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Die europäische Forschungskrise

Um die Folgen der Corona-Krise zu bewältigen, braucht Europa ein funktionierendes Innovationssystem. Umso widersinniger, dass der Kontinent gerade den Rotstift an der eigenen Zukunftsfähigkeit ansetzt. Ein Gastbeitrag von Manfred Ronzheimer.

Illustration: Europäische Kommission.

AN KRISEN HAT die EU eigentlich schon genug am Hals. Corona ist derzeit die schlimmste. Dennoch kann nun eine weitere, diesmal selbstverschuldete Krise hinzukommen: die Forschungskrise. Seit dem Sommer sind die EU-Instanzen nicht in der Lage, einen Konsens über die mittelfristige Finanzierung der europäischen Wissenschaftsprogramme herbeizuführen. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft wäre als Kompromissbildner gefragt, ist aber faktisch ein Ausfall.

 

Wie es begann: Der Sieg der "Sparsamen Vier" in der Juli-Nacht des fast längsten EU-Ratsgipfels der Geschichte hat nur Verlierer produziert. Damals konnte die von dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte angeführte Gruppe der Widerständigen eine erhebliche Veränderung beim Milliarden-Paket zur mittelfristigen Finanzierung der EU-Kommission und der Corona-Rettungsmaßnahmen durchsetzen. Die internen Einschnitte gingen aber nicht etwa zu Lasten der überdimensionierten Agrarförderung, sondern reduzierten zu aller Überraschung das eigentliche Zukunftskapital des Kontinents: die Ausgaben für Forschung und Innovation. Seitdem ist in der europäischen Forschungspolitik "Holland in Not" – eine Redewendung, die nicht besser passen könnte.

 

Um wieviel geht es? Herzstück der europäischen Wissenschaftsförderung ist das siebenjährige Forschungsrahmenprogramm, das in seinem nächsten Durchlauf in den Jahren 2021 bis 2027 den Namen "Horizon Europe" tragen soll. Anfangs hatte die EU-Kommission, die für die Ausführung der Forschungsprojekte zuständig ist, ein Gesamtbudget von 83,5 Milliarden Euro vorgeschlagen. Im Zuge der Corona-Abwehr sollten im Frühjahr weitere 13,5 Milliarden aus dem Aufbaufonds "NextGenerationEU hinzukommen", in Summe: 94,4 Milliarden Euro. Doch beim Ratsgipfel im Juli wurde dann bei der Forschung der Rotstift angesetzt: 80,5 Milliarden Euro blieben am Ende übrig, darunter nur fünf Milliarden aus dem Aufbaufonds. Dagegen stemmt sich bislang immer noch das EU-Parlament, das den Etat letzlich beschließen muss. Das Wunschziel der Parlamentarier ist dreistellig: 120 Milliarden Euro. Die Diskrepanz von 40 Milliarden ist erheblich, aber es geht nicht nur um Geld.

 

Es geht nicht nur um Geld

 

Kaum war das Kind in den Brunnen gefallen, wurden die ersten Proteststimmen laut. Allerdings nicht so lärmend wie bei den Bauern, die gerne mal Brüssel mit ihren Traktoren lahmlegen. Wie sehr die europäsiche Wissenschaft von dem Sparkurs getroffen ist, rechnete beispielsweise der Präsident des Europäischen Forschungsrates (European Research Council, ERC), Jean-Pierre Bourguignon, gegenüber dem renommierten Wissenschaftsmagazin nature vor. Die Agentur für Spitzenforschung soll aus dem Horizon-Budget nur noch 13,4 Milliarden Euro bekommen, knapp zehn Prozent weniger als ursprünglich geplant: "Ich verstehe es nicht", sagte Bourguignon zu nature. Er will, dass die Entscheidung rückgängig gemacht wird. Dem schloss sich die wissenschaftliche Leitpublikation in einem deutlichen Kommentar an: "Eine Pandemie ist die falsche Zeit, um die Mittel des Europäischen Forschungsrats zu kürzen", fand das Blatt. Der ERC werde "für eine Welt nach dem Coronavirus von entscheidender Bedeutung sein. Das Budget zu kürzen ist eine sinnlose Handlung."

 

Auch die deutschen Forschungsspitzen verfolgen das Brüsseler Tauziehen mit Unbehagen. Darin zeige sich auf andere Weise die "Zersplitterung Europas", bemerkte der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Martin Stratmann: "Das ist das völlig falsche Signal".

 

Die Präsidenten der großen deutschen Forschungsorganisationen hatten sich in einer gemeinsamen Erklärung positioniert, um den EU-Parlamentariern in ihren Budgetverhandlungen mit dem Rat den Rücken zu särkern. Der Chef der Fraunhofer-Gesellschaft, Reimund Neugebauer, wünschte sich noch einen anderen Beistand: "In dieser Lage bräuchten wir eine starke EU-Forschungskommissarin". Eine indirekte Kritik an der Bulgarin Marya Gabriel, die in ihrem Ressort auch noch die Themen Jugend, Schule und Kultur zu bewältigen hat. Der Amtszuschnitt der deutschen Kollegin aus dem Hause Bildung und Forschung ist schlanker.

 

Ins eigene Knie geschossen 

 

Die deutsche Hochschulrektorenkonferenz formulierte eine besonders trickreiche Protestnote, nämlich zusammen mit den Hochschulverbänden aus den Niederlanden und Österreich – zwei Länder aus der unheiligen Allianz der "sparsamen Vier". Zu Hause schwant es denen allmählich, sich einen schmerzlichen Schuss ins eigene Knie geleistet zu haben. In Den Haag forderte das niederländische Parlament bereits die Regierung Rutte auf, die Forschungs-Beschneidung in Brüssel rückgängig zu machen. Die Parlamentarier hatten ausgerechnet, dass die Niederlande künftig eine Milliarde Euro weniger aus der EU-Kasse für seine nationale Wissenschaft bekommen. Projekte werden gestrichen, Forscher verlassen das Land, so die Warnung. In Österreich, Dänemark und Schweden wird es ähnlich aussehen. So sehen Pyrrhus-Sieger aus.

 

Vor der Finanz-Krise steht die Kommunikations-Krise. Von Anfang an haben die für Forschung zuständigen Politikerinnen – Mariya Gabriel als EU-Kommissarin und BMBF-Chefin Anja Karliczek als amtierende Präsidentin des Rates der EU-Forschungsminister – keine Hand gerührt, entweder das Juli-Paket aufzuschnüren oder nach Umweg-Lösungen zu suchen, um die Lage der Forschung zu bessern. Karliczeks erste Auftritte vor den EU-Parlamentsauschüssen für Forschung und Bildung im September waren von Intrasigenz gekennzeichnet: Die Vereinbarung der Regierungschefs sei gültig, so die Ministern, und zudem sei es wichtig dafür zu sorgen, dass am 1. Januar Forschungsgeld bereitsteht, auch wenn es weniger ist.

 

Diese einseitige Haltung zur Verteidigung der Kürzungen passt wenig zu der Aufbruchstimmung, die die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2020 auch in der Wissenschaftspolitik einkehren lassen wollte. Es lief auch einiges schief: Das erste BMBF-Konzept zur Ratspräsidentschaftch Ende 2019 war noch voll auf eine Nachhaltigkeits-Agenda ausgerichtet, um den Green Deal von der Leyens zu flankieren. Und musste dann im März unter Corona-Bedingungen komplett umgeschrieben werden. Kaum in Kraft, fuhr der Ratsgipfel im Juli den schönen Plänen von den blühenden Landschaften eines "europäischen Forschungsraumes" in die Parade, weil die Finanzierungsgrundlage verweigert wurde.

 

"Das ging ja alles sehr schnell."

 

Seitdem ist die Kommunikation über die Zukunft der europäischen Forschung in zwei Lager gespalten: Regierungsamtlich wird die Forschungskrise weggelächelt und die Symbolpolitik verstärkt: "Alles ist gut" und "Was für ein Problem?" Die Europäischen Forschungs- und Innovationstage im September wie auch die letzten Meetings der Wissenschaftsminister legten dafür Beispiel ab. Die Ministerrunde, die den "Haircut" - die Minderausgabe für die Forschung – förmlich beschloss, unterließ Ende September jede Diskussion über die Auswirkungen des Einschnitts. Ratsvorsitzende Karliczek wunderte sich am Ende der Konferenz: "Das ging ja alles sehr schnell".

 

Dagegen wird im Maschinenraum der Politikgestaltung geackert bis zum Umfallen. Sieben "Trilog"-Runden haben die Emissäre von Parlament, Rat und Kommission schon hinter sich gebracht, um einen Haushalts-Deal zustande zu bringen. Ergebnislos. Die Fronten wurden ein ums andere Mal verhärteter.

 

Einer der Wortführer für eine ambitionierte Forschungspolitik ist der Brandenburger CDU-Europaabgeordnete Christian Ehler. "Angesichts der Tatsache, dass Europa immer noch von einer der schlimmsten Gesundheits- und Wirtschaftskrisen betroffen ist, die es je erlebt hat, sollte man meinen, dass die EU-Minister mehr Geld für Forschung und Innovation bereitstellen würden. Aber nein, sie tun genau das Gegenteil", sagt Ehler, der von Parlamentsseite für den Etatposten "Horizon Europe" zuständig ist. Der "Mangel an Ehrgeiz und Weitsicht, den die EU-Forschungsminister an den Tag legten", macht ihn fassungslos. Mit durchschnittlich zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukt, die in Europa für Forschung und Innovation ausgegeben werden, zementiere der Rat den Rückstand Europas gegenüber seinen Konkurrenten in China und den USA, die mindestens drei Prozent investieren. "Vor diesem Hintergrund ist das EP nicht zu Kompromissen bereit, wenn man die katastrophalen Folgen für Innovation und Wachstum bedenkt", stellt Ehler klar. Und an seine Parteifreunde in der deutschen Regierung sind diese Worte gerichtet: "Es bleibt nur zu hoffen, dass die deutsche Ratspräsidentschaft unter dem Vorsitz von Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht damit in die Geschichte eingehen will, dass sie durch die drastische Kürzung der Mittel für Forschung Europa als Innovationsstandort am Beginn eines digitalen Jahrhunderts um Jahre zurückgeworfen hat".

 

Die europäische Forschungskrise steht vor der Tür

 

Wie kann eine Kompromisslösung aussehen? Als unwahrscheinlich gilt unter Experten, dass das Juli-Paket der Regierungschefs wieder aufgeschnürt wird. Zu hart war dieser Kompromiss unter anderem beim heißen Eisen "Rechtsstaatlichkeit" erkämpft worden. Diskutiert wird derzeit darüber, im mittelfristigen Finanzrahmen der EU-Kommission Umschichtungen vorzunehmen. So könnten Gelder aus den EU-Regionalfonds für Wissenschaftszwecke umgewidmet werden. In der Vergangenheit war dies auf Antrag in Einzelfällen möglich. So hat etwa das Bundesland Brandenburg eine Reihe seiner Hochschulbauten aus Mitteln des EFRE-Fonds (Europäischer Fonds für Regionale Entwicklung) finanziert. Ob ein solcher Etat-"Verschiebebahnhof" genügend Masse einbringt, um die "Horizon"-Reduktion um ein Fünftel zu kompensieren, wird sich in den Detailverhandlungen zeigen.

 

Eine andere Variante der Debatte sieht die Lösung darin, dass – nachdem die vorhandenen Mittel gedeckelt sind – die Einnahmeseite verbessert werden könnte, indem sich die EU eigene Finanzquellen erschlösse, etwa durch die seit Jahren diskutierte Finanztransaktionssteuer. Dieser Weg ist allerdings nur langfristig gangbar und verspricht keine handfesten Erfolge in den nächsten Wochen.

 

Die europäische Forschungskrise steht vor der Tür. Aber ihr kann der Zutritt noch verwehrt werden. Für intelligente und kompromissfähige Lösungen ist es höchste Zeit. Nach den "sparsamen Vier" müsste jetzt ein Staatenbündnis der "Forschungsfreundlichen Fünf" (andere Zahl einsetzen) auf den Plan treten. Deutschland wird aber nach Lage der Dinge nicht dazu gehören.

 

Manfred Ronzheimer ist Journalist für Wissenschaft und Innovation in Berlin.


#RescueHorizonEurope

Es ist eine ungewöhnliche Aktion, und womöglich macht sie gerade das so erfolgreich: Zwei junge Wissenschaftlerinnen mit europäischen Forschungsstipendien haben einen Offenen Brief an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geschrieben und vor den angekündigten Kürzungen bei "Horizon Europe" gewarnt. Seitdem sie ihren Brief auf Twitter veröffentlicht haben, sammeln sich unter dem Hashtag "#RescueHorizonEurope" die Statements von Wissenschaftlern aus ganz Europa, dazu unter anderem von Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Auch sechs Nobelpreisträger haben sich bereits der Aktion angeschlossen, darunter der deutsche Biophysiker Erwin Neher.

 

Sie verdankten der Europäischen Union viel, dank Stipendien von Erasmus und Marie Curie hätten sie beide an herausragenden akademischen Institutionen ausgebildet werden können und wollten ihre Fähigkeiten nun in den Dienst der Forschung in Europa stellen, schreiben Antonia Weberling und Nathalie Conrad, die zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen bzw. zur frühen Embryonalentwicklung forschen. Doch durch die Corona-Krise seien ihre Projekte um Monate verzögert worden. Wie ihnen sei es tausenden von Forschern ergangen, gerade jetzt brauche gerade die nicht Covid-19-bezogene Forschung die höchstmögliche Unterstützung. Doch: "The Horizon 2020 funding was already slim with many excellent proposals being turned down, and cutting the Horizon Europe Budget will make the situation more and more competitive. Such an environment cannot nurture the Scientific excellence required to uncover the breakthroughs of the future."

 

Die Initiatoren Antonia Weberling, die an der Universität Cambridge promoviert, hatte schon im Juli mit einem Offenen Brief an Kommissionschefin Ursula für Aufsehen gesorgt hatte. Darin hatte sie gewarnt, dass vielen Doktoranden in ganz Europa wegen der Corona-Krise der Abbruch ihrer Promotion drohe. (JMW)


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Kommentare: 3
  • #1

    Dieter Bampf (Dienstag, 03 November 2020 11:38)

    Vielen Dank für diese schnörkellose Einschätzung, die man wirklich verstehen kann. Schade ist freilich, daß bei der
    amtierenden Rats-Präsidentschaft kaum Aussicht auf eine
    konstruktive Politik auf diesem Gebiet besteht. Das klappt
    ja leider schon bei den landesinternen Feldern nicht gut.

  • #2

    Hub Nijssen (Mittwoch, 04 November 2020 09:29)

    Die neuliche Abstimmung über die Agrarsubventionen macht ja klar, dass die alternative Landwirtschaft, die Green ist, kaum Geld bekommt und der Naturschutz auch nicht. Der Green Deal ist damit eigentlich auch schon exit. Daher darf man kaum glauben, dass mehr Geld in die Forschung fließen wird. Zu wünschen wär es...

  • #3

    Liberaler (Mittwoch, 04 November 2020 18:15)

    "Die europäische Forschungskrise steht vor der Tür."

    Werter Herr Ronzheimer, Sie sind Berliner. Ich bin es auch. Deshalb meine Frage im lokalen Idiolekt: Ham Se't nich ne Nummer kleener?

    Was mich vor allem stört, ist dass immer nur auf Inputgrößen geschaut wird. Es kommt aber doch auf den Output an!