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Was heißt hier "Offenhalten"?

Die Forderung der Leopoldina nach dauerhaftem Präsenzunterricht in der Pandemie landete am Dienstag auf vielen Titelseiten. Aber wofür genau plädieren die Experten eigentlich? Eine Spurensuche.

Bild: Gerd Altmann / Pixabay.

DIE MELDUNG SCHAFFTE ES gestern in alle Zeitungen, oft sogar auf die Titelseiten: Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina hat sich dafür ausgesprochen, die Bildungseinrichtungen unter geeigneten Schutzmaßnahmen offenzuhalten und einen Präsenzbetrieb zu ermöglichen. Der Unterricht an den Schulen und die Anwesenheit in den Kitas sei für nahezu alle Kinder und Jugendliche die effektivste Art des Lernens, befanden die Experten – was ziemlich gut zu der zweiten Bildungs-Nachricht des gestrigen Tages passte, dass der Distanzunterricht zumindest im ersten Lockdown laut einer Münchner Meta-Studie in etwa denselben Lernzuwachs gebracht habe wie die Sommerferien. Nämlich gar keinen.

 

Trotzdem hat mich dieser Teil einer ansonsten durchaus lesenswerten Leopoldina-Stellungnahme ebenso gewundert wie die zentrale Berichterstattung darüber. Denn was, bitte schön, ist bemerkenswert, neu oder gar mutig an diesem Plädoyer für Präsenzunterricht in Zeiten niedriger Inzidenzen? Welchen diskursiven Mehrwert meinen die Experten damit zu liefern? 

 

Doch wollte ich nicht vorschnell urteilen und habe bei der Leopoldina nachgefragt. Ob die Nationalakademie mit ihrer Stellungnahme dem Präsenzunterricht eine andere Stellung in der Pandemie einräumen wolle als bislang und für ein inzidenzunabhängiges Offenhalten der Schulen auch in einer möglichen nächsten Welle plädiere? 

 

"Hoffen, dass die Schulen und Kitas gut
durch den Herbst und Winter kommen"

 

Die Antwort von Leopoldina-Vizepräsident Thomas Krieg, als Mediziner an der Arbeitsgruppe beteiligt: "Grundsätzlich gelten natürlich weiterhin die Regelungen des Robert Koch-Instituts. Es wird sehr darauf ankommen, wie konsequent die entsprechenden Hygieneempfehlungen eingehalten werden können. Im Herbst wird man vermutlich auf lokaler Ebene das ein oder andere Mal auf ein höheres Infektionsgeschehen reagieren müssen. Wenn jedoch die Impfquote bis Herbst bei mehr als 80 Prozent liegt, kann man hoffen, dass Schulen und Kitas gut durch den Herbst und den Winter kommen. Dies ist bei der besonderen Bedeutung der Bildungseinrichtungen natürlich anzustreben."

 

Klarer wurde die Sache für mich dadurch nicht. Weshalb ich noch einmal nachhakte.

 

Offenbar waren mit "reagieren müssen" doch auch erneute (Teil-)Schließungen gemeint. Doch was verstehe Herr Krieg unter einem "regional höheren Infektionsgeschehen", fragte ich die Leopoldina: das in einzelnen Schulen oder unter allen Menschen einer Region? Die Antwort: Sowohl als auch.

 

Und wann müsse geschlossen werden? Bei bestimmten 7-Tages-Inzidenzen in der Region, was auf präventive Schulschließungen hinausliefe, oder nur bei konkreten Ausbrüchen in einzelnen Schulen? Die Antwort: Sowohl als auch. 

 

Und schließlich fragte ich noch einmal explizit: Meint das Statement von Herrn Krieg, dass die Leopoldina künftig landes- oder bundesweit einheitliche (Teil)-Schließungen als Instrument der Pandemiebekämpfung grundsätzlich ablehne? Die Antwort: "Nein, das verstehen Sie nicht richtig. Dies ist nicht Thema der gestern erschienen Ad-hoc-Stellungnahme und auch nicht dem Zitat von Herrn Professor Krieg zu entnehmen."

 

Der Versuch einer rhetorischen
Wiedergutmachung?

 

Was aber ist dann genau dem Zitat von Herrn Krieg und der Stellungnahme der Leopoldina in Sachen Schulschließungen zu entnehmen? 

 

Vielleicht ging es ja einfach um eine rhetorische Wiedergutmachung. In ihrer Dezember-Stellungnahme hatte die Leopoldina für eine Aussetzung der Schulpflicht schon vor Weihnachten plädiert (während sie den Einzelhandel bis dahin noch offenlassen wollte) und für eine Verlängerung der Weihnachtsferien bis 10. Januar. Die Politik ging auf den Vorschlag der verlängerten Weihnachtsferien ein – machte die Schulen dann aber monatelang nicht wieder auf. Was man durchaus hätte ahnen können. "Sind die Schulen erstmal ganz zu, dauert es womöglich viel länger als versprochen, bis sie wieder richtig aufgehen", schrieb ich im Dezember in meiner ersten Reaktion auf die damalige Leopoldina-Empfehlungen.

 

Der Schwerpunkt der jetzt erschienenen, neuen Stellungnahme der Nationalakademie war übrigens ein pädagogischer. Es gehe darum, die Folgen der Coronakrise für Kinder und Jugendliche zu kompensieren und Unterstützungsstrukturen besser zu gestalten als zuvor, mahnten die Experten und zeigten der Politik bedenkenswerte Wege auf. Vielleicht wären diese mehr wahrgenommen worden, wenn sie das – auf Nachfrage wachsweiche – Offenhalten-Plädoyer einfach weggelassen hätten.

 

Dieser Beitrag erschien heute zuerst in meinem Newsletter.



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