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Störgefühl

Bund und Länder haben sich in letzter Sekunde beim Ganztag geeinigt. Und nun?

Bild: Vinicius Imbroisi / Pixabay. 

BIS MONTAG UM MITTERNACHT hatte der Vermittlungsausschuss Zeit, um doch noch eine Einigung im Ganztags-Poker hinzubekommen, und spät am Montagabend kam die erlösende Nachricht: Der Kompromiss steht.

 

Mitternacht war der letzte Zeitpunkt, um die formale Frist einzuhalten, damit der Bundestag noch in seiner allerletzten Sitzung in dieser Legislaturperiode tätig werden konnte. Er tat es am Dienstag prompt und beschloss das Gesetz zum bundesweiten Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule vom Schuljahr 2026/27 an. Am Freitag soll der Bundesrat folgen. 

 

Die Erleichterung beseitigt jedoch nicht das Störgefühl. Der Rechtsanspruch kommt ein Jahr später, als einst im GroKo-Vertrag versprochen. Und er kommt nur peu à peu, jedes Jahr für eine zusätzliche Klassenstufe. Eigentlich hätte es um die Kinder gehen sollen bei den Verhandlungen um den Ganztag, aber in Wirklichkeit ging es die ganze Zeit um Geld. Den Ländern war es zu wenig, was der Bund ihnen zu den laufenden Kosten der nötigen Ganztagsplätze zuschießen wollte. Hätten sie es wirklich auf ein Scheitern ankommen lassen, wegen ein paar hundert Millionen Euro im Jahr? Sie hätten wohl. 

 

Doch die Große Koalition von Union und SPD war sich ein letztes Mal einig, dass dieses Scheitern sie politisch teuer zu stehen gekommen wäre – zu teuer im Jahr der monatelangen Corona-Schulschließungen und der daraus resultierenden bildungs- und sozialpolitischen Verwerfungen.

 

Viel "Betreuung", wenig "Bildung"

 

Jetzt beteiligt sich der Bund einmalig mit bis zu 3,5 Milliarden Euro am Ausbau des Ganztags, an den Investitionen für Gebäudeneubau und -sanierung. Die Summe hatte er schon vor Monaten zugesagt, doch die Modalitäten wurden geändert. Außerdem stockt er seinen Anteil an den dauerhaften Betriebsausgaben um gut 300 Millionen Euro auf, so dass er am Ende mit 1,3 Milliarden im Jahr dabei ist. Und 2027 und 2030 wird geschaut, ob finanzieller Anpassungsbedarf besteht.

 

Das Störgefühl, das viele empfinden, kommt aber auch daher, dass Bund und Länder fast nur von "Betreuung" sprechen und viel zu wenig von "Bildung". Der Rechtsanspruch auf Ganztag nützt vor allem den Eltern, der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Was vor dem Hintergrund der strukturellen Benachteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt ein lange überfälliger Schritt ist. Erst recht, weil die geschlossenen Kitas und Schulen die einseitige Belastung der Mütter und die Karriere-Lücke noch zusätzlich haben wachsen lassen. 

 

Doch zu wenig ist geblieben von der Vision, die mit dem Einstieg in das erste Ganztagsprogramm vor fast zwei Jahrzehnten verbunden war. Vier Milliarden Euro investierte die Bundesregierung damals in das Investitionsprogramm "Zukunft, Bildung und Betreuung", um den Ausbau von Ganztagsschulen zu unterstützen.

 

Und die damalige Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) sagte im Februar 2003 im Bundestag: "Um eines ganz deutlich anzusprechen: Uns geht es mit der Ganztagsschule nicht um Suppenküchen." Es gehe auch nicht um ein bisschen Hausaufgabenhilfe, "sondern es geht uns darum, dass wir Ganztagsschulen schaffen, die die frühe, individuelle Förderung eines Kindes wirklich zu dem zentralen Punkt ihres pädagogischen Konzepts und ihrer Aufgabe in der Schule machen." Sie sprach von Bildungsgerechtigkeit und vom Kampf gegen das schlechte Abschneiden deutscher Schüler beim internationalen PISA-Vergleich. Das Wort "Betreuung" kam außer im Titel des Gesetzes in keinem Wort ihrer Rede vor.

 

Vor 18 Jahren war das BMBF federführend

 

Auch die heutige Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) sprach gestern von "neuen Möglichkeiten, die Bildungschancen unserer Kinder zu verbessern". Die zusätzliche Zeit, die der Ganztag biete, könne genutzt werden, "um jedes Kind möglichst optimal zu fördern".

 

Nur gibt es eben einen entscheidenden Unterschied zu vor 18 Jahren. Damals war für das Programm das Bundesbildungsministerium federführend. Heute ist es das Bundesfamilienministerium. Deutlicher kann die Akzentverschiebung nicht betont werden. Obwohl alle ahnen: Sie hätte genau in die andere Richtung gehen müssen.

 

Vor zwei Jahrzehnten träumten auch noch viele davon, dass irgendwann einmal der gebundene Ganztag die Regel werden könnte: Die pädagogisch abgestimmte Verknüpfung und Abwechslung von regulärer Schule, von Freizeitangeboten und Betreuung über den ganzen Tag hinweg, um Schluss zu machen mit der Druckbetankung am Vormittag. 

 

Geblieben ist davon kaum mehr als ein Schulterzucken bei den verantwortlichen Politikern verbunden mit der Aussage, der Ganztag als Regelangebot sei politisch nicht umsetzbar. Weil viele Eltern dies als Eingriff in ihre familiäre Freiheit begreifen und womöglich klagen würden.

 

Wer darüber bestimmt, wie unser Bildungssystem aussieht

 

Welche Familien sich da zu Wehr setzen würden? Vor allem jene, die am wenigsten auf Ganztagsbildung angewiesen wären – weil sie dazu in der Lage sind, selbst Reitstunden, Tennisunterricht oder Nachhilfelehrer für ihre Kinder zu organisieren und zu bezahlen. Am Ende sind es wieder einmal diese Familien, die bestimmen, wie unser Bildungssystem aussieht. Insofern ist es so konsequent wie falsch, dass der Ganztag aus dem Bildungsministerium abgewandert ist. 

 

Es gibt aber auch noch einen weiteren Grund: Die Verfassung lässt keine dauerhafte Beteiligung des Bundes an der Finanzierung der schulischen Bildung zu. Weil das die Kultushoheit der Länder, ein Kernbestandteil ihrer staatlichen Identität, einschränken würde. Gegen eine Dauerbeteiligung an den Betreuungskosten aber haben sie nichts einzuwenden. 

 

Auch hier kann man sich nur an den Kopf fassen und andererseits positiv denken. Der Einstieg des Bundes in die Ganztags-Betriebskosten (=die Personalkosten) ist trotz allem eine große Sache, weil er erstmals dauerhaft in (oder zumindest nah dran an) Schulen in die dauerhafte Mitverantwortung geht. Der nächste Schritt wäre, in der nächsten Legislaturperiode noch einmal die Verfassung zu ändern, was mittlerweile fast alle Parteien im Bundestag wollen oder zumindest nicht ausschließen. Es läge dann also an den Ländern, über ihren Schatten zu springen. Täten sie es, könnte der Bund auch explizit und auf Dauer Geld in die Bildung (in die Finanzierung auch von Lehrerstellen?) schießen. Und das Ganztagsprogramm ganz offiziell einen anderen Charakter bekommen.

 

Dieser Beitrag erschien heute zuerst in meinem Newsletter.



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