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"Fürchte Flickenteppich"

Wieviel Präsenz erwartet die Studierenden an Deutschlands Hochschulen? Halten die Fakultäten überhaupt, was die Hochschulleitungen versprechen? Und ist es eine Stigmatisierung, wenn nicht geimpfte Studierende abseits der übrigen sitzen sollen? Ein Ausblick aufs Wintersemester.

Bild: Torsten Simon / Pixabay.

DIE MÜNCHNER SOZIOLOGIEPROFESSORIN Paula-Irene Villa Braslavsky wollte es gern genauer wissen. "Wer entscheidet grad an Eurer (Hochschule) wie über (Nicht-)Präsenz im Wintersemester?", fragte sie vor einigen Tagen auf Twitter. An ihrem eigenen Institut werde das diskutiert. "Das ist alles wildwüchsig und prekär", fügte Villa Braslavsky hinzu. "Schwierig."

 

Die Antworten kamen aus allen Teilen der Republik. "Chaos und Unsicherheit überall", befand ein Leipziger Wissenschaftler. "Es ist eine große Tragödie." Eine Historikerin, ebenfalls aus München, antwortete: "Wenn ich das richtig verstanden haben: Präsenz soll der Regelfall sein." Die Maßgabe sei erst einen Tag zuvor gekommen. Jetzt gebe es einen Hinweis auf der Homepage, dass die Studierenden wiederkommen sollten. "Drei Wochen vor Semesterbeginn."

 

Aus Berlin berichtete jemand, "angeblich" sollten alle Seminare unter 35 Personen möglich sein, "Raumvergabe aber erst jetzt und am Institut kein Plan, wie man mit Wechsel von digitalen zu analogen Seminaren (und andersrum) umgehen soll. Fürchte Flickenteppich." Und aus Aachen die Rückmeldung: Das Dekanat habe "glücklicherweise die Öffnungswünsche des Rektorats eingeschränkt".

 

Wie gesagt: Die Twitter-Debatte ist schon einige Tage alt, doch zeigen sich bundesweit ein paar Tendenzen. Erstens: Obwohl je nach Hochschulstandort 85 oder 90 Prozent der Studierenden doppelt geimpft sind, wird das Wintersemester vielerorts noch ein Teil-Digitalsemester werden. Zweitens: Das Durcheinander der Kommunikation und Zuständigkeiten führt mancherorts dazu, dass die Hochschulleitungen das eine festlegen, die Fakultäten und Fachbereiche jedoch das andere tun. Und drittens: Die Umsetzung der 3G-Regel führt zu Ärger und auch zu bedenklichen Entwicklungen.

 

Verfassungsrecht
auf Präsenzstudium?

 

Schon der erste Punkt ist hochproblematisch – und womöglich sogar ein Verstoß gegen das Grundgesetz. Zu diesem Ergebnis kommen zumindest Rechtswissenschaftler Daniel Wolff und Patrick Zimmermann in einem gerade in der Neuen Juristischen Wochenschrift veröffentlichten Beitrag. Das Verfassungsrecht gebiete "angesichts des Impffortschritts und der mit den Impfungen verbundenen Effekte für die Geimpften die Aufhebung großer Teile der restriktiven staatlichen Vorgaben für den Präsenzunterricht an den Hochschulen zugunsten von geimpften Dozenten und Studenten."

 

Wenn das so ist, wieso kann es dann sein, dass zum Beispiel die Universität Köln es mit Belüftungsanforderungen begründet, dass überhaupt nur ein Teil der verfügbaren Lehrräume genutzt werden könne? Und dass dort, wo eine Nutzung möglich ist, die Raumkapazität nur zu 60 Prozent genutzt werden soll – "abhängig von der Belüftungssituation laut Arbeits- und Infektionsschutz"? Diese Vorgaben werden zwangsläufig daraus hinauslaufen, dass die große Mehrheit der Veranstaltungen gerade in den großen Fächern weiter digital stattfinden werden. 

 

Auch die Universität Greifswald will trotz 3G grundsätzlich das "Schachbrettmuster" als Sitzordnung vorsehen, weiterhin werde es auch digitale und hybride Veranstaltungen geben, teilte der Unisprecher mit. 

 

Immerhin: An den meisten Hochschulen ist der Mut zu Präsenz ausgeprägter als in Köln oder Greifswald. Die Sprecherin der Universität Magdeburg teilt zum Beispiel mit: "Die 3G-Regel hebt die Obergrenzen auf, so dass wir bei einer Auslastung von 100 Prozent den Lehrbetrieb aufnehmen werden." Und grundsätzlich gebe es, der 3G-Regel folgend, keine Maskenpflicht mehr. 

 

Ganz so weit geht die Universität Hannover dann doch nicht, aber auch ihre Sprecherin kündigt an, man werde zum "Präsenzbetrieb für alle Studierenden zum Wintersemester 2021/2022 zurückkehren, die Lehrenden sind durch die Hochschulleitung dazu aufgerufen, ihre Lehre in Präsenz anzubieten." Die ist wie überall gekoppelt an die 3G-Regel und Hygienekonzepte, aber anders als in Magdeburg unter Beibehaltung der Maskenpflicht in Lehrveranstaltungen, wo 1,5 Meter Abstand zwischen den Studierenden nicht eingehalten werden können. 

 

Lange vor einer klaren

Ansage gedrückt

 

So ähnlich wie Hannover soll es an vielen Hochschulen im Land laufen – auch wenn mancherorts die Entscheidung, die Hörsäle bei 3G voll zu besetzen, auf die einzelnen Hochschullehrer verschoben wird. 

 

Hier wiederholt sich ein Muster der vergangenen Monate: Viel zu lange haben sich manche Verantwortliche in den Hochschulleitungen vor einer klaren Ansage gedrückt, wie es im Wintersemester mit Präsenz zu halten sein wird. Oft verwiesen sie dabei auf die Wissenschaftsministerien, die ihrerseits keine, uneindeutige oder sehr späte Vorgaben gemacht hätten. Und wo dann nach langem Zögern doch entschieden wurde, hatten die Fakultäten und Instituten teilweise schon eigene Pläne gemacht. So dass das, was zentral vorgegeben wurde und auf den Hochschul-Websites erschien, unter Umständen anders ist als das, was in den einzelnen Studiengängen ankommt.

 

Das Ergebnis an den betroffenen Hochschulen: Jetzt müssen es alle gemeinsam ausbaden: Lehrende und Studierende. Und zwar unabhängig davon, ob sie sich vor allem Präsenz oder doch noch weitgehend digitale Lehrveranstaltungen gewünscht haben. Vor allem aber ist durch das lange Zögern die eigentlich entscheidende Debatte über eine nach Corona wirklich erneuerte Hochschullehre vielerorts unterblieben: Wie sollte die Rückkehr zur Präsenz mit dem dauerhaften Einzug didaktisch sinnvoller hybrider Lehrformate verknüpft werden?

 
Bleibt die Frage nach der 3G-Regel, die in allen Bundesländern und an allen Hochschulen zum Standardrepertoire gehört: Mit ihrer Umsetzung wurde in den vergangenen Wochen fast überall gerungen und gehadert. Macht man Eingangskontrollen? Stichproben? Verlangt man von den nicht Geimpften Testzertifikate oder reichen eidesstattliche Erklärungen über einen durchgeführten Selbsttest? Und wer kontrolliert? Schnell angelernte Studierende? Eigens angeheuertes Sicherheitspersonal, dessen Kosten an großen Hochschulen bis Semesterende Millionenbeträge betragen dürften? Oder wird die Aufgabe an die  Dozenten durchgereicht, zu erledigen vor Beginn jeder Lehrveranstaltung? 

 

In Rostock sollen nicht
Geimpfte "abgesondert" sitzen

 

Um das Ganze handhabbar zu machen, greifen Hochschulen zu den unterschiedlichsten Methoden. Ein Aufkleber auf dem Studierendenausweis für Geimpfte und Genesene ist das eine. Das sichtbare Tragen von 2G-Armbändchen wie an Universität und Hochschule Hannover fällt demgegenüber schon gesteigert auffällig aus – eine von vielen Hochschulmitgliedern begrüßte, pragmatische Lösung oder eine Stigmatisierung der Getesteten, wie laut Josef von Helden, Präsident der Hochschule Hannover,  die Studierendenvertreter zweier Fakultäten befürchteten?

 

Grenzwertig ist in jedem Fall das, was die Universität Rostock plant. Rektor Wolfgang Schareck bestätigt, dass dort Geimpfte und Genesene ohne besondere Abstandsregelung, aber mit Maske in Veranstaltungen sitzen dürfen – noch nicht geimpfte Studierende, zweimal pro Woche getestete dagegen "in abgegrenzten Bereichen mit einem Mindestabstand von einem Meter im sogenannten Schachbrettschema". 

 

Die Nicht-Geimpften sollen also als solche erkennbar abgesondert platziert werden?

 

Schareck, der selbst Mediziner ist, spricht von einem "guten Kompromiss zwischen eingeschränkten räumlichen Kapazitäten" und "infektiologischen Notwendigkeiten" bei "Minimierung der logistischen und bürokratischen Anforderungen".

 

Das Gesundheitsamt, räumt er weiter ein, habe vermutet, die Regelung werde "sicher Diskussionen mit dem Vorwurf der Diskriminierung verursachen". Gespräche mit den Studierendenvertretungen hätten diese Bedenken jedoch zerstreut. "Eine solche Regelung wurde als valider Versuch eingeschätzt, die vorhandenen räumlichen Kapazitäten optimal zu nutzen und wegen fehlender Immunisierung für eine Infektion gefährdete Studierende besonders zu schützen." 

 

Man könne die Sitzordnung ja so gestalten, dass nicht eine Gruppe vorne sitzt und die andere hinten. Außerdem sei es ja auch Immunisierten "unbenommen", mit Abstand zu sitzen.



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Kommentare: 6
  • #1

    Peter Burger (Donnerstag, 30 September 2021 10:34)

    Lieber Herr Wiarda,

    wenn das nicht so traurig wäre, wäre es fast schon wieder lustig.

    Man fragt sich, ob man das wirklich noch Wissenschafts"management" nennen darf.

    Ich schließe dabei auch die Ministerien mit ein, die leider durch klare Ansagen (für die Schulen gibt es die i.d.R.) versäumt haben, für Klarheit zu sorgen.

    Auf der anderen Seite frage mich, ob man bei Impfquoten von 85% der Studierenden nicht alles freigeben könnte & sollte.

    Gibt es denn neben Magdeburg weitere Beispiele für gelungene Planungen? Die TU Dortmund z.B. (?), von der in diesem Blog vor geraumer Zeit schon einmal ein Artikel zum wissenschaftsgeleiteten Umgang mit Corona an ihrer Universität gab?

  • #2

    Gerulf Bannach (Donnerstag, 30 September 2021 11:25)

    Es war zu erwarten, daß sich überall die Bedenkenträger
    bemerkbar machen oder sogar durchsetzen. Dies ist nun
    bereits das vierte Semester, in dem die extrem wichtige Begegnung der Studenten untereinander und die direkte
    Kommunikation zwischen Lehrkörper und Studenten
    massiv gestört ist. Verstehen denn die Leisetreter in den
    Uni-Leitungen nicht, was hier zerstört wird?

  • #3

    Jan-Martin Wiarda (Donnerstag, 30 September 2021 11:32)

    @Peter Burger: Münster wäre noch ein Beispiel (s. hierzu auch den Gastbeitrag hier im Blog: https://www.jmwiarda.de/2021/07/30/wo-wird-hier-eigentlich-geeiert-bei-uns-nicht/). Viele Unis gehen zudem vor wie Hannover.

  • #4

    Marco Winzker (Donnerstag, 30 September 2021 12:02)

    Gute Zusammenfassung der Fragestellungen. Allerdings sind, wie so oft, die Probleme sichtbar und nicht die vielen Fälle wo es gut läuft. An vielen Hochschulen (auch bei uns) ist Präsenzlehre mit 3G-Überprüfung reibungslos gestartet. Dazu haben wir an Lehrende und Studierende offen kommuniziert, wie die 3G-Überprüfung uns allen nützt und Präsenz wieder ermöglicht.

    Und wir nehmen auch Erkenntisse und Impulse aus der Corona-Erfahrung mit. Dort wo es didaktisch begründet ist, kann weiter Online-Lehre erfolgen. Dies ist zur Zeit noch im Übergang, wird durch die Lehrenden und Dekanate ad hoc ausgehandelt und recht pauschal durch die Präsenzqoute erfasst. Die Perspektive muss sein, dies zukünftig in die Studiengangsplanung aufzunehmen.

  • #5

    Anja Steinbeck (Freitag, 01 Oktober 2021 15:01)

    An der HHU (Heinrich-Heine-Uni Düsseldorf) gab es Anfang September eine klare Ansage, dass im Wintersemester ein Großteil der Veranstaltungen in Präsenz stattfinden wird. Das war früh genug, um nach einer Wohnung Ausschau zu halten. Dass eine Teilnahme an Präsenzveranstaltungen nur möglich sein wird, wenn man geimpft oder getestet ist, war wohl jedem klar, der auch nur sporadisch die Tagespresse oder andere Medien verfolgt. Zugegeben: Die Details und die hier beschriebenen Fragen waren noch offen: Flächendeckende 3G Kontrolle oder Stichproben? Kontrolle mit Bändchen oder mit Vignette auf dem Studierendenausweis? Großveranstaltungen mit vielen Hundert Studierenden auch in Präsenz oder nur online? Maskenpflicht im Hörsaal oder nicht?

    Diese Detailregelungen unterliegen auch jetzt noch einer gewissen Dynamik. Aber kann es in einer sich ständig wandelnden Pandemielage anders sein? Gibt es hierzu eine Alternative, wenn man am Wunsch der Öffnung der Universität festhält und nicht von vornherein eben diese in das Jahr 2022 oder in die noch spätere Zukunft verlegen möchte? Und was ist so schlimm daran, wenn angesichts dieser volatilen Lage die ein oder andere Veranstaltung digital stattfindet. Ist es nicht erklärtes Ziel, mehr digitale Lehre anzubieten? Wer maßt sich an, ohne nähere Kenntnis über die konkrete Veranstaltung zu sagen, was schlechte und was gute digitale Lehre ist? Es bleibt schlicht festzuhalten: Die Öffnung einer Universität unter Coronabedingungen ist schwieriger als das Schließen, aber der schwierigere Weg ist der richtige.

    Und noch ein letzter Satz zu der angeblich fehlenden Abstimmung zwischen Hochschulleitungen und Fakultäten. Soweit ich es überblicken kann ist das in NRW die absolute Ausnahme. An allen Universitäten haben Task Forces mit Mitgliedern aus allen Bereichen die Regelungen abgestimmt, in der Universität kommuniziert und umgesetzt. Dass es in großen Institutionen mit vielen tausend Mitarbeitern Einzelne gibt, die das nicht mitbekommen, ist wohl nicht zu vermeiden. Man sollte nicht vom Einzelfall auf die Allgemeinheit schließen.

  • #6

    Felix E. (Montag, 04 Oktober 2021 09:59)

    Mir fehlt in dieser Einordnung der Hinweis darauf, dass Schnelltests demnächst kostenpflichtig werden. 3G mit kostenpflichtigen Tests und einer Rückkehr zur Präsenzlehre ist die berühmt-berüchtigte "Impfpflicht durch die Hintertür", aber für die wenig gefährdete Gruppe junger Studenten. Ein sehr fragwürdiger Gang der Dinge.