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"Neue Spielregeln für den Bildungsföderalismus"

Marode Schulen, Digitalisierung im Schneckentempo und überbordende Bürokratie: Dass es mit der deutschen Bildungspolitik nicht so weitergehen kann wie bislang, darin sind sich inzwischen fast alle Parteien einig. Doch was bedeutet das konkret, welche Grundgesetz-Änderung braucht das Land? Der SPD-Bildungsexperte Ernst Dieter Rossmann macht einen Vorschlag – und sagt, warum er trotzdem nichts von Föderalismus-Bashing hält.

Ernst Dieter Rossmann. Foto: Harald Krichel/Wikipedia, CC BY-SA 4.0.

Herr Rossmann, der Bildungsföderalismus ist in der Coronakrise unbeliebt wie nie. Hat er überhaupt noch eine Zukunft?

 

Er hat eine Zukunft. Wir müssen sie aber besser gestalten wollen. Die Coronakrise hat gezeigt, dass wir die Zusammenarbeit von Bund und Ländern dringend ergänzen müssen. Damit die Landesverantwortung für die Bildung erhalten bleibt, aber gestärkt wird durch eine gesamtstaatliche Mitverantwortung. Das Ziel muss sein, dass alle Kinder unabhängig von ihrem Wohnort und ihrer Herkunft dieselben Bildungschancen haben. Und dass es neue Bildungschancen für alle durch ihre gesamte Biographie hindurch gibt.

 

Was bedeutet das konkret?

 

Zentrale Aufgaben in der Gestaltung unseres Bildungswesens gehen über die Grenzen von Bundesländern hinaus, wie wir etwa bei der Digitalisierung sehen. Hier haben Bund und Länder im Zusammenwirken trotz aller großen Anstrengungen Schwächen gezeigt.

 

Schwächen gezeigt: Ist das nicht reichlich euphemistisch? Nehmen Sie allein die Langsamkeit, mit der die Mittel aus dem Digitalpakt in den Schulen ankommen. 

 

Das ist richtig. Es überrascht gleichwohl schon, wer deshalb plötzlich alles die föderative Ordnung zur Disposition stellen und eine "Revolution" ausrufen will, zuletzt sogar der CDU-Bundestagsfraktionsvorsitzende Ralph Brinkhaus. Erst Bremser, und jetzt Avantgarde. Mal sehen, was wirklich an Substanz dahintersteckt. Wenn man in die Vergangenheit schaut, sieht man jedenfalls, dass sich Strukturen und Zuständigkeiten in einer Demokratie nur kooperativ und niemals abrupt oder gar revolutionär verändern lassen. Ich halte nichts davon, sich jetzt in ein Bildungsföderalismus-Bashing hineinzusteigern. Deshalb habe ich mich als Bundespolitiker auch bewusst mit dem verantwortlichen Landespolitiker meiner Partei zusammengesetzt, um eine gemeinsame Initiative zu starten. Der Landespolitiker ist Martin Habersaat, bildungspolitischer Sprecher und stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion im Landtag von Schleswig-Holstein.

 

"Die Bundesländer waren nicht sozial sensibel genug,  
und der Bund hat sich
erpressen lassen."

 

Und wie lautet Ihre gemeinsame Analyse?

 

Nüchtern betrachtet müssen wir feststellen, dass bestimmte Corona-Bildungshilfen vom Bund in die Länder und in die Kommunen nur mit Verrenkungen zu leisten waren, und diese Verrenkungen könnten wir uns sparen, wenn Bund, Länder und Kommunen ihre gemeinsame Verantwortung auf der Grundlage neuer Spielregeln wahrnehmen könnten – abgestimmt und zielgerichtet. 

 

Die Realität sieht so aus, dass der Bund über den Königsteiner Schlüssel, also per Gießkanne, 500 Millionen für Schüler-Laptops in die Länder gegeben hat – unabhängig vom sehr unterschiedlichen Anteil armer Kinder in Bremen, Baden-Württemberg, Berlin oder Bayern. 

 

An der Stelle müssen sich die Bundesländer schlicht vorwerfen lassen, nicht sozial sensibel genug gewesen zu sein. Und der Bund hat sich unter Zeitdruck dann erpressen lassen. Die Länder und der Bund hätten das Geld ohne Weiteres nach der Zahl der Kinder-Bedarfsgemeinschaften und damit deutlich gerechter verteilen können. Das war kein verfassungsrechtliches Problem, sondern ein rein politisches Desaster. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat 


Ernst Dieter Rossmann, 70, ist Psychologe, SPD-Bundestagsabgeordneter und seit 2018 Vorsitzender des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Dies ist seine letzte Legislaturperiode: Nach 23 Jahren im Bundestag wird er nicht erneut kandidieren. Foto: DBT/Werner Schüring.


jedoch, wie ich finde, sehr feinsinnig herausgearbeitet, dass sich die rechtlichen Hürden ganz woanders stellen. So dürften wir nach dessen Expertise mit Bezug auf den Grundgesetz-Artikel 104 zwar befristet die Nachhilfe im Bereich des digitalen Lernens fördern. Doch bei allem, was nicht digital ist, sind wir bei gezielten schulischen Fördermaßnahmen, die über die Bildungsforschung hinausgehen, als Bund raus. Da fragen wir uns: Ergibt das Sinn? Die Schulschließungen lassen die Bildungsschere auf lange Zeit gefährlich weiter aufgehen. Sehr viele Kinder und Jugendliche brauchen


gemeinsam eine bessere Unterstützung, gegen Schulabbruch und gegen Bildungsarmut. Und der Bund darf wirklich nur befristet und sehr restriktiv helfen oder kann nur ganz allgemein Mehrwertsteueranteile an die Länder rüberschieben? Das ist zwar mehr als nichts, aber nicht zielführend genug. 

 

Wo sollte der Bund denn auf Dauer einsteigen?

 

Anstatt nur Mehrwertsteueranteile in die Länder zu geben, die dann in der Bildung ankommen oder nicht, wäre es besser, über das corona–bedingte befristete Nachhilfe-Paket hinaus zum Beispiel dauerhaft Chancenhelfer und mehr Schulsozialarbeiter in die Schulen zu bringen. Die Digitalisierungslücke bei Corona hat sehr deutlich gezeigt: Wir haben einen sehr großen Bedarf an kontinuierlicher Lehrerweiterbildung. Aktuell wird im Rahmen der Digitalisierungsstrategie über die entsprechenden Kompetenznetzwerke und Weiterbildungszentren für die mehr als eine Million Lehrkräfte in Deutschland verhandelt. Das ist doch eine Riesenaufgabe, die nicht mit Kleingeld aus der Portokasse zu wuppen ist. Auch beim Lehramtsstudium sollte der Bund über den schon bestehenden Grundgesetz-Artikel 91b neue Qualitäten und notwendige Quantitäten über befristete Programme hinaus nachhaltig fördern können. Der Lehrernachwuchs ist absehbar ein Schlüsselthema für die Zukunft. 

 

"Wir brauchen einen Ordnungsrahmen
für ein kooperatives Miteinander in der Bildungspolitik."

 

Lässt das die Rechtslage des Grundgesetzes zu?

 

Das Letztere im Prinzip ja, das andere nicht. Wenn es allen wichtig ist und eine große kooperative Kraftanstrengung notwendig macht, dann muss man die Gesetze ändern. Denn die Gesetze soll der Sache dienen und die Sache nicht behindern. Wir brauchen, da sind Martin Habersaat und ich uns einig, einen Ordnungsrahmen für ein kooperatives Miteinander in der Bildungspolitik. Der Geist dafür ist ja schon da. 

 

Wo sehen Sie diesen Geist denn?

 

Denken Sie an die inzwischen 6,5 Milliarden Euro, die der Bund über den Digitalpakt in die Schulen investiert. Oder nehmen Sie das, was auf dem zweiten inoffiziellen Schulgipfel letzten Sommer im Kanzleramt verabredet wurde: vom Deutschen Zentrum für digitale Bildung über die Entwicklung intelligenter tutorieller Systeme bis hin zur Entwicklung von Open Educational Resources. Das spricht für einen "teuren Ehrgeiz", wie Sie selbst in einem Artikel geschrieben haben. All das geht aber wieder nur mit allerlei Verrenkungen, die noch komplizierter werden, wenn über die Digitalisierung hinaus Mittel des Bundes in gemeinsame Initiativen und Programme mit den Ländern und den Schulträger in die Kommunen eingebracht werden sollen. Und es geht uns ausdrücklich nicht nur um digitale Bildung. Genauso dringlich wird das Zusammenwirken von Bund, Ländern und Kommunen künftig über die schon angesprochenen Aufgaben hinaus bei Themen wie Inklusion, Integration, Weiterbildung und – wie schon gesagt – der Aufgabe mit der höchsten Priorität, der Bekämpfung von Bildungsarmut, sein.

 

"Die Ministerin bleibt im Ungefähren und legt keinen
konkreten Vorschlag auf den Tisch. Das ist Magerkost." 

 

Dann mal Butter bei die Fische, Herr Rossmann. Wie sollte das Grundgesetz denn konkret geändert werden?

 

Ministerin Karliczek hat zwar schon im Februar die Debatte um eine diesbezügliche Verfassungsänderung begonnen, allerdings erst für die Ziel-Zeit ab 2024, wenn der aktuelle Digitalpakt ausläuft. Das halten wir für viel zu spät. Und die Ministerin bleibt auch sehr im Ungefähren und legt keinen konkreten Vorschlag auf den Tisch. Das ist Magerkost. Martin Habersaat und ich schlagen jedenfalls konkret vor, dass die Fraktionen bald nach der Bundestagswahl an die Ergänzung von Grundgesetzartikel 91b Absatz 2 gehen. Dort heißt es zurzeit: "Bund und Länder können auf Grund von Vereinbarungen zur Feststellung der Leistungsfähigkeit des Bildungswesens im internationalen Vergleich und bei diesbezüglichen Berichten und Empfehlungen zusammenwirken." Dort könnte man ergänzen: "können auf Grund von Vereinbarungen zur Feststellung und zur Förderung der Leistungsfähigkeit… zusammenwirken." Zusätzlich sollten in Artikel 104 c in den Begründungen für die Finanzhilfe zur Steigerung der Leistungsfähigkeit der kommunalen Bildungsinfrastruktur ausdrücklich die gesamte Bildungskette und alle Bildungsaufgaben bis hin zur Weiterbildung genannt werden.

 

Und das würde genügen?

 

Beide Änderungen zusammen würden eine neue Kooperationskultur ermöglichen. Eine große Errungenschaft wäre aber auch die Einführung einer echten neuen Gemeinschaftsaufgabe nach Artikel 91 a des Grundgesetzes zur Digitalisierung im Bildungswesen. Bisher haben wir eine solche echte Gemeinschaftsaufgabe in zwei Punkten, nämlich einerseits zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur und andererseits zur Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes. Wenn Digitalisierung in allen Bereichen des Bildungswesens wirklich so wichtig und zukunftsprägend ist, wie immer wieder behauptet wird, muss über eine Lösung nach Artikel 91 a doch ernsthaft nachgedacht werden. 

 

Sie sagen: Nach der Bundestagswahl. Warum nicht noch davor? Gerade sind alle im Krisenmodus, jetzt gehen Veränderungen, die vielleicht in einem Jahr nicht mehr gehen.

 

Das halte ich nicht für realistisch, dass wir uns bei den wenigen verbleibenden Sitzungstagen auf einen Text einigen und zweimal eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat organisieren können. Wichtig ist aber, dass man jetzt darüber berät und in den Parteien und Fraktionen nach Lösungen sich und dann nicht unvorbereitet und unabgestimmt in die Koalitionsverhandlungen hineingeht. 



Was würden die von Ihnen vorgeschlagenen Ergänzungen bewirken?

 

Sie würden den Möglichkeitsraum erweitern. Was der Bund bislang getan hat, zum Beispiel mit den 6,5 Milliarden zusätzlich für den Digitalpakt inklusive allen seinen Zusatzprogrammen, kann ja nicht alles sein. Ebenso wenig die übrigen Initiativen, die jetzt anstehen. Und auch die zwei Nachhilfe- und Jugendhilfe Milliarden wirken nur zeitlich begrenzt gegen die Bildungsarmut. Der Bund muss in die laufenden Kosten hinein, und zwar jedes Jahr mit mehreren Milliarden über alle Bildungsabschnitte hinweg. Gerade verhandeln die SPD-Jugendministerin Franziska Giffey und die CDU-Bildungsministerin Anja Karliczek mit den Ländern eine zentrale schulische Innovation, den verlässlichen Ganztag und dessen Finanzierung. Auch das ist, wenn wir ehrlich sind, eine Daueraufgabe, mit der wir die Kommunen nicht allein lassen dürfen. Deshalb grundsätzlich: Zu all diesen Zwecken müssen wir endlich eine ehrliche Bestandsaufnahme mit Kommunen und Ländern zusammen vornehmen. Dazu brauchen wir auch verbesserte Beratungsstrukturen.

 

"Der Bund darf nicht immer neue Initiativen stimulieren.
Er muss auch finanziell verlässlich absichern."

 

Welche sind das? Der Nationale Bildungsrat, der Bund, Länder und Kommunen zusammengebracht hätte, ist gescheitert.

 

Mit der Destruktion durch Grün-Schwarz in Baden-Württemberg und durch CSU und Freie Wähler in Bayern beim Nationalen Bildungsrat dürfen wir uns nicht abfinden. Wir können zwar froh sein, dass die Kultusministerkonferenz über eine Ständige Wissenschaftliche Kommission ansatzweise einen Ersatz schaffen will. Am Ende braucht eine solche Kommission, um wirklich wirksam zu sein, tragfähige Verbindungen zwischen der wissenschaftlichen Expertise und den politischen Ebenen von Bund, Ländern und Kommunen. Sonst wird es sehr schwer, eine abgestimmte konsensfähige Gesamtanalyse der Bedarfe und ihrer Entwicklung zu liefern und neue bedarfsgerechte Vorschläge zu machen, wie die Kosten zwischen den verschiedenen Ebenen aufgeteilt und die Fördermittel zielgenauer verteilt werden. Da ginge es dann zum Beispiel auch um die Frage, wo der Königsteiner Schlüssel der richtige Verteilungsmechanismus ist und wo es unbedingt eine Orientierung an Sozialindikatoren braucht. Klar ist: Der Bund darf und kann nicht immer neue Initiativen stimulieren. Er muss auch finanziell verlässlich absichern. 

 

Warum eigentlich? Haben die Länder nicht die deutlich bessere Haushaltssituation nach der Coronakrise? Müssen sie nicht nur endlich mal anfangen, die richtigen Prioritäten zu setzen?

 

Moment. Wenn man sich anschaut, welche staatliche Ebene mit Abstand am meisten für die Bildung ausgibt, dann sind das die Länder. Dann folgen die Kommunen, die noch dazu in der Krise große Kostensteigerungen stemmen müssen. Als letztes kommt der Bund. Die Kommunen haben auch die höchsten Haushaltszuwächse für die Bildung gehabt, der Bund die niedrigsten. Wenn wir nach dem Merkelschen Mantra im Aufbau der Bildungsrepublik eine der zentralen Zukunftsaufgaben sehen, natürlich in den Schulen, aber nicht nur dort, dann ist auch der Bund gefragt. Und zwar in allen Abschnitten der Bildungsbiographie. Das zeigt sich immer mehr. Dann muss auch eine umfassende Kooperation möglich sein. Das gilt erst recht dann, wenn der Bund mehr Geld für gleiche Bildungschancen und neue Bildungswege in allen Bundesländern beisteuern soll und muss. 

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