· 

Wege aus dem Kuddelmuddel

Das neue Berliner Hochschulgesetz sollte eine Reform mit Signalwirkung anstoßen. Stattdessen herrschen jetzt Frust, Irritationen und rechtliche Bedenken. Wie das Ziel besserer Beschäftigungsbedingungen doch noch erreicht werden könnte: ein Gastbeitrag von Steffen Mau.

Foto: Michael Schwarzenberger / Pixabay.

DAS NEUE BERLINER HOCHSCHULGESETZ ist zum Zankapfel und zum Quell von Verunsicherung geworden. Kritik entzündet sich vor allem an der Regelung in Paragraph 110, Postdoktorandenstellen grundsätzlich zu entfristen. Zwar beteuern alle Akteure, sie seien sich über die Zielstellung, die prekäre Beschäftigungssituation der Postdocs zu verbessern, einig. Die Hochschulleitungen aber halten die Regelung, wie sie jetzt beschlossen wurde, für kaum umsetzbar. Die politisch Verantwortlichen der bisherigen und vermutlich zukünftigen Regierungskoalition sehen die Universitäten am Zug, sich nun endlich zu bewegen.

 

Wenig durchdacht sei das Gesetz, das sagen aber nicht nur die Hochschulleitungen und die Professorenschaft, sondern auch verblüffend viele "Mittelbauler" der Berliner Universitäten. Der bekannte Wissenschaftsjournalist und Betreiber dieses Blogs Jan-Martin Wiarda kommentierte lapidar: "Auch eine Revolution muss man handwerklich ordentlich machen."

 


Steffen Mau, 53, gilt als einer der produktivsten deutschen Soziologen der Gegenwart. Seit 2015 ist er Inhaber der Professur für Makrosoziologie an der Berliner Humboldt-Universität, 2016 erhielt er für seine Forschungsarbeiten den Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis. Zu Maus Forschungsschwerpunkten gehören die Soziologie der sozialen Ungleichheit, Transnationalisierung, europäische Integration und Migration. Von 2012 bis 2018 war er Mitglied der wissenschaftlichen Kommission des Wissenschaftsrats. Foto: Marten Körner. 



Derzeit stocken die Stellenbesetzungen an den Berliner Universitäten oder sind sogar völlig ausgesetzt, die Präsidentin der Humboldt-Universität trat aus Protest zurück. Die Frage des für die Reform zwingend notwendigen Mittelaufwuchses ist ungeklärt. Die nachgeschickten Beschwichtigungsformeln der Parlamentarier – Übergangfristen seien möglich, finanzielle Spielräume werde man finden – bleiben irritierend unkonkret. Inzwischen gibt es sogar rechtliche Bedenken ob der Regelungszuständigkeit des Landes in arbeitsgesetzlichen Fragen. Es droht, was sich keiner wünschen könnte: eine Selbstblockade. Typisches Berliner Kuddelmuddel, so könnte man auch sagen. 

 

Wenn man die Reform in Berlin vergeigt,
wird sie anderswo gar nicht erst begonnen

 

Nun wäre es wichtig gewesen, in Berlin eine wegweisende und kluge Reform zu wagen, die auch andere Bundesländer zu Reformen anstachelt und dringend notwendige Veränderungen nachahmenswert macht. Denn es liegt ja tatsächlich vieles im Argen, die Klagen von "#IchBinHanna" kommen nicht von ungefähr.

 

Doch ein über Nacht durchgewunkenes Gesetz schafft noch keine nachhaltige Reform der universitären Stellenstruktur. Und wenn man sie vergeigt, werden sich andere Bundesländer scheuen, dieses heiße Eisen anzufassen. Es wäre fatal, wenn nun andernorts Reformanstrengungen erlahmen würden.

 

Für eine nachhaltige und durchdachte Reform reichten die Ambitionen der Politik leider nicht, wie das Hickhack jetzt verrät. Vieles am Gesetz bleibt vage und unbestimmt, selbst die Verantwortlichen können kaum sagen, was wie gemeint war und welche Folgen sich daraus ergeben. Es fehlte jenseits des Tunnelblicks auf die Frage der Entfristungen jedweder Versuch, die Organisation Universität als Ganzes und die Spezifika des Wissenschaftssystems im Speziellen im Blick zu behalten. 

 

Der Kritiker darf gefragt werden, was man hätte besser machen können. Zunächst sollte man sehen, dass die Ziele nur im Paket zu erreichen sind, nicht mit einem einzelnen Paragrafen. Die Reform braucht also eine Flankierung durch weitere Maßnahmen. Der Wissenschaftsrat fordert schon lange, die Entfristungen neben und unterhalb der Professur deutlich auszuweiten. Dabei hat er Stellen im Blick, die dauerhaft finanziert, angemessen vergütet, und mit klaren Entwicklungsperspektiven verbunden sind. Das bedeutet neben einer Ausweitung der Mittelzusagen für die Universitäten auch, dass der Einstieg in die Postdoktorandenphase ein anderer sein muss als bisher und sich der Berufungspraxis annähern müsste. 

 

Das Kapazitätsrecht

braucht eine Frischekur

 

Wer Entfristungen will, wäre zudem gut beraten, auch die Frage der Lehrdeputate und der Kapazitätsberechnung im Auge zu halten. Entfristete Postdocs unterrichten laut Lehrverpflichtungsverordnung acht statt vier Semesterwochenstunden, die Forschungszeit schmölze zusammen. Das Gesetz lässt offen, was die "Anschlusszusage" zum Stellenantritt genau bedeutet und wie die Verträge ausgestaltet werden. Die genannten Qualifikationsziele weisen eine große Spannbreite auf, so dass man nicht weiß, in welchen Fristen sie erbracht werden sollten. Verbindliche Richtlinien bezüglich der Inhalte und Dauer der Postdoc-Qualifikationsphase existieren nicht. 

 

Mit der Postdoc-Entfristung käme es auch zu einem Aufwuchs der in die Universität hineinströmenden Studierenden, denn derzeit wird die Aufnahmekapazität sehr rigide nach dem Lehrpersonal und der Lehrverpflichtung berechnet. Bei uns am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin sprechen wir von etwa einem Dutzend Postdoc-Stellen. Nach Kapazitätsrecht hätte die Entfristung eine substanzielle Erhöhung der Studierendenzahlen zur Folge. Ein Aufwuchs, der sich weder in der Projektstruktur vieler Lehrangebote noch durch die räumliche Situation verkraften ließe. Über den Daumen gepeilt müsste man wohl mit fünf zusätzlichen Studienanfängern je Dauerstelle rechnen. Noch drastischer wäre der Zuwachs an Studierenden, wenn einige Stellen zu sogenannten Lehrkräften mit besonderen Aufgaben mit 16 Semesterwochenstunden pro Semester umgewandelt werden würden. Für die Fächer mit Laboren stellt sich dieses Problem noch viel verschärfter – man könnte auch sagen: kaum lösbar – dar. 

 

Es braucht also dringend ein verändertes Kapazitätsrecht, das sich dieser Problematik stellt. Das überbürokratisierte Kapazitätsrecht gilt ja generell als Hindernis für hochschulische Reformen und braucht dringend eine Frischekur. Es wäre zu wünschen, dass sich die neue Bundesregierung zusammen mit den Ländern zu einer Reformanstrengung aufschwingt. In seiner jetzigen Form verhindert die Regelung der Kapazitäten, dass bessere Betreuungsverhältnisse an den Hochschulen überhaupt hergestellt werden können.

 

Entfristung der Postdocs gegen 

geringeres Lehrdeputat der Profs?

  

Eine andere Stellschraube wäre die Veränderung der Lehrverpflichtung. Hier ließen sich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Die Berliner Universitäten befürchten im Wettbewerb um Spitzenforscherinnen und -forscher einen Wettbewerbsnachteil, weil dann in Berufungsverhandlungen keine freien Stellen mehr angeboten werden könnten. Man kann das kritisieren, aber gute Leute bringen "ihre" Postdocs oft gerne mit. Die Vorstellung, dass vorhandenes Personal umstandslos in neue Forschungsthemen und Arbeitsgruppen eingefädelt werden könnte, ist illusionär. Forschende sind keine Postzusteller.

 

Wissenschaftler:innen mit Rufen aus Berlin würden, wenn sie in Hamburg oder Leipzig Professuren mit frei besetzbaren Postdoc-Stellen – gemeinhin "Ausstattung" genannt – angeboten bekämen, Berliner Offerten mangels Attraktivität womöglich ausschlagen. Da Berlin keine Insel ist, muss man sich dieser Frage stellen.

 

Für exzellente Wissenschaftler:innen ist Zeit aber mindestens genauso wichtig wie Personal. Wie wäre es, Professuren mit einem Deputat von nur sechs (statt neun) Semesterwochenstunden auszustatten, um dies zu kompensieren? Das bräuchte man nicht adhocistisch und sofort zu machen, sondern könnte es in einem transparenten und mittelfristigen Prozess gestalten.

 

Die Regellehrverpflichtung ist zwischen den Bundesländern schon jetzt nicht einheitlich. Die Politik mag von einer solchen Lehrentlastung nicht gleich begeistert sein, aber angesichts der immer wieder nachwuchernden Fülle von Lehre, Betreuung, Antragswesen, Begutachtungen und Selbstverwaltung, ist die Forschung zum Randzeitphänomen geworden. Internationale Kolleginnen und Kollegen empfinden das deutsche Deputat als viel zu hoch und wundern sich. Das hohe Lehrdeputat ist oft auch ein Grund, warum die Gewinnung von wissenschaftlichen Talenten aus dem Ausland nicht gelingt.

 

Universitäten können beides gleichzeitig sein:
gute Arbeitgeber und Orte der Kreativität

 

Ich würde vermuten, dass zwei Drittel meiner Kolleginnen und Kollegen sogar freiwillig bereit wären, Postdocs zu entfristen und in einer Departmentstruktur zu verankern, sollte man ihnen ein geringeres Deputat in Aussicht stellen. Die knappste Ressource der Spitzenforschung ist die Zeit. Mitarbeiter:innenstellen können sich exzellente professorale Forscherinnen und Forscher auch über Drittmittel finanzieren, wobei sich hier wieder die Befristungsfrage stellen würde, denn der stetige Aufwuchs an Projektmitteln stellt ein notorisches Strukturproblem dar. In der Summe ließen sich die Veränderungen des Deputats bei den Professuren wie auch den Postdocs kapazitätsneutral herstellen, die Lehr- und Betreuungssituation würde sich aller Voraussicht nach erheblich verbessern, weil die Dauerstellen auch Kontinuität in der Lehre bedeuteten. 

 

Statt mit einem Schlag zu entfristen, bräuchte es zudem ein rollierendes Verfahren, um auch Doktorandinnen und Doktoranden, die in vier oder acht Jahren ihre Dissertationen beenden, Chancen einzuräumen. Die Gefahr einer Entfristungskohorte und vieler Nachfolgender im Wartestand ist ja nicht von der Hand zu weisen. Noch wissen wir nicht, ob und wie viele dieser Stellen durch Berufungen oder andere Karriereentscheidungen wieder frei werden. Man könnte das mit einer Quote in den Hochschulverträgen erreichen, die festlegt, dass innerhalb von zwei Jahren jeweils ein Viertel oder ein Drittel der Postdocs zu entfristen sind, solange bis das System eingespielt ist.

 

Zudem braucht es transparente Verfahren der Bestenauslese: Mehraugenprinzip, Wettbewerblichkeit, Beteiligung der unterschiedlichen Statusgruppen und klare Tenure-Regeln, die auch Scheitern erlauben. An Vorstellungen, wie die Übergänge genau zu gestalten sind, mangelt es bislang: Handelt es sich um einen Automatismus, der sich aus der Erfüllung bestimmter Mindeststandards ergibt, oder um ein härteres Verfahren der Auswahl? Es ist auch zu bedenken, wie man mit den qualifizierten Postdocs umgeht, die jetzt schon da sind: Sie dürfen nicht die Übersehenen gegenwärtiger Reformanstrengungen werden. 

 

So oder so. Wer die Universitäten reformieren will, braucht mehr Phantasie als den nachvollziehbaren Ruf nach Entfristung. Universitäten sollen gute Arbeitgeber sein, aber auch Orte der Kreativität und exzellenten Forschung. Beides schließt sich nicht aus, aber es braucht wissenschaftspolitisches Geschick, um es miteinander zu verbinden.



Kommentar schreiben

Kommentare: 17
  • #1

    Müder Statistiker (Freitag, 12 November 2021 09:57)

    Das ist ein erfreulich sachlicher Kommentar aus der
    Berliner Humboldt-Uni, der auch recht gute Ansätze für
    einen Weg aus dem "Berliner Kuddelmuddel" aufzeigt,
    Noch eine Frage: Wer hat nur dieses Unwort "Aufwuchs"
    erfunden? Das übliche Wort "Zuwachs" ist doch absolut
    unmißverständlich.

  • #2

    Ulrich Marsch (Freitag, 12 November 2021 10:57)

    Ein richtiger und guter Beitrag. Aber vielleicht müssten wir in Deutschland noch viel weiter gehen und Stellen für "Reader" und "Lecturer" einführen, die mehr sind als Akademische Räte? Bräuchten wir nicht viel differenziertere Stellenprofile als wir sie heute haben? Stehen wir nicht letztendlich vor einer Systemfrage? Mir scheint, wir wurschteln nur wieder an einigen wenigen Symptomen rum.

  • #3

    Benjamin Bisping (Freitag, 12 November 2021 14:19)

    Der Kern des Textes ist sehr überzeugend. Die Politikschelte zum Einstieg finde ich hingegen unangemessen.

    Die Politik hat fünf Jahre lang gesagt, dass sie PostDoc-Dauerstellen haben will. Es steht deutlich im 2016er Koalitionsvetrag (Abschnitt „Verlässliche Personalentwicklung und gute Arbeit“). Die Hochschulen haben sich mit den 2018er Hochschulverträgen dazu verpflichtet, solche Stellen aufzubauen (V 1.7ff. „Beschäftigungsbedingungen des wissenschaftlichen Hochschulpersonals”).

    Kunst und andere Hochschullenker*innen dachten, sie könnten irgendwie das Reformprojekt von R2G mit Hinhalten und leeren Versprechungen aussitzen oder zumindest verwässern.

    Das Ergebnis davon ist, dass am Ende dieses Prozesses kein optimaler Gesetzestext steht und die Hochschulen selbst nach fünf Jahren Vorwarnzeit unvorbereitet sind. Das fällt uns allen auf die Füße. (Ich bin selbst WiMi.) Doch der Politik kann man hier ausnahmsweise mal wirklich keinen Schnellschuss vorwerfen. Das neue BerlHG setzt uns alle in den Zugzwang, den wir vielleicht schon seit Jahren gebraucht hätten.


    Koalitionsvertrag 2016: https://www.berlin.de/rbmskzl/_assets/rbm/161116-koalitionsvertrag-final.pdf
    Hochschulvertrag 2018: https://www.berlin.de/sen/wissenschaft/politik/hochschulvertraege/hochschulvertrag-2018-2022-02-hu-inkl-anlagen.pdf

  • #4

    MüderProf (Freitag, 12 November 2021 14:38)

    Auch mir gefällt der Artikel. Allerdings frage ich mich - und diese Frage geht in eine ähnliche Richtung wie die von Ulrich Marsch -, ob die Entfristung von Postdoc-Stellen nicht langfristig ohnehin den Wegfall von Stellen für wissenschaftliche MitarbeiterInnen bedeuten wird. Das wäre eine weitere Kehrtwende hin zum angelsächsischen System, das wir alle sehr gut kennen. Vielleicht sollten wir anfangen, über diese Kehrtwende zu diskutieren. Sie hat - wie jedes System - Vor- und Nachteile.

  • #5

    Ein HU-Postdoc (Freitag, 12 November 2021 16:12)

    Auch ich finde die Politikschelte am Anfang unpassend, zumal - worauf hier Benjamin Bisping auch bereits hinwies - die in den Hochschulverträgen gemeinsam mit den Hochschulleitungen vereinbarten Entfristungsquoten für das haushaltsfinanzierte Mittelbau-Personal über etliche Jahre nicht erfüllt wurden.

    Aber es ist sehr zu begrüßen, dass hier jemand aus der HU-Professorenschaft Verantwortung übernimmt und konkreter Vorschläge macht. Zur vorgeschlagenen KapVO-Reformidee angemessen Stellung zu nehmen ist zwar hier nicht der Platz. Aber in der Forderung, dass es transparente Verfahren der Bestenauslese braucht, ist Herrn Mau unbedingt zuzustimmen.

    Denn – über attraktive Karrierewege hinaus, die Voraussetzung für ein breites Rekrutierungspotential zwecks “Bestenauswahl” sind (siehe: https://www.researchgate.net/publication/318653804) – ist eine systematische Personalauswahl notwendig, damit es künftig eine bessere Ausgewogenheit von Meritokratie und persönlicher Passung gibt. Hier ist noch Einiges zu tun, sonst würde die Umsetzung des neuen BerlHG nichts nützen, sondern könnte dann in der Tat schaden. Dafür stehen aber die Hochschulen selbst in der Verantwortung, denn in die konkrete Personalauswahl kann und sollte das Abgeordnetenhaus nicht eingreifen.

    Erfahrungsberichte und empirische Fakten dazu, auf deren Grundlage man dies besser als bisher (www.researchgate.net/publication/333163357) angehen könnte, gibt es auch bereits seit einigen Jahren. Dafür möchte ich auf das Buch von Peus u.a. (2015) zur Personalauswahl in der Wissenschaft verweisen (Rezension in: https://scilogs.spektrum.de/wissenschaftssystem/personalauswahl-in-der-wissenschaft-systematisch/).

  • #6

    David J. Green (Samstag, 13 November 2021 11:34)

    Doch, die Politiker*innenschelte ist vollkommen angebracht. Wenngleich der Berliner Senat zweifelsohne dafür gesorgt hat, dass die Notwendigkeit einer Karrierestruktur-Reform klarer denn je wird: Es ist derzeit ziemlich egal, was die Politik rückblickend meint, wie das neue Gesetz anzuwenden ist – es zählt alleine, wie die Gerichte das tatsächlich in Kraft getretene Gesetz auslegen werden. Und da niemand mit hinreichender Sicherheit das vorhersagen kann, wird die bereits eingetretene rechtliche Unsicherheit die angesprochene Selbstblockade solange bewirken, bis eine Gesetzesänderung in Kraft tritt.

    Ein recht wertvoller Beitrag, vielen Dank. Das mit dem Kapazitätsrecht machte mich zwar anfangs misstrauisch – Hannas Grundproblem ist dermaßen umfangreich, dass sie sich keine Trittbrettfahrenden leisten kann –, überzeugte mich aber dann doch schon.

    @Benjamin Bisping: Ich finde folgende Analogie passend: Die Politik kann so lange fordern, wie sie will, dass die Menschen mit dem Rauchen aufhören – solange sie selber aber Zigarettenautomaten überall aufstellt und selber betreibt, wird niemand sie ernst nehmen. Vieles an der heutigen universitären Beschäftigungsstruktur ist bloß eine konsequente Auswirkung der Anreize, die die Politik mit der genauen Form der Hochschul- und Wissenschaftsfinanzierung setzt. Die ExStra ist ein gar nicht unwesentlicher Teil davon, und die Berliner Politik hat bekanntlich da sehr aktiv mitgespielt.

  • #7

    Michael Liebendörfer (Samstag, 13 November 2021 11:35)

    Danke für den Blick auf die Kapazitätsverordnung.

    Könnte es sein, dass unbefristete Postdocs doppelte Lehre abliefern und dennoch gleichermaßen viel forschen können, weil sie sich nicht in neue Strukturen einarbeiten müssen, ständig bewerben und Unsicherheitsstress haben? Dann würde ich als Steuerzahler schon wissen wollen, wofür Qualiaktionsstellen in solchen Fächern angeboten werden, in denen kein Bedarf nach noch mehr gut ausgebildeten Leuten besteht, die sich auf Professuren bewerben. Aus zwei befristeten Stellen kann man eine unbefristete machen und für den Rest vom Geld findet sich schon ein guter Zweck.

    Und: warum schreiben Institute dennoch lieber befristet aus?
    Meiner Erfahrung nach haben wir nicht einfach zu wenig Geld, sondern zu wenig langfristige finanzielle Sicherheit. Kein Institutsleiter will als der in Erinnerung bleiben, der dem Institut den finanziellen Handlungsspielraum genommen hat. Es sind nicht nur Drittmittel, sondern auch befristete Landesmittel wegen kurzfristigem Bedarf wie doppelte Abijahrgänge, Studiengebühren, ihre Ersatzmittel, QPL-Mittel, HSP-Gelder, Berufungsmittel vom Präsidium, usw., die niemand auf Jahrzehnte sicher glauben kann und die folglich kaum in unbefristete Stellen fließen.

  • #8

    Prof im Ruhestand (Sonntag, 14 November 2021 15:32)

    In dieser sicher notwenigen Debatte gibt es einige ganz
    interessante Denkansätze. Mit dem Rückblick auf mehr
    15 Jahre in Leitungsfunktion auf Ebene von Institut und Dekanat und mit Kenntnis der Entwicklung fällt einem noch etwas ganz Anderes auf: Die Regelungswut in diesem
    Land und seinen Gliederungen führt dazu, daß immer mehr
    Kenntnisse zur Leitung erforderlich wird und die Rolle der Verwaltung sich zuungunsten der elementaren Prozesse in Lehre und Forschung verschoben haben. Zum Beispiel konnte man noch vor einigen Jahren Promovierende mit
    Stipendien flexibel finanzieren. Heutzutage ist das nicht mehr möglich und die Restriktionen zur Besetzung und Finanzierung von Stellen sind derart hinderlich geworden,
    daß den ProfessorInnen jegliche Flexibilität verwehrt wird.
    Ich stelle mir mit Grausen vor, daß der aktuelle Punkt im
    Berliner Gesetz wieder der Heerschar von Juristen und Bürokraten überlassen wird. Meine alte Erfahrung ist: Gebt den leitenden Personen in Lehre und Forschung die nötigen Mittel und Möglichkeiten zur Regulierung und nicht den
    (sicher willigen) Leuten in der Verwaltung, die von den
    realen täglichen Dinge oft nur wenig Ahnung haben .
    Noch zum Schluß: Ich genieße meinen Ruhestand, gern
    auch noch mit Forschung und Gutachten. Die Erzählungen
    meiner ehemaligen KollegInnen von ihrem Alltag erfüllen mich mitunter mit Staunen und auch dem guten Gefühl, den Dingen nicht mehr ausgeliefert zu sein.

  • #9

    Noch 'ne Hanna (Montag, 15 November 2021 11:25)

    "Zum Beispiel konnte man noch vor einigen Jahren Promovierende mit Stipendien flexibel finanzieren."

    "Flexible Finanzierung" - ohne durchsetzbare Arbeitsrechte und Sozialversicherung.

    Das klingt für mich ein bisschen nach Joops Nachtrauern "diese[r] Welt, die so wundervoll frivol und frigide war".

  • #10

    Senior Harvard (Montag, 15 November 2021 13:59)

    Dem Hochschullehrer außer Dient muss ich entgegnen, dass allen Führungskräften heute viel mehr abverlangt wird als es seinerzeit der Fall war. Das gilt mit Blick aufs Budget genauso wie für die Personalführung. Allein der Aspekt Personalauswahl erfordert heute eine ganze Woche Fortbildung und viel Aufwand. Das liegt nicht daran, dass alles schlechter wird, sondern daran, dass (Achtung!) Forschung gezeigt hat, dass es wichtig ist auf Eignung zu achten und Diversity. Für uns in den USA ist das selbstverständlich. Wenn ich mich mit deutschen Kollegen unterhalte, habe ich oft das Gefühl, dass diese nicht wissen, worum es hier eigentlich geht (Stichwort: Beschränkung der Wissenschaftsfreiheit).

  • #11

    KapVO (Montag, 15 November 2021 14:06)

    Das bürokratische Kapazitätsrecht ist eine schwierige Sache: wurde aufgrund des Verfassungsrechts von Gerichten erfunden (Erschöpfungsgebot). Daher ist nicht ganz klar, wie das kapazitätsneutral funktioniert ohne viel mehr Geld in Zeiten sehr knapper Kassen wegen Corona. Obwohl das Thema überall debattiert wird, kriegen die Unis mehr Geld. Andere müssen schließen �

  • #12

    Prof im Ruhestand (Montag, 15 November 2021 15:21)

    Dem verehrten Kollegen aus Harvard entgegne ich gern, daß ich meinen letzten (von mehr als 30) Doktoranden Ende des letzten Jahres hatte. Insofern ist mir schon sehr bewußt, wie eine ordentliche Auswahl von Doktoranden und Mitarbeitern läuft. Ich weis aber auch, wie sich das in
    den letzten 30 Jahren verändert hat. Wenn ein System aber
    immer nur komplizierter wird anstatt überschaubarer, dann ist etwas an den System nicht in Ordnung. Wenn ich mich recht erinnere, wurde es mit der Arbeitsministerin der SPD richtig kompliziert.
    Der werten "Noch'ne Hanna" wünsche ich gern etwas mehr
    Gelassenheit. in der Argumentation. Den Hinweis auf Herrn Joop verbitte ich mir in diesem Zusammenhang.

  • #13

    Cord Breitenstein (Dienstag, 16 November 2021 04:56)

    In "Zeit online" hat sich Frau Specht zum Thema geäußert.
    Vielleicht sollte sie für die Nachfolge von Frau Kunst kandidieren. Denn es kommt nicht nur darauf an, die Lage
    zu. interpretieren, sondern man muß sie ändern. So steht es ja schon sinngemäß im Aufgang der Humboldt-Uni.

  • #14

    McFischer (Dienstag, 16 November 2021 09:59)

    #Prof im Ruhestand:
    Gute Argumente, aber "Meine alte Erfahrung ist: Gebt den leitenden Personen in Lehre und Forschung die nötigen Mittel und Möglichkeiten zur Regulierung und nicht den
    (sicher willigen) Leuten in der Verwaltung, die von den
    realen täglichen Dinge oft nur wenig Ahnung haben ."

    Das finde ich unangemessen. Man kann nicht einerseits klagen, dass die gesetzlichen (und arbeitsrechtlichen) Regelungen immer dichter werden - und dann fordern, dass bitte die Professor*innen doch das alles freier bestimmen möchten.
    Hier zeigt sich das altbekannte System, dass Professor*innen zu solchen werden, weil sie gute Forschung (und oft auch gute Lehre) machen, aber nicht, weil sie Kompetenzen in der Personalführung haben. Oder einfacher formuliert: Ich kann nicht Chef*in von X Doktorand*innen, Mitarbeiter*innen sein wollen, andererseits mich aber nicht um Fragen des Arbeitsrechts, Arbeitsschutzes etc. kümmern wollen - und dann noch die Verwaltung beschimpfen, dass die ja noch weniger Ahnung haben.

  • #15

    Senior H. (Dienstag, 16 November 2021 10:48)

    Natürlich wird es für jede Person mit zunehmenden Alter anstrengender sich den Neuerungen zu stellen. Das ist auch ein großes Thema in der Personalentwicklung und wie der Demografie-Forschung. Nicht alles wird immer besser, aber vieles. Diese Erkenntnis scheint sich aber auch in Deutschland nicht immer durchzusetzen. Das ist ein Grund, warum Innovation oft woanders stattfindet.

  • #16

    Noch 'ne Hanna (Dienstag, 16 November 2021 10:48)

    Sehr geehrter Herr Wiarda,

    Sie können darauf verzichten, meinen letzten Kommentar zu veröffentlichen. Mich triggern solche Äußerungen wie die vom "Prof im Ruhestand" und das meine ich im wahrsten Sinne des Wortes: Ich leide wegen meiner Erfahrungen an der Universität Bremen an einer diagnostizierten PTBS und war sechs Jahre lang in psychiatrischer und traumatherapeutischer Behandlung. Bis zu einer halbwegs ordentlichen Klärung der ganzen Geschichte ist es noch ein weiter Weg und manchmal frisst mich einfach die Wut, die aus der extremen Ohnmachtserfahrung heraus entstanden ist (Reizbarkeit und Aggressivität sind ein Leitsymptom bei PTBS). Ich war jahrelang in Internetforen aktiv (bevor alles zu den Twitter abgewandert ist) und habe dort eigentlich gelernt, mich nicht auf nutzlose Diskussionen einzulassen. Jetzt habe ich schneller getippt, als gedacht, deswegen entsteht kein Schaden, wenn mein letzter Kommentar nicht veröffentlicht wird.

  • #17

    René Krempkow (Montag, 22 November 2021 15:47)

    #10, #13 bis 15 kann ich nur beipflichten.

    Und #7, Absatz 1 ist eine erfrischende Sichtweise, die ich shr gern einmal mit zahlen unterlegt sehen würde. Wofür haben wir eigentlich die riesigen Forschungskapazitäten in den Wirtschaftswissenschaften? ;-)