gemeldeten Corona-Infektionen den höchsten Stand seit Mai, und am selben Tag beginnt im größten Bundesland das neue Schuljahr – das noch dazu die höchste Fallhäufigkeit auf 100.000 Einwohner aufweist.  Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nannte die Zahlen heute im Deutschlandfunk "ohne Zweifel besorgniserregend". Bei vergleichbarer Infektionshäufigkeit seien im März die Schulen bundesweit geschlossen worden, und nun würden sie sperrangelweit aufgesperrt – so lautet ein Argument, das derzeit vor allem in den Sozialen Medien häufig angeführt wird. Tatsächlich bewegten sich die RKI-Fallzahlen der vergangenen Kalenderwoche (5575) auf ähnlichen Niveau wie in der Woche ab 9. März (6425) – der Woche, an deren Ende die Ministerpräsidenten die Schulen und Kitas im Land dichtmachten.

 

Aber trägt der Vergleich auch sonst? Der Versuch einer Bestandsaufnahme.

 

1. Absolute Fallzahlen versus Ausbreitungsdynamik

 

In Kalenderwoche 11 (ab 09. März) gab es 6425 offiziell gemeldete Fälle, das entsprach dem Siebenfachen (+620 Prozent) der Vorwoche. In Kalenderwoche 32 (ab 03. August) betrug die RKI-Fallzahl 5575, das war rund ein Fünftel (+21 Prozent) mehr als in der Vorwoche. In der Kalenderwoche 12 (ab 16. März) wurden dann deutschlandweit 22.446 Fälle gemeldet, das waren erneut 249 Prozent mehr als in der Woche zuvor. Da die Kalenderwoche 33 gerade läuft, gibt es hier als Vergleichswert nur die 7-Tages-Inzidenz: In den vergangenen sieben Tagen zählten die Gesundheitsbehörden neue 5853 Corona-Fälle, damit liegt die 7-Tages-Inzidenz um rund 25 Prozent über der Vorwoche (4682).

 

Schlussfolgerung: Das Bild ändert sich täglich, bislang ist jedoch die Ausbreitungsdynamik des Virus eine vollkommen andere als im März. Was die Lage besorgniserregend macht – aber derzeit in keiner Weise vergleichbar mit der im März. Gerade deshalb hat Minister Spahn Recht, wenn er sagt, es gelte "sehr, sehr wachsam" zu sein. Ebenso RKI-Präsident Lothar Wieler, wenn er als Ursache für die steigenden Infektionszahlen die Nachlässigkeit beim Einhalten der Verhaltensregeln nennt. Allerdings, so könnte man argumentieren, hat Wieler zum Teil auch Unrecht: Gerade weil heute ganz andere Schutzmaßnahmen installiert sind und von vielen immer noch beachtet werden, breitet sich das Virus bislang nur so gebremst aus. Indes auch gleichmäßiger über Deutschland verteilt und nicht mehr vor allem auf einzelne Cluster beschränkt. 

 

2. Hospitalisierung und Todesfälle im März und jetzt

 

In Kalenderwoche 11 (ab 09. März) mussten neun Prozent der Neuerkrankten ins Krankenhaus, in Kalenderwoche 12 stieg der Anteil auf 11 Prozent. In Woche 32 (ab 03. August) mussten sechs Prozent der neuen Corona-Kranken hospitalisiert werden, in absoluten ans RKI gemeldeten Zahlen: 281. Das waren 54 Menschen weniger als in Kalenderwoche 31 (335). Zum Vergleich die absolute Zahl der hospitalisierten Corona-Kranken in Woche 11: 519. Und in Woche 12: 2191. Letzteres wäre der Wert, der bei vergleichbarer Dynamik in dieser Woche erreicht werden würde. Wobei für die Zahl und den Anteil der Krankenhauseinweisungen nicht nur die Dynamik der Ausbreitung ausschlaggebend ist, sondern auch die Demografie der Infizierten, dazu siehe unten. Die Anteil der Gestorbenen an allen aktuell gemeldeten Corona-Infizierten betrug in Kalenderwoche 11 1,3 Prozent und stieg in Kalenderwoche 12 auf 2,1 Prozent. Für die Kalenderwoche 31 stehen in der RKI-Tabelle sieben Todesfälle, für die Kalenderwoche 32 sieben. Doch sind diese Werte und auch ihr Anteil an allen gemeldeten Fällen noch nicht aussagekräftig. Laut RKI ist zuletzt der Anteil in der Kalenderwoche 30 (ab 20. Juli) belastbar, dieser betrug 0,5 Prozent (19 Verstorbene).  

 

Schlussfolgerung: Derzeit ist die Lage in den Krankenhäusern entspannt, die erhöhten Infektionszahlen waren dort bis Ende vergangener Woche (noch) nicht angekommen – und sie bewegten sich in Kalenderwoche 32 trotz einer ähnlichen Gesamtzahl der neuen Corona-Fälle auf einem deutlich niedrigeren Niveau als in der Kalenderwoche 11 (ab 09. März). Der Hauptgrund vermutlich: die deutlich andere Demografie der Erkrankten.

 

3. Die Demografie der Corona-Infizierten

 

Der Virus ist in Deutschland deutlich jünger geworden – und er verjüngt sich weiter, wie die Dynamik der vergangenen vier Wochen zeigt. Insgesamt nahm die Zahl der ans RKI berichteten Corona-Fälle zwischen Kalenderwoche 28 (ab 06. Juli) und Kalenderwoche 32 (ab 03. August) um 131 Prozent zu. Bei den über 70-Jährigen aber nur um 65 Prozent. Bei den 60- bis 69-Jährigen wuchs die Zahl der Kranken mit 101 Prozent ebenfalls unterdurchschnittlich. Am krassesten stieg sie in der Altersgruppe zwischen 20 und 29 (+176 Prozent). Bei den 40- bis 49-Jährigen betrug das Plus ebenfalls hohe 144 Prozent, bei den 50- bis 59-Jährigen 146 Prozent. Deutlich niedriger fiel das Wachstum interessanterweise bei den 30- bis 39-Jährigen aus (113 Prozent). Bei den ganz Jungen ergibt sich ein stark gegensätzliches Bild: Die 10- bis 19-Jährigen weisen mit +157 Prozent das zweithöchste Wachstum aus, die 0- bis 9-Jährigen mit 75 Prozent mehr Fällen das zweitniedrigste. Und das obwohl in den Kalenderwochen 28 und 29 mit Ausnahme der über 80-Jährigen keine Altersgruppe pro Kopf häufiger getestet wurde als die der Kita- und Grundschulkinder. Und das obwohl fast alle Bundesländer in diesem Zeitraum bereits zum Vollbetrieb in Kitas zurückgekehrt waren.

 

Schlussfolgerung: Es gelingt der Bundesrepublik offenbar inzwischen, die Ältesten besser vor einer Ansteckung zu schützen. Zugleich erkranken nun häufiger die besonders aktiven Altersgruppen – worin sich zuletzt wahrscheinlich auch schon zum Teil die Urlaubssaison 2020 widerspiegelt. Die jüngere Demografie der Erkrankten im Vergleich zu März erklärt vermutlich auch mindestens teilweise, warum bislang die Zahl der schweren Erkrankungen und der Krankenhausaufenthalte nicht dem Trend der steigenden Infektionszahlen gefolgt ist – was wiederum zeigt: Die Situation im August ist eine völlig andere als im März. Angesichts der Schulöffnungen weisen die Zahlen allerdings auch daraufhin, dass beim Infektionsrisiko sehr wohl zu unterscheiden ist zwischen jüngeren und älteren Kindern – und dass eine Maskenpflicht ab etwa 10 Jahren auch im Unterricht bei steigenden Infektionszahlen eine wichtige Maßnahme sein dürfte. Ebenso deutet vieles darauf hin, dass bei besonders hohen Fallzahlen in einer Region, wenn (hoffentlich als letzte Maßnahme) auch Schulen dichtgemacht werden sollten, ein Unterschied zwischen Grund- und weiterführenden Schulen gemacht werden kann und sollte. 

 

4. Warum sind eigentlich in NRW die Zahlen so hoch?

 

In den vergangenen Wochen stammte zuverlässig ein Drittel und mehr der Neuerkrankungen aus Nordrhein-Westfalen – obwohl der Bevölkerungsanteil dort gerade mal 20 Prozent der Bundesrepublik ausmacht. Für die auffallend hohen Fallzahlen dürften mindestens zwei Faktoren verantwortlich sein. Erstens: In NRW waren früh Sommerferien, insofern waren die Leute auch früher aus dem Urlaub zurück  – und haben vielfach das Virus mitgebracht. Heute erst teilte das Landesgesundheitsministerium laut Nachrichtenagentur dpa mit, dass etwa jede vierte Corona-Neuinfektion in NRW derzeit auf Reiserückkehrer zurückzuführen sei. Dabei gehe es sowohl um die Rückkehr von Reisen im Inland als auch aus dem Ausland. Auch in Hamburg und Berlin, die ebenfalls früh ins neue Schuljahr gestartet sind, führen die Behörden  einen Teil der deutlich erhöhten Zahlen auf das Urlaubsende zurück. Zweitens: Die mit NRW eng verbundenen Anrainerstaaten Niederlande (zuletzt +700 pro Tag bei 18 Millionen Einwohnern) und Belgien (+400 bei 11,5 Millionen) verzeichnen seit Wochen ein noch deutlich dramatisches Wachstum bei den Corona-Infizierten als Deutschland. In den ausländischen Nachbarregionen anderer Bundesländer ist keine vergleichbare Dynamik zu erkennen. 

 

Schlussfolgerung: Anderen Bundesländern steht der Anstieg der Corona-Fälle unter den Urlaubsrückkehrern teilweise noch bevor, was auch in den kommenden Tagen und Wochen die deutschlandweiten Zahlen weiter treiben dürfte. Umgekehrt gilt: Wenn NRW die Pandemie in den nächsten Wochen schlau managt, führt die Rückreisewelle womöglich nicht zu einem dauerhaften Eintrag in die Bevölkerung. Als eine Maßnahme hat die Landesregierung eine Maskenpflicht für ältere Schüler auch im Unterricht  bis 31. August erlassen – richtig so. Allerdings wäre es begrüßenswert, wenn es auch für andere Altersgruppen verschärfende Maßnahmen gäbe –   wie wäre es zum Beispiel mit einem Alkohol-Ausschankverbot nach 21 Uhr? Die steigenden Zahlen nur mit einer Maskenpflicht bei Kindern und Jugendlichen begegnen zu wollen, den Rest der Bevölkerung dagegen nur mit gut gemeinten Appellen zu behelligen, erscheint dann doch blauäugig.

 

5. Die Zahlen beobachten und angemessen reagieren

 

Zum Schluss nochmal NRW. Es ist statistisch gesehen eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, dass es im größten Bundesland in den nächsten Tagen zu einer beachtlichen Zahl gemeldeter Corona-Fälle auch in Kitas und Schulen kommen wird. Im dünn besiedelten Mecklenburg-Vorpommern waren in der ersten Schulwoche zwei von rund 600 Schulen betroffen. In NRW gibt es allein 5500 allgemeinbildende Schulen – womit die zu erwartende Untergrenze geschlossener Schulen dort bei 20, 25 liegen dürfte – allein in den nächsten zwei, drei Tagen. Angesichts der höheren Verbreitung des Virus könnten es aber auch 60, 70 und mehr werden. Sagt das etwas über die Rolle der Schulen im Pandemie-Geschehen aus? Nein, (noch) rein gar nichts. Wird das in der öffentlichen Debatte auch entsprechend vorsichtig diskutiert werden? Nein, vermutlich auch das nicht.

 

Die Mediendynamik, wenn aus NRW, aber auch aus Hamburg, Berlin oder anderswo in den nächsten Tagen und Wochen stündlich Corona-Fälle in Schulen gemeldet werden, ist nicht absehbar. Es wäre zu wünschen, dass die Kultusminister und vor allem die Regierungschefs in der Lage sein werden, trotzdem einen kühlen Kopf zu bewahren – und angemessen zu reagieren auf Entwicklungen, die statistisch zu erwarten sind. Gleichzeitig wäre es gut, die aktuelle Dynamik der Pandemie richtig zu analysieren und ganz klar zu sagen: Die Lage ist besorgniserregend – aber (noch) eine ganz andere als im März. 

 

Heute Nachmittag treffen sich Angela Merkel (CDU), ihre Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU), SPD-Chefin Saskia Esken und Vertreter der Kultusminister im Bundeskanzleramt. Mal sehen, welches Signal sie danach senden. Hoffentlich in etwa dieses: Selbst wenn die bundesweite Corona-Situation eine andere werden sollte, als sie derzeit ist, das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Bildung und Teilhabe bleibt im Gegensatz zum Beginn der Pandemie bei allen Abwägungen möglicher Gegenmaßnahmen eine nationale Priorität.

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Kommentare: 2
  • #1

    J. Lebensring (Mittwoch, 12 August 2020 15:44)

    Eine wohltuend nüchterne Analyse, die man sich in der
    Art aus dem RKI, den Medien etc. wünschte! Neulich schrieb ein Teilnehmer, daß Herr Wiarda der vielleicht
    unabhängigste Kommentator im Bereich Bildung und Wissenschaft sei. Recht hat er. Bitte weiter so.

  • #2

    Working Mum (Donnerstag, 13 August 2020 07:40)

    Ich kann mich dem Lob nur anschließen und hoffe sehr, dass Ihre beständigen Appelle, lieber Herr Wiarda, gegen Aktionismus und für eine hohe Priorisierung des Rechts auf Bildung in der Politik Gehör finden!