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Schaut auf die Älteren!

Das RKI registriert doppelt so viele Neuinfektionen wie Mitte August, doch die Corona-Zahlen unter Kindern und Jugendlichen liegen auf demselben Level wie vor sieben Wochen. Das zeigt, wie dramatisch sich die Demographie der Pandemie wieder verändert.

DIE TÄGLICHEN CORONA-ZAHLEN steigen weiter, am Donnerstag überschritten sie zum ersten Mal seit April die 4000er-Marke – aber bei den Unter-10-Jährigen stagnierten die gemeldeten Neuinfektionen bis vergangene Woche nahezu. Das geht aus der Statistik des Robert-Koch-Instituts (RKI) hervor. In der Kalenderwoche 40 registrierte das RKI 726 Corona-Fälle bei 0- bis 9-Jährigen, das waren 41 oder 6,0 Prozent mehr als in der Vorwoche (685).

 

Zum Vergleich: Über alle Altersgruppen gerechnet nahm die Zahl der in Kalenderwoche 40 gemeldeten Corona-Infektionen um fast ein Fünftel (19,6 Prozent) zu. Und noch ein Vergleich: Vor sieben Wochen (Mitte August) lag die absolute Zahl der nachweislich infizierten 0-9-Jährigen mit 682 auf demselben Niveau wie heute –während die Gesamtzahl aller gemeldeten Corona-Neuinfektionen seitdem von 7921 auf mehr als das Doppelte (15.436) gestiegen ist.

 

Damit bleibt zumindest statistisch festzuhalten: Der Beginn des neuen Schul- bzw. Kitajahres mit der Rückkehr zum täglichen Vollbetrieb für alle Kinder hat gemeldeten Neuinfektionen bei den Kindern bislang nicht steigen, ja zwischenzeitlich sogar sinken lassen. Das ist angesichts der gesamtgesellschaftlichen Infektionsdynamik seither bemerkenswert und lässt sich auch nicht durch Verweise wegdiskutieren, Kinder würden seltener (zu selten) getestet. Zumal die Belege für ein "zu selten" dünn sind: Die Quote positiver Coronatests bei Kindern liegt weiter verhältnismäßig niedrig, und pro 100.000 Einwohnern werden die 5- bis 14-Jährigen inzwischen ebenso häufig getestet wie die 60- bis 79-Jährigen.

 

Der empirische Kontext zu
den aufgeregten Debatten

 

Einen Sprung nach oben hatten die Neuinfektionen bei Kindern und Jugendlichen dagegen während der Sommerferien gemacht – was einem übrigens angesichts der bevorstehenden Herbstferien zu denken geben sollte. 

 

Jedenfalls liefern die RKI-Statistiken den nötigen empirischen Kontext zu den gelegentlich aufgeregten Debatten über die Rolle der Kitas und Schulen im Infektionsgeschehen. Ja, es gab und gibt lokale Ausbrüche und Infektionsketten auch in Schulen, die allermeisten Infektionen wurden jedoch bislang von außen in die Bildungseinrichtungen hineingetragen. Und systematisch gesehen waren die Kitas und Schulen in Deutschland seit August keine Hotspots der Corona-Pandemie – anders als von vielen befürchtet und vorausgesagt. Und auch in der aktuellen Kalenderwoche bewegen sich die Neuinfektionen bei den Kindern und Jugendlichen nach bisherigen Zahlen deutlich langsamer als bei allen anderen Altersgruppen. 

 

Klar, die Lage kann sich jederzeit ändern, weshalb auch die Debatte über das Lüften von Klassenzimmern in der kalten Jahreszeit wichtig und hilfreich ist. Denn das oberste bildungspolitische Ziel sollte derzeit sein, mit allen Mitteln die Infektionsdynamik in den Schulen weiter gering zu halten – weshalb die Kultusminister in Sachen Luftreinigung deutlich mehr Antworten liefern müssen als bislang.

 

Doch für die vergangenen teilweise schon gut zwei Monate Schule und Kita bedeuten die RKI-Zahlen eine – mit vielen Einschränkungen und viel Mühe von Kindern und Lehrkräften erreichte – überaus erfreuliche Erfolgsbilanz, insofern man von einer solchen inmitten einer Pandemie überhaupt sprechen mag. 

 

Bei den Älteren wird die Lage
immer besorgniserregender

 

Nimmt man die Referenzgruppe der Unter-15-Jährigen Kinder und Schüler insgesamt, so sank ihr Anteil an allen gemeldeten Neuinfektionen in der vergangenen Woche von 9,7 auf 9,1 Prozent – während sie 13,7 Prozent der Bevölkerung stellen. Der relative Rückgang ist beträchtlich, hat allerdings stärker damit zu tun, dass im Rest der Bevölkerung und vor allem bei den Älteren die Infektionsdynamik viel kräftiger war. Denn in absoluten Zahlen registrierte das RKI in Kalenderwoche 40 auch bei den Kindern und Jugendlichen zuletzt wieder mehr neue Fälle: 1411 im Vergleich zu 1259 in der Vorwoche. Und bei den 10- bis 14-Jährigen liegt der Anstieg mit 19,3 Prozent leider fast schon im Durchschnitt aller Altersgruppen.

 

In der aktuellen Kalenderwoche 41 sinkt der Anteil der infizierten Kinder und Jugendlichen insgesamt bislang weiter: auf aktuell nur noch 8,4 Prozent. Dieser Wert wird sich noch ändern, aber sie zeigt bereits die Tendenz an. Doch die absoluten Zahlen dürften auch bei den Unter-15-Jährigen weiter steigen – allerdings erneut langsamer als bei den anderen Altersgruppen. 

 

Apropos die anderen Altersgruppen: Der Anteil der Über-60-Jährigen an allen Neuinfektionen stieg in der Kalenderwoche 40 weiter, obgleich nur leicht, von 13,5 auf 14,8 Prozent. Wobei die absoluten Fallzahlen merklich anzogen: von 1744 auf 2301. Und in der aktuellen Woche deutet sich ein weiterer Sprung an: Aktuell liegt der Anteil der Über-60-Jährigen bei 15,5 Prozent.

 

Bei den besonders gefährdeten Über-80-Jährigen war die Entwicklung, auch wenn die absoluten Zahlen noch relativ niedrig sind, in den vergangenen Wochen noch besorgniserregender. In der Kalenderwoche 39 wurden für sie 419 Neuinfektionen gemeldet, in Kalenderwoche 40 schon 581, das entspricht einem Plus von fast 39 Prozent innerhalb von sieben Tagen.

 

Geht diese Dynamik in dieser Altersgruppe nur noch wenige Wochen weiter, wird es schwierig. Schon jetzt steigen die Krankenhauseinweisungen, obgleich ebenfalls noch auf niedrigem Niveau. In Kalenderwoche 39 verzeichnete das RKI insgesamt 631 sogenannte Hospitalisierungen, in Kalenderwoche 33 waren es 404, in Kalenderwoche 28 (im Juli) sogar nur 251. Auch die Zahl der gestorbenen Covid-19-Kranken scheint zu steigen, allerdings ist der Trend hier noch unklar und die Zahlen verharren pro Woche noch im niedrigen bis mittleren zweistelligen Bereich. 

 

Die Zahlen werden in jedem Fall weiter steigen –
aber wie schützen wir die Risikogruppen?

 

Allerdings: Als auf dem Höhepunkt der Pandemie im Frühjahr pro Woche gut 6000 Krankenhauseinweisungen und um oder über 2000 Tote gezählt wurden, gab es zwar nur gut doppelt so viele Neuinfektionen pro Woche wie derzeit – aber unter denen befanden sich nicht 600 Über-80-Jährige, sondern über 4500. Was einerseits zeigt, wie anders die Corona-Demographie aktuell noch ist, andererseits aber auch, wie ernst man die besonders starken Anstiege bei den Ältesten seit Ende August nehmen sollte. 


Keiner kann sagen, wie genau sich die Pandemie in den nächsten Wochen entwickeln wird – und damit meine ich nicht die Zahl der Neuinfektionen, die wird mit fast hundertprozentiger Sicherheit weiter steigen. Da die Zahl der Coronatests in der vergangenen 40. Kalenderwoche laut RKI um über 70.000 auf 1,096 Millionen zurückging und die Quote der positiven Tests zugleich einen Sprung von 1,22 auf 1,64 Prozent machte, dürfte die Dynamik durch die offiziell 20 Prozent Zuwachs im Vergleich zur Vorwoche eher noch unterzeichnet sein. 

 

Es ist schon ein Riesenvorteil, dass die Wachstumskurve im Vergleich zu anderen europäischen Ländern überhaupt so lange so flach verlief. Doch irgendwann kommt der Punkt, an dem das lineare Wachstum wieder in ein exponentielles übergeht. Genau dann nämlich, wenn die Kapazitätsgrenzen der Gesundheitsämter überschritten sind und die Nachverfolgung von Infektionsketten nicht mehr flächendeckend möglich ist. Nachdem die täglichen Neuinfektionszahlen am Donnerstag einen Riesensprung nach oben machten – von unter 3000 auf über 4000 stellt sich die Frage: Ist dieser Punkt jetzt erreicht? Oder handelt es sich noch um einen statistischen Ausreißer aufgrund vieler Nachmeldungen?

 

Völlig offen ist aber vor allem, wie gut und wie lange es gelingt, bei weiter steigenden Zahlen Menschen mit besonderen gesundheitlichen Risiken und vor allem auch die ältesten Jahrgänge zu schützen. Aktuell scheint dies schon immer schlechter zu gelingen.

 

Hinweis: Der Artikel wurde am 08. Oktober aktualisiert. 


Der falsche Zeitpunkt

Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach warnt, Präsenzunterricht könne "zum Superspreading-Event werden" und fordert Anpassungen. Auf Twitter erklärte er gestern: "Schulen beginnen früh zur Stosszeit, dauern bis mittags. Volle Klassen, Busse, keine Abstände. Alleine Masken und Lüften sollen es richten. Das wird nicht reichen. Luftfilteranlagen, Klassenteilung, Anpassung von Lehrplänen, zusätzliche Räum sind nötig." Viele Betriebe seien besser vorbereitet als Schulen.

 

Mit letzterer Feststellung – vor allem, was die technische Ausstattung angeht – dürfte Lauterbach Recht haben. Ansonsten bleibt festzuhalten: Wäre es nach Lauterbach gegangen, hätten die Schulen in diesem Frühjahr gar nicht wieder aufgemacht. Im Mai verkündete er auf Twitter, der reguläre Unterricht müsse für mindestens ein Jahr lang ausfallen.  "Das kann jetzt als epidemiologisch sicher gelten. Daran ändern weder Apps noch Masken etwas. Es ist die Übertragung durch Aerosole und Kontakte im Klassenraum." 

 

Die öffentliche Diskussion, fordert er damals, müsse sich verschieben weg von der Frage, "wer zuerst öffnet, hin dazu, welches Bundesland es schafft, mit Homeschooling und besonderer Unterstützung der bedürftigen Kinder das nächste Schuljahr zu organisieren."

 

Was für Lauterbach damals eine epidemiologische Gewissheit war, ist zum Glück nicht wahr geworden. Im Gegenteil: 

Angefangen mit Ländern wie Sachsen oder Schleswig-Holstein gab es seit Juni und dann spätestens seit Ende der Sommerferien mehrere Monate nahezu regulären täglichen Unterricht für alle Kinder – ohne dass die Schulen wie von Lauterbach und anderen befürchtet zu Hotspots wurden.

 

Der (späte) Mut der Bildungspolitiker, trotz vieler Warnungen das Bildungs- und Teilhaberecht der Kinder zu beachten, hat sich ausgezahlt, und Lauterbach hat Unrecht behalten.

 

Wenn, was möglich ist, sich die epidemiologische Situation an den Schulen in diesem Herbst ebenfalls ändern sollte, bleibt dreierlei festzuhalten. Erstens: Egal, wie es jetzt weitergeht, die kompletten Schulöffnungen waren schon jetzt ein großer Erfolg, weil sie den Kindern und Jugendlichen mehrere Monate eine Normalität ermöglicht haben, die ihnen – wäre geschehen, was Lauterbach und andere im Mai und auch noch deutlich später forderten – verwehrt geblieben wäre. Zweitens: Weil sich die Neuinfektionszahlen bei den Kinder und Jugendlichen bis heute unterdurchschnittlich entwickeln, ist eine öffentliche Fixierung auf die Kitas und Schulen zum jetzigen Zeitpunkt unverständlich und lenkt von den eigentlichen Super-Spreading-Events und ihrer Bekämpfung – Familienfeiern, Alkoholgelage etc. – ab. Drittens: Wenn die Dynamik der Infektionszahlen auch in den Schulen ändert, muss reagiert werden. Dann ergeben einige der Vorschläge Lauterbachs durchaus Sinn. Aber nur dann und erst dann. 



Siehe auch:

 

Wie sind die Zahlen?
Diese Woche haben sich die Regierungschefs von Bund und Ländern über neue Corona-Maßnahmen verhandelt. Parallel reißen die Debatten über die Rolle von Kitas und Schulen in der Pandemie nicht ab. Was aber lässt sich aus der aktuelle Corona-Statistik herauslesen? ( 01. Oktober 2020) >>>

 

Das Coronavirus wird wieder älter
Aktuelle Zahlen belegen: Jüngere stecken sich vergleichsweise seltener an, bei den Älteren steigen die Neuinfektionen dagegen mit großer Dynamik. 
( 23. September 2020) >>>

 

Weniger Junge, mehr Alte
In den Sommermonaten berichtete die Corona-Statistik von einem immer weiter steigenden Anteil infizierter Kinder, Jugendlicher und junger Erwachsene. Jetzt scheint sich der Trend zu ändern. Für Kinder und Familien ein Hoffnungszeichen, angesichts zunehmender Gesamtzahlen aber auch ein Grund zur Sorge. ( 15. September 2020) >>>

 

Schöne Zahlen
Weniger registrierte Neuinfektionen, kaum Krankenhauseinweisungen und weniger kranke Kinder: Die Entwicklung der Corona-Pandemie in Deutschland macht gerade Hoffnung. Doch wie nachhaltig ist sie? (03. September 2020) >>>

 

Ist die Trendwende schon da?

Kanzlerin und Ministerpräsidenten beraten heute über Maßnahmen in der Coronakrise. Währenddessen steigen die Infektionszahlen seit Tagen merklich langsamer. Was geht da vor sich? Und besteht tatsächlich Grund zu vorsichtigem Optimismus? (27. August 2020) >>>

 

Was, wenn es so weitergeht?

Die erste Corona-Welle lief im Zeitraffer, gegenwärtig ähnelt die Pandemie-Entwicklung eher einer gemächlichen Bergpartie. Doch die kennt seit Wochen nur eine Richtung: aufwärts. Was folgt daraus? (19. August 2020) >>>

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