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Relative Inzidenz bei Kindern und Jugendlichen stürzt ab – und Berlin schließt die Kitas

Diesmal wirkt der Test-Effekt offenbar in die andere Richtung. Die Folge: Solange das RKI keine regelmäßigen repräsentativen Samples vorlegt, bleibt die Datenqualität mies – und die Debatten über Kitas und Schulen laufen weiter schräg.

ES WAR ERWARTBAR, es ist nur ein Zwischenstand, und doch ist schon der beeindruckend. Nachdem das enorme Test-Plus bei Kindern und Jugendlichen deren Corona-Meldezahlen seit Mitte Februar extrem nach oben getrieben hatte, stürzen die relativen Inzidenzen bei den Unter-15-Jährigen derzeit regelrecht ab. Warum? Weil wegen der Osterferien in vielen Bundesländern die Tests vermutlich zuvor dasselbe getan haben. Sicher werden wir dies wie immer nur mit großem Zeitverzug erfahren – am nächsten Mittwoch.

 

Konkret: Die vergangenen beiden Tage meldete das Robert-Koch-Institut (RKI) im Wochenvergleich sogar reale Rückgänge bei den registrierten Neuinfektionen unter Kindern und Jugendlichen – und das mitten in der dritten Welle. Erst recht nach unten gehen die relativen Inzidenzen, also der Anteil der 0- bis 14-Jährigen an allen neuen Meldefällen. Vergangene Woche kamen die Kinder und Jugendlichen auf 14,97 Prozent aller gemeldeten Neuinfektionen, diese Woche sind es bislang 12,80 Prozent – also satte zwei Prozentpunkte weniger und so wenig wie seit vier Wochen nicht mehr. 

 

Das kann und wird sich noch ändern, zumal im Wochenverlauf die Nachmeldungen bei Kindern und Jugendlichen erfahrungsgemäß verhältnismäßig hoch liegen. Und doch ist die Schlussfolgerung eindeutig: Die RKI-Zahlen waren und sind – zumindest auf Kinder und Jugendliche – auf kurze Frist wenig wert.

 

Zu stark sind sie verzerrt durch das Auf und Ab der Tests, und das geht schon seit den Schließungen zu Weihnachten so. Mit der Folge, dass es zu mehreren aus der Altersgruppe dramatischen Fehlschlüssen in der öffentlichen Debatte kam.

 

Der erste: Als die Testhäufigkeiten zu Beginn der Schulschließungen Ende Dezember abstürzten, fielen auch die offiziellen Neuinfektionen sehr stark. Was viele als Beweis für den neuesten Beweis hielten, dass Schulen Infektionsherde seien. Sogar das RKI veröffentlichte erst vorgestern wieder eine Grafik, die den Schluss nahelegen sollte, dass die Schließung von Kitas und Schulen die Zahlen kräftig heruntergebracht habe. Wenn man sich diese genau anschaut, stellt man indes fest, dass die Rückgänge der Meldezahlen schon VOR den Schließungen begannen, und zwar bei noch höheren Testzahlen. Und als die Testzahlen NACH den Schließungen auf ein Drittel sanken, fielen die gemeldeten Neuinfektionen umso stärker. Und noch dazu so schnell, dass sich darin noch gar nicht das ausgefallene Infektionsgeschehen an den Schulen hätte abbilden können. 

 

Der zweite Fehlschluss: Als Mitte Februar Kitas und Schulen allmählich wieder öffneten, hoben die Testzahlen ab – was gut war, weil nur mehr Testen die Corona-Sicherheit in der Gesellschaft vergrößert. Doch machten mit der Erhöhung der Testzahlen auf fast das Vierfache innerhalb von fünf Wochen bei den Kindern und Jugendlichen auch die Zahl der gemeldeten Infektionen einen gewaltigen Sprung nach oben. Während im Rest der Gesellschaft die Testzahlen über den gleichen Zeitraum nahezu stabil blieben und die Zuwachsraten bei den Meldefällen in anderen Altersgruppen entsprechend geringer ausfielen.

 

In der Öffentlichkeit blieb aber nur der Eindruck hängen, den auch das RKI zuletzt am 30. März verbreitete: "Aktuell scheint sich die Rolle von Kindern und Jugendlichen bei der Ausbreitung von SARS-CoV zu ändern." Die Debatte wird zunehmend aufgeregt. Berlins Senat beschloss heute, die Kitas wieder in den Notbetrieb zu versetzen, andere Bundesländer wie Bayern und eventuell Baden-Württemberg sperren die ohnehin nur leidlich offenen Schulen noch stärker zu. Stellt man indes die zusätzlichen Test bei den Unter-15-Jährigen in Rechnung, bleibt von der Corona-"Sonderkonjunktur" in dieser Altersgruppe vermutlich nichts bis wenig übrig. Gut möglich, dass das tatsächliche Fallwachstum sogar unterdurchschnittlich war.

 

Und jetzt der dritte Fehlschluss: Die Osterferien sind da, die Infektionszahlen sinken prompt. Was wiederum NICHTS mit dem weggefallenen Infektionsgeschehen an Kitas und Schulen zu tun haben kann, dafür ist der Zeitverzug viel zu gering. Sondern vermutlich sind es wiederum die Tests. Und die müssen, nachdem sie so extrem gestiegen sind, gerade wieder extrem abfallen, anders ist ein vorübergehend sogar reales Fall-Minus im Wochenvergleich mitten in der dritten Welle kaum zu erklären.

 

Was folgt daraus?

 

Erstens: Die Politik und Teile der Wissenschaft sollten aufhören, so zu tun, als stünde bereits fest, dass die Virusmutation B.1.1.7. sich relativ gesehen stärker unter Kindern und Jugendlichen ausbreitet. Dafür geben die vorhandenen Daten keine Belege her. Ja, es gibt ganz offenbar auch mehr Infektionen bei den Unter-15-Jährigen, wofür auch die zuletzt wieder gestiegenen Positivraten sprechen, aber die Sonderkonjunktur lässt sich auf die Testzahlen zurückführen – was man aktuell am Rückgang der Meldefälle sieht. Der einen wiederum nicht verleiten sollte zu denken, dass gerade irgendwelche Eindämmungsmaßnahmen wirken. Genau das aber werden in einigen Tagen viele vermutlich diskutieren, falls die Zahlen bei den Kindern und Jugendlichen sich weiter stark unterdurchschnittlich entwickeln sollten und dann die Corona-Gesamtstatistik scheinbar mit nach unten ziehen.

 

Zweitens: Es ist allmählich unerträglich, dass die RKI-Meldedaten so schlecht sind, dass sie Tür und Tor öffnen für immer neue politischen Debatten, die vor allem darauf abzielen, Kinder und Jugendliche wegzusperren – während man vor härteren Maßnahmen für Erwachsene (a.k.a. Ausgangssperren, Reiseverbote, eine strikte Home-Office-Quote etc.) vielerorts immer noch zurückschreckt. Paradebeispiel Dortmund: Die Stadtspitze wollte Kitas und Schulen dringend und öffentlichkeitswirksam schließen, beantragte aber gleichzeitig, Modellstadt für Öffnungen im Einzelhandel zu werden. Unerträglich ist auch, dass das RKI seine Daten zu Kindern und Jugendlichen so wenig in den Zusammenhang ihrer eigenen Genese und Qualität stellt.

 

Andere Länder haben längst regelmäßige repräsentative Corona-Samples. Wir haben die durch Testhäufigkeiten und Auswahleffekte verzerrten Meldezahlen, die langfristig das Infektionsgeschehen halbwegs korrekt abbilden, die Ableitung kurzfristiger Trends und kausaler Zusammenhänge aber nicht nur schwierig machen, sondern eigentlich komplett verbieten. Wo sind die Bemühungen des RKI, hier regelmäßig repräsentative Daten zu erheben? Demnächst soll eine einmalige Stichprobe aus dem Herbst/Winter erscheinen – mit schon historischem Wert.

 

Regelmäßige repräsentative Daten sind umso entscheidender, je mehr Schnelltests an Kitas und Schulen eingesetzt werden.nDiese waren dazu gedacht, die Bildungseinrichtungen offenzuhalten. Zuletzt führte ihr Effekt in der öffentlichen Debatte eher zum Gegenteil. Das kann und darf nicht sein.



Jugendärzte: Kein überproportionales Infektionsgeschehen bei Kindern. Münchner Statistiker: Die meisten Infektionen werden vom Arbeitsplatz eingeschleppt.

Die deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) und der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte  (BVKJ) haben heute in einer gemeinsamen Stellungnahme betont: Die Frage, ob Kinder zum jetzigen Zeitpunkt überproportional am COVID19-Infektionsgeschehen beitrügen, könne derzeit "mit einem klaren NEIN beantwortet werden".

 

Bei der Interpretation der stark gestiegenen RKI-Meldezahlen müsse beachtet werden, dass die Testhäufigkeit bei Kindern im Vergleich zu Erwachsenen in diesem Zeitraum erheblich zugenommen hätten. "Die Anzahl mit PCR getesteter Personen liegt bei Erwachsenen seit Jahresbeginn unverändert bei gut 500/100.000; die Anzahl getesteter Kinder unter 14 Jahren hat sich seit der 6. Kalenderwoche von unter 250 auf über 500/100.000 mehr als verdoppelt."

 

Die errechnete 7-Tages-Inzidenz reflektiere jedoch ausschließlich die mit positiven PCR-Tests erfassten Infektionen, also die gemeldeten absoluten Zahlen unabhängig von der Testhäufigkeit. Sehr viel aussagekräftiger als die so errechneten Inzidenzzahlen seien daher die Positivitätsraten im Verhältnis zu den Testzahlen.

 

"Die Positivitätsrate spiegelt den Anteil infizierter Personen in einer Bevölkerungsgruppe wider", heißt es in der Erklärung weiter. "Bei einer überproportionalen Zunahme der Infektionen bei Kindern würde sie daher steigen. Die Positivitätsrate bei den 0- bis 4-Jährigen ist aber im Vergleich der Kalenderwochen 6 und 12 von 6,4 Prozent auf 6,15 Prozent, bei den 5- bis 14-Jährigen von 9,6 Prozent auf 8,9 Prozent abgesunken."

 

Ein überproportionaler Beitrag der Altersgruppe der Kinder zur Pandemieausbreitung bezeichnen die Kinder- und Jugendärzte als "ein nachvollziehbares Argument für Kita-/Schulschließungen – allerdings mit den bekannten Folgen der Einschränkungen zum 

Bildungszugang und Teilhabe der jungen Generation am gesellschaftlichen Dasein und zum Teil erheblichen psychosomatischen und auch psychischen Beeinträchtigungen." Bildungszugang und Teilhabe seien ein sehr hohes Gut und sollten in der Abwägung der Maßnahmen gegen die Pandemieausbreitung hohe Berücksichtigung finden. "Daher müssen die zur Verfügung stehenden Zahlen zum Infektionsgeschehen mit der gebotenen Sorgfalt interpretiert und die richtigen Schlüsse daraus gefolgert werden."

 

Eine ebenfalls heute erschienene Analyse von Statistikern der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) kommt zu dem Ergebnis, dass selbst bei weitester Definition die Ausbrüche in Schulen "eher klein" blieben. Mehr als die Hälfte der Schulausbrüche habe lediglich zwei bis Fälle betroffen. Dies sei sicherlich auch auf die präventiven Quarantänemaßnahmen ganzer Klassenverbände zurückzuführen. "Insgesamt ist das Ausbruchsgeschehen an Schulen damit im Vergleich zu anderen Infektionsumfeldern eher gering."

 

Und in Bezug auf die jüngste Einschätzung des RKI, dass sich die Rolle der Kinder und Jugendlichen auch in Bezug auf die Virusmutatioen verändert habe, heißt es: "Dies ist sicherlich weiter zu beobachten, wobei die uns bis dato vorliegenden Daten noch keine Schlussfolgerung in diese Richtung geben."

 

An anderer Stelle berichten die Statistiker, Corona-Infektionen würden überwiegend vom Arbeitsplatz oder aus anderen Haushalten nach Hause eingeschleppt. Insofern spielten Arbeitsplätze bei der Ausbreitung von Infektionen als ursprünglicher Ausbruchsort die zentrale Rolle, Haushalte spielten hingegen bei den nachgelagerten Infektion die zentrale Rolle. "Vereinfachend gesprochen, ein Großteil der Infektionsketten startet bei der Arbeit und wird im Haushalts-Umfeld gestoppt."




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Kommentare: 2
  • #1

    Lothar Budach (Donnerstag, 01 April 2021 13:56)

    Da gibt es in D'land wirklich einige gute Statistiker. Kann
    man die denn nicht (re)aktivieren den Kindern und Jugendlichen zuliebe?
    Ein ganz anderer Vorschlag in Richtung RKI: Wie wäre
    es, wenn man dem Herrn Dr. Wiarda mal ordentliche
    Honorare für seine umsichtigen Beobachtungen zahlen würde? Zumindest für die Zeit, in der ihm der Gelderwerb
    als unabhängiger Bildungsjournalist nahezu unmöglich
    ist. Eine andere Quelle wäre vielleicht im Ressort der für Wissenschaft und Forschung zuständigen Dame zu finden (wenn man will).

  • #2

    Dr.Konrad Käfer (Freitag, 02 April 2021 19:49)

    Jedem Statistiker dreht sich der Magen um wenn er sieht wofür die Zahlen benutzt werden und noch schlimmer welche Schlüsse daraus gezogen werden .