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Weil es nicht um Schönheitspreise geht

Die Bildungspolitik ist so agil wie der Rest unserer Gesellschaft: nämlich gar nicht. Wenn wir dies anerkennen, können wir uns endlich über Schlussfolgerungen aus der Corona-Bildungsmisere unterhalten. Ein Kommentar.

ALLES WIE ERWARTET: In vielen Bundesländern endeten bereits heute die Weihnachtsferien, und in mehreren Bundesländern gingen erneut die Online-Plattformen in die Knie. Die Empörung darüber folgte ebenso zuverlässig wie die kopfschüttelnden Kommentare: Wenn man es doch habe kommen sehen, warum sei es dann nicht zu verhindern gewesen?

 

Ehrlich gesagt langweilen mich diese Debatten inzwischen. Denn die Wahrheit ist ziemlich simpel, ebenfalls keine Überraschung und doch brutal, wenn man sie zu Ende denkt: Unser Bildungssystem ist genau wie viele andere Bereiche unserer Gesellschaft und der öffentlichen Verwaltung (man denke nur an die Corona-Meldemoral der Gesundheitsämter oder die Impfterminvergabe) schlicht nicht agil.

 

Das hat eher mit kulturelle denn mit finanzielle Gründen zu tun: mit Traditionen, liebgewonnenen Abläufen, dem Widerstand gegen Veränderungen. Die Schulen, die Schulverwaltung und die Bildungspolitik sind da nichts Besonderes, sondern – wie eigentlich fast immer – ziemlich typisch für den Zustand unserer Gesellschaft. Damit ist nichts über die rühmlichen Ausnahmen gesagt, all die Schulen und Lehrkräfte, die Behördenmitarbeiter und, ja, auch die Bildungspolitiker, die trotzdem "einfach machen" – und dadurch an vielen Stellen unheimlich viel aus der Situation herausholen.

 

Die Innovationsschwäche unserer Gesellschaft
zeigt sich auch  auch in ihrem Handling der Schulen

 

Nur ändert eben selbst das nichts Grundsätzliches an "der Situation". Oder man könnte auch sagen: an der ausgeprägten Innovationsschwäche unserer Gesellschaft, die sich nicht nur, aber eben auch in ihrem Handling der Bildungseinrichtungen zeigt.

 

Weshalb es meines Erachtens (auch ohne Anschauen der gravierenden sozialpolitischen Folgen geschlossener Kitas und Schulen) schon aus Gründen der Bildungsgerechtigkeit richtig war und nüchtern betrachtet sogar die einzig richtige Schlussfolgerung, das Offenhalten bzw. die schnelle Wiedereröffnung der Bildungseinrichtungen vor allem für jüngere Kinder zu DER Priorität in der Pandemie zu erklären. Für die sich andere gesellschaftliche Bereiche, wenn nötig, umso länger einschränken müssen.

 

Alternativ könnte man natürlich beim Thema Digitalisierung und Distanzunterricht fordern (und dafür viel Beifall bekommen): Schulen, Schulverwaltung, Bildungspolitik, nun springt doch mal! Man könnte sagen: Das hätte man doch alles seit Frühjahr regeln können. Viele sagen,  siehe oben, ja auch genau das. Man könnte dann allerdings genauso gut und mit kurzfristig ähnlichen Erfolgsaussichten fordern: Deutschland, sei doch mal ein anderes Land, als du bist. Und zwar ein bisschen plötzlich. 

 

Ganz ähnlich ist das mit der Diskussion über die Kultusminister und dass diese im Angesicht der absehbaren Lockdown-Fortsetzung absehbar (mal wieder!) kein wirklich einheitliches Vorgehen angekündigt haben. Wann soll es denn jetzt konkret weitergehen mit Präsenzunterricht, und in welchem Umfang? Hatten die Kultusminister nicht die ganzen Weihnachtsferien Zeit, sich darum Gedanken zu machen? Warum tagten sie erst heute? Chaos! Durcheinander. Planlosigkeit. 

 

Wie sollte denn das geforderte einheitliche
Vorgehen in der Bildungspolitik aussehen?

 

In der Tat wäre es besser gewesen, wenn die Kultusminister sich Mitte Dezember stärker auf eine gemeinsame Linie verständigt und diese auch per Beschluss nach außen getragen hätten. Das kann man beklagen. Ich habe es getan. Und doch muss man jetzt ernsthaft fragen: Wie sollte denn angesichts der aktuell so unterschiedlichen Corona-Inzidenzen in den Bundesländern ein einheitliches Vorgehen derzeit überhaupt aussehen?

 

Wenn man so will, besteht das einheitliche Vorgehen der Jugend- und Kultuspolitik längst in dem für ihre Verhältnisse vehement vorgetragenen Bekenntnis, den derzeitigen Lockdown, solange er sein muss, mitzutragen. Sogar Niedersachens Kultusminster Grant Hendrik Tonne, der die Komplett-Öffnung der Grundschulen für den 11. Januar bereits im Dezember verkündet hatte, ist heute darauf eingeschwenkt und will warten. Das (weitgehend) einheitliche Vorgehen besteht darin, dass die Kitas in vielen Bundesländern (nicht überall!) anders als im Frühjahr eben nicht erneut bis auf einen Notbetrieb geschlossen wurden. Und es besteht in der von allen Kultusministern geteilten Forderung, dass dann aber auch die Lockerungen des Lockdowns, wann auch immer sie kommen, mit den Schulen beginnen müssen.

 

Woraus nun aber zwangsläufig uneinheitliche Schlussfolgerungen gezogen werden müssen, wenn in Ländern wie Niedersachsen oder Schleswig-Holstein die 7-Tages-Inzidenzen bei einem Viertel des Wertes von Sachsen liegen. Beides wird nicht gehen: von der Politik eine graduelle Öffnung der Bildungseinrichtungen nur in Abhängigkeit der Inzidenzen zu fordern, zugleich aber dann mangelnden Gleichschritt zu beklagen. Und ganz sicher wird es nicht klappen, Regionen mit relativ gesehen niedrigerer Inzidenz Lockerungen bei den Bildungseinrichtungen zu verweigern – wenn diese doch die so hochgehängte Priorität genießen sollen. 

 

In einem Land, das insgesamt so wenig agil ist wie Deutschland, in dem auch die föderale Bildungspolitik erst recht keine rühmliche Ausnahme davon ist, ist es besser, sich realistische bildungspolitische Ziele zu setzen. Auch in der nächsten Phase der Pandemie. Das heißt: so viel Präsenzunterricht für die Jüngeren, wie angesichts der Infektionsentwicklung nur irgendwie möglich. Wenn Distanzunterricht, dann vor allem für die Älteren – und auch dort nur verbunden mit dem Eingeständnis, dass der normale Lehrplan dann nicht zu halten sein wird. Was wiederum entsprechende Rückwirkungen auf anstehende Prüfungsinhalte haben muss (ein Thema, das die Kultusminister öffentlich noch nicht so recht ansprechen mögen).

 

Einen Schönheitspreis mag es für die bundeseinheitlichste Lösung geben. Oder auch für die emphatischsten Digitalisierungsreden. Nur haben die meisten Kinder und Jugendlichen davon am wenigsten.  

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Kommentare: 2
  • #1

    Steffen Prowe (Montag, 04 Januar 2021 15:05)

    Danke für die "Agilität". Darin steckt die einzige (?!) Option, dieses Land aus dem Corona-Schlamassel positiv herauszubringen. Unter radikalem Abschneiden alter Zöpfe. Was aber bedeutet, dass wir alle in der Bildung tätige Personen den Mut haben müssen, einfach neu zu denken und zu handeln. Gerade das ist aber die Herausforderung. Und immens schwierig, wenn man neben begrenzten Ressourcen (eigene WoManpower, IT-Infrasturktur, mangelnde Digitalisierung überall) auch noch GEGEN andere eigentlich Mitstreiter arbeiten muss. Gerade dort wäre es aber für die Bildungs-Politiker*innen (positive Ausnahmen die ostdeutschen Wissenschaftsministerinnen Bettina Martin und Manja Schüle --> https://www.jmwiarda.de/2020/11/24/viel-platz-für-neue-ideen/ ) angebracht und gut durchsetzbar, von Lehrplänen/Prüfungsformaten/Vorgaben abweichen zu lassen, um die für Bildung essenziellen Kernkompetenzen der Lernenden deutlicher zu verstärken. Durch freiere Formate, durch Selbst-Befähigung, durch Gruppenarbeiten u.v.a. Optionen, die je nach IT auch realisierbar sind. Und eben auch je nach Bundesland und Inzidenzwert gestaltbar sind. Nur müsste man dann, ich wiederhole mich, von den "normalen" Vorgaben der Zielerreichung weg hin zu weicheren Zielen, die aber sicherlich zu einem positiveren und weniger lern-diskriminierenden (gemeinsamen?) Lernerfolg führen könnten.
    Einfach gesagt: " es ist wie es ist" und mit dem was geht machen was möglich ist. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Tut Legenden als auch Lehrenden ggf auch mal gut, nicht noch mehr Druck zu verspüren.

  • #2

    Scholz-Kluge, Mona (Montag, 04 Januar 2021 15:54)

    Vielen Dank für Ihre Überlegungen. Ich bin selbst Lehrerin und Mutter von fünf Kindern. Sie sprechen mir aus dem Herzen. Es fehlt an Menschen, die Verantwortung übernehmen. Das gilt im Kleinen wie im Großen. Das Herauslavieren der Entscheidungsträger ist das Eine, deshalb sollten wir an den Schulen immer wieder sein Selbstverständnis überprüfen. Wie können wir in der Schule unseren Gestaltungsspielraum nutzen? Ich sag immer: soll die Verwaltung erstmal kommen und sagen wie es besser gehen kann! Wir haben unseren eigenen Kopf zum DENKEN.