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Könnte es so gehen?

Schleswig-Holstein legt einen Corona-Stufenplan für alle gesellschaftlichen Bereiche vor. Eine besondere Rolle darin spielen Kitas und Schulen. Der Ministerpräsident sieht das Konzept auch als ein Diskussionsangebot an den Rest der Republik.

BADEN-WÜRTTEMBERGS Landesregierung hat eine Pressekonferenz zu der für Anfang Februar geplanten Öffnung von Kitas und Grundschulen kurzfristig abgesagt. Der Grund: In einer Freiburger Kindertagesstätte wurde in zwei Fällen das Auftreten einer Corona-Mutation festgestellt. Insgesamt seien 21 Infektionen registriert worden und würden jetzt ebenfalls überprüft, berichtet der SWR  mit Berufung auf den Sprecher der Landesregierung, Rudi Hoogvliet. "Wir müssen die Untersuchung und das Ergebnis abwarten und können dann erst eine Entscheidung über das weitere Verfahren in Sachen möglicher Öffnung von Grundschulen und Kitas treffen", sagte Hoogvliet.

 

Damit wird eine Öffnung der baden-württembergischen Bildungseinrichtungen unabhängig von den konkreten Corona-Inzidenzen unwahrscheinlicher. Niedersachen dagegen hatte Grundschüler und Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf und die Abschlussjahrgänge bereits am 18. Januar wieder im Wechselmodell zurück in die Schulen geholt – vorerst ohne Präsenzpflicht. Einen ähnlichen Weg will auch Rheinland-Pfalz gehen: Dort soll ab 1. Februar für die Kinder der Klassen 1 bis 4 Wechselunterricht angeboten werden, wenn ihre Eltern zustimmen. 

 

Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin hatte vor drei Wochen in seltener Einigkeit mit dem Deutschen Lehrerverband für einen anderen Weg plädiert: für einen bundesweiten Hygienestufenplan, der zusammen mit einem deutlich verbesserten Infektionsschutz Voraussetzung für die Öffnung werden sollte. Lehrerverbands-Präsident Heinz-Peter Meidinger hatte die Forderung im Interview hier im Blog noch erweitert: Ein Stufenplan allein für die Schulen wäre nicht fair, sagte er.  "Darum sollte – und das sage ich jetzt als Bürger und nicht als Lehrerverbandsvorsitzender – parallel zu einem Stufenplan für die Schulen auch ein inzidenzbasierter Stufenplan für andere gesellschaftliche Bereiche, für die Gaststätten, für den Einzelhandel, für die Kultur und für die Büros, beschlossen werden."

 

Bisher gab es nur das schwammige Versprechen,
dass eine "Öffnungsstrategie erarbeitet werden soll"

 

Ein solcher Plan hätte in der Tat viele Vorteile: Er würde Transparenz über das Wann und Wie der unterschiedlichen Öffnungen herstellen, er würde eine Priorisierung von Bildungseinrichtungen ermöglichen und zugleich die immer gleichen Öffnungs- und Schließungsdebatten, verbunden mit dem offenbar dazu gehörenden politischen Aktionismus, durch feste Mechanismen ersetzen. Trotzdem hatten die Regierungschefs von Bund und Ländern bei ihrem letzten Corona-Krisentreffen neben der Verschärfung des Shutdowns nur sehr schwammig die Erarbeitung eines Konzepts "für eine sichere und gerechte Öffnungsstrategie" bis Mitte Februar versprochen. 

 

Schleswig-Holstein ist jetzt in Vorleistung gegangen. Das Kieler Kabinett hat gestern einen Corona-Stufenplan beschlossen, der die Kitas, Schulen, Hochschulen und alle anderen wesentlichen Lebensbereiche umfasst. Einen "Perspektivplan" nennt die Regierung ihren Plan. Verbindlich daran sind nämlich bislang nur die Kita- und Schulregelungen. Bei Kitas und Schulen gelte die Zusage, den Schulen und den Familien "frühzeitig ein hohes Maß an Klarheit" zu geben, sagte Bildungsministerin Karin Prien (CDU) heute im Landtag, "damit sie sich auf das Wesentliche konzentrieren können."



In Bezug auf alle anderen gesellschaftlichen Bereiche versteht die Landesregierung den Gesamtplan dagegen als Diskussionsgrundlage für die Gespräche mit den übrigen Ländern. Schleswig-Holstein wolle keinen Sonderweg gehen, sagte Ministerpräsident Daniel Günther (CDU), er sei aber überzeugt, "dass unser Vorschlag die Blaupause für eine bundesweitere Verständigung sein kann." Er sei auch derjenige gewesen, der überhaupt die Erarbeitung eines Konzepts auf Bundesebene bis zur nächsten Bund-Länder-Runde angeregt habe. 

 

Vier Stufen, Inzidenzwerte

und ein "dynamischer Faktor"

 

Konkret nennt der Stufenplan vier Stufen: Inzidenzen von über 100, zwischen 100 und 50, zwischen 50 und 35 und unter 35. Doch sollen die Inzidenzen – die im Bundesland registrierten Corona-Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in den vergangenen Tagen – nicht starr gelten, sondern ergänzt werden um einen "dynamischen Faktor", der, wie es in dem Plan heißt, "u.a. die Auslastung der Intensivbettenkapazitäten (ohne Reserve), den 7-Tage-R-Wert, perspektivisch die Impfquote sowie weitere epidemiologische Aspekte, wie z.B. das Auftreten der Mutationen, sowie die Situation des Öffentlichen Gesundheitsdienstes" umfasse.

 

Auch muss der jeweilige Inzidenzwert erst mindestens sieben Tage, je nach Maßnahme auch länger, unterschritten sein, bevor Lockerungen kommen. Und umgekehrt gilt: Steigen die Inzidenzen wieder und liegen mindestens sieben Tage mindestens 25 Prozent über dem nächsthöheren Grenzwert, gehen auch die Schließungen auf dieser höheren Stufe zurück. 

 

Wie sich die Schulen, Kitas und Hochschulen einordnen?

 

Die Klassen 1 bis 6  sollen, sobald die Inzidenz mindestens sieben Tage lang unter 100 liegt und der "dynamische Faktor" (= Ermessen der Politik) es zulassen, im Wechselbetrieb öffnen, Kitas im eingeschränkten Regelbetrieb. Nach drei Wochen unter 100 ginge es für die Kitas in den Regelbetrieb, für die Klassen 1 bis 6 in den täglichen Präsenzbetrieb. An den weiterführenden Schulen gibt es dann Präsenzangebote nur für die Abschlussklassen, und Prüfungen könnten in Präsenz stattfinden, Analoges soll dann für die Berufsschulen gelten.

 

Sinkt die landesweite Inzidenz unter 50, besagt der Plan wiederum unter dem Vorbehalt des "dynamischen Faktors": Nach sieben Tagen gehen die weiterführenden Schulen ab Klasse 7 und die Berufsschulen in den Wechselunterricht, nach drei Wochen in den täglichen Vollbetrieb. 

 

Liegt die Inzidenz im Bundesland sieben Tage unter 35 und hält die Politik es auch ansonsten für vertretbar, gilt dem Plan zufolge für alle Schulformen und Jahrgänge voller Präsenzunterricht. In Sachen Maskenpflicht wird jeweils auf die bisherigen bereits inzidenzabhängigen Regelungen verwiesen.

 

Auch die Hochschulen erhalten

eine Öffnungsperspektive

 

Spannend ist, dass inmitten der Debatte über ein weiteres digitales Hochschulsemester die Kieler Landesregierung auch für die Hochschulen Stufen hin zu mehr Präsenz vorsieht. Bei sieben Tagen Inzidenz unter 50 (unter dem üblichen Vorbehalt des "dynamischen Faktors") wären demzufolge praktische Lehrveranstaltungen wieder zulässig, ebenso Präsenzprüfungen unter Hygieneauflagen und bis zu einer begrenzten Teilnehmerzahl. Sinkt die Inzidenz mindestens sieben Tage unter 35, wären Präsenzlehr- und Erstsemesterveranstaltungen in Kohorten wieder erlaubt, auch die Bibliotheken könnten unter Hygieneauflagen öffnen.

 

Was, solange die Inzidenzen wie derzeit weiter sinken, zumindest in einigen Bundesländern ein Sommersemester in Teilpräsenz ermöglichen würde. Zugleich hätten erstmals auch die Millionen Studierenden wieder eine konkrete Öffnungsperspektive. Allerdings: Anders als bei Kitas und Schulen ist auch dieser Teil des schleswig-holsteinischen Stufenplans – siehe oben – noch offen für die Bund-Länder-Verhandlungen im Februar. 

 

Und sonst? Spiegelt der Stufenplan in seiner (vorläufigen) Einordnung der anderen gesellschaftlichen Bereiche wirklich die versprochene Priorisierung der Bildung wieder? Vorrang bei allen Entscheidungen müssten die Bereiche Kinderbetreuung und Schule haben, versicherte zumindest Ministerpräsident Günther gestern noch einmal. Aber hält der Plan das in seiner Gesamtschau wirklich?

 

Größtenteils lautet die Antwort: ja. Gefolge von einem großen Aber. Das Aber liegt zum einen an einer – für viele Eltern vermutlich schwer zu akzeptierenden – Ausnahme: Während die weiterführenden Schulklassen bei einer Inzidenz zwischen 100 und 50 noch weitgehend zubleiben sollen, Jugendtreffs ebenso, dürften dem Plan zufolge die Friseure (= "die elementare Körperpflege") schon wieder öffnen. Im Hintergrund heißt es aus Regierungskreisen, zu diesem Schritt hätten Psychologen dem Kabinett einhellig geraten. Auch dass Einzelhandel oder Gastronomie zwei bereits zwei Wochen eher (eingeschränkt) öffnen dürften, bevor die weiterführenden Klassen in den Regelunterricht starten, wird nur schwer vermittelbar sein. 

 

Und was ist mit den Restaurants

und dem Einzelhandel?

 

Denn Läden und Restaurants könnten dem Plan zufolge schon nach sieben Tagen Inzidenz unter 50 mit starken Auflagen (strenge Personenzahlbegrenzung, Restaurants nur von 5 bis 22 Uhr) wieder aufmachen, ebenso andere, nicht elementare "körpernahe Dienstleistungen". Nach 21 Tagen, wenn die weiterführenden Schulen zum vollen Präsenzbetrieb wechseln dürften, entfiele in den Restaurants die Aufhebung der Gästebegrenzung, solange die Abstandsregeln gewahrt bleiben.

 

Nach sieben Tagen Inzidenz von unter 35 dürften Restaurants auch nach 22 Uhr wieder öffnen, nach drei Wochen unter 35 auch Bars und Kneipen – allerdings nur mit festen Sitzplätzen. Für Museen, Theater, Archive, Bibliotheken, den Breitensport, Hotels und andere Bereiche gibt es in dem Plan ähnliche abgestufte Regelungen, Diskotheken würden dagegen bis auf Weiteres geschlossen bleiben. 

 

Auch wenn man über einzelne Inzidenzhöhen und Reihenfolgen sicher streiten wird und ebenso über die Frage, ob die Kieler Regierung Bildungseinrichtungen genügend und durchgehend priorisiert: Könnte es vom Grundsatz her so gehen, wie Schleswig-Holstein es vorschlägt und für Bildungseinrichtungen bereits ganz konkret plant? Gut in jedem Fall, dass zumindest die Kitas und Grundschulen wirklich und eindeutig bevorzugt behandelt werden. 

 

Bildungsministerin Prien sagte heute im Landtag: "Zur Ehrlichkeit, die wir schuldig sind, gehört aber auch zu sagen: Sollte sich das Pandemiegeschehen hingegen deutlich verschärfen und damit die Inzidenz über 100 liegen, würde das die Öffnung der Grundschulen für den Wechsel- oder Präsenzunterricht verzögern." 

 

Doch die Perspektive wäre auch in dem Fall da. Ein Stück mehr Transparenz und etwas weniger Ohnmacht. Für Schüler, Eltern, Lehrkräfte – aber, wenn der Rest des Plans so oder ähnlich käme, genauso auch für Geschäftsleute und Restaurantbesitzer. 




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