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Leopoldina plädiert für vorgezogene Weihnachtsferien an den Schulen

Zuvor hatten 27 Organisationen in ihrer aktualisierten Hygiene-Leitlinie Wechselunterricht und/oder teilweisen Distanzunterricht empfohlen – unter Mitwirkung auch von Kinder- und Jugendmedizinern.

DIE DEBATTE UM ERNEUTE SCHULSCHLIESSUNGEN spitzt sich zu. Jetzt empfiehlt auch die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina in einer am Samstag veröffentlichten Adhoc-Stellungnahme, die Weihnachtsferien vorzuziehen.

 

Brandenburg und Sachsen-Anhalt hatten als erste Bundesländer vergangene Woche angekündigt, dass der letzte Schultag bereits am 17. Dezember sein soll. Effektiv bedeutet dies die Komplett-Schließung der Schulen in der Woche vor Weihnachten.

 

Diesen Begriff vermieden die zuständigen Landesregierungen jedoch, ebenso heute die Leopoldina. Schon aus juristischen Gründen: Das vergangene Woche in Kraft getretene Infektionsschutzgesetz erlaubt Schulschließungen gar nicht mehr. 

 

Darauf wies gestern auch Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) in einem Tweet hin, nachdem die SPD-Landesvorsitzende Serpil Midyati verlangt hatte, das nördlichste Bundesland solle es Brandenburg und Schleswig-Holstein gleichzutun. "Ist das die gleiche SPD, die Schulschließungen, und nichts Anderes ist die Verlängerung von Ferien, durch die Reform des Infektionsschutzgesetzes untersagt?", schrieb Prien. "Es gebe dafür "schlicht keine Rechtsgrundlage mehr". Die Schulschließungen 2020 hätten den Erwachsenen gedient und den Kindern geschadet.



Mydati forderte Prien daraufhin auf, sie solle sich "nicht hinter dem Infektionsschutzgesetz verstecken".

 

Doch erschiene es tatsächlich kaum im Sinne des Gesetzes, Schulschließungen einfach anders zu nennen und sie dann – und seien es zunächst nur drei Tage – doch durchzuziehen.

 

Kurzfristig empfiehlt die Leopoldina
erstaunlich geringe Verschärfungen für alle 

 

Zu der Empfehlung der Leopoldina-Arbeitsgruppe in Bezug auf Kinder und Schulen gehören auch eine Impfung schon der 5- bis 11-Jährigen, drei Pflichttests pro Woche sowie "eine ausnahmslose Maskenpflicht" für Lehrkräfte und Schüler zu jeder Zeit im Schulgebäude. Begründet werden die empfohlenen Maßnahmen mit den hohen Inzidenzen unter Kindern und Jugendlichen, die dadurch zum Infektionsgeschehen betrügen. Dessen Folgen wiederum würden Kinder und Jugendliche schwer treffen, etwa wenn Angehörige schwer erkrankten oder stürben oder Kitas und Schulen wieder schließen müssten. 

 

Für die Gesamtbevölkerung empfiehlt die Leopoldina die Vorbereitung einer Impfpflicht, kurzfristig aber erstaunlich geringe Verschärfungen. Zwar drängen die Wissenschaftler auf "sofortige umfassende Kontaktbeschränkungen" auch für Geimpfte und Genesene, diese seien der Alternative einer strikteren, schärfer kontrollierten und sanktionierten 2G-Regelung vorzuziehen. Doch versehen sie ihre Empfehlung mit dem Zusatz, "zumindest in Regionen mit hoher Inzidenz" – eine starke Einschränkung, die bei der Forderung, die Weihnachts-Schulferien vorzuziehen, fehlt.

 

Auch was die Ausgestaltung der konkreten Kontaktbeschränkungen für alle angeht, bleibt die Leopoldina-Arbeitsgruppe auffällig zurückhaltend. Zu erwägen seien Maßnahmen "in Innenräumen und in Situationen, in denen viele Menschen zusammenkommen (z.B. Bars, Clubs, Veranstaltungen)", heißt es lediglich. Die Schließung von Restaurants, des Einzelhandels oder Hotels wird nicht genannt.

 

Die Leopoldina verweist in dem Zusammenhang auf das neue Infektionsschutzgesetz, das diese und weitere Beschränkungen nicht mehr zulasse, was bei extrem hohen Inzidenzwerten "problematisch" sei. 

 

Frappierend ist, dass auch die Gesetzesänderung – siehe oben – bei der Empfehlung, die Schulen früher dichtzumachen, nicht erwähnt wird. Zudem fehlt dort die explizite Forderung, die Schulen im weiteren Verlauf der Pandemie auf jeden Fall offenzulassen. Wäre sie drin in der aktuellen Leopoldina-Stellungnahme, würde die Empfehlung vorgezogener Weihnachtsferien womöglich weniger wie eine verklausuliertes Plädoyer für erneute Schulschließungen klingen. 

 

Immerhin haben die Wissenschaftler in Bezug auf Kitas unzweideutiger formuliert: Deren Schließung solle "möglichst vermieden" werden.

 

Leopoldina will keinen Wechselunterricht,
Jugendmediziner unter Umständen schon

 

Ebenfalls sehr eindeutig lehnen sie die Aussetzung der Präsenzpflicht an Schulen ab – die etwa Brandenburg und Sachsen-Anhalt ebenfalls beschlossen haben. Im Dezember 2020 hatte die Leopoldina eine Aussetzung noch selbst gefordert – und damals zusätzlich eine Verlängerung der Weihnachtsferien bis 10. Januar empfohlen. Tatsächlich blieben die Schulen bundesweit dann monatelang zu.

 

Auch Wechselunterricht solle "möglichst vermieden werden", empfiehlt die Leopoldina-Arbeitsgruppe diesmal. Was implizit dann doch als Forderung verstanden werden kann, die Schulen offenzulassen. Womit allerdings ein Widerspruch zur Empfehlung nach vorgezogenen Weihnachtsferien entstünde.

 

Die Schwammigkeit der Nationalakademie in Bezug auf Schulschließungen ist indes nicht neu: Schon das in der Leopoldina-Empfehlung vom Juni enthaltene Plädoyer für offene Schulen hatte sich auf Nachfrage als sehr weich herausgestellt

 

Urheber der Stellungnahme sind neben dem Charité-Chefvirologen Christian Drosten zehn weitere Mediziner, Medizinethiker und Experten des Gesundheitssystems sowie Leopoldina-Präsident Gerhard Haug.  

 

Erst gestern hatten 27 Fachgesellschaften und Organisationen ihre gemeinsam beschlossene Überarbeitung der erstmals im Februar veröffentlichten S3-Leitlinie zu "Maßnahmen zur Prävention und Kontrolle der SARS-CoV-2-Übertragung in Schulen" vorgestellt. Und so eindeutig fast alle darin enthaltenen neun Empfehlungen klingen, so gibt es auch hier Unschärfen. Die wichtigsten: ab wann genau einige von ihnen gelten sollen. Und wer tatsächlich hinter welchen der empfohlenen Maßnahmen steht.

 

Nicht überarbeitet wurde die erste Empfehlung. Sie lautet weiterhin, bei "hohem Infektionsgeschehen" sollten Klassen und Jahrgänge kohortiert werden, zusätzlich solle es entweder Wechselunterricht oder eine gestaffelte Öffnung nach Jahrgängen geben – was bedeutet, dass jüngere Schüler vollen Unterricht haben und ältere komplett von zu Hause lernen sollen. 

 

Bei "sehr hohem" Infektionsgeschehen sollten dann auch die jüngeren Kinder Wechselunterricht erhalten, während die älteren Schüler weiter zu Hause lernen müssten. 

 

Seit der Veröffentlichung der Original-Leitlinie im Februar stelle die ansteckendere Delta-Variante die Schulen mittlerweile "vor noch größere Herausforderungen", teilte die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) am Donnerstag mit. Wie die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) und die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) gehört die DGKJ zu den 27 Verbänden und Institutionen hinter der Leitlinie. 

 

Die Empfehlung zur "Reduktion der Schüler*innenzahl in Präsenzunterricht und/oder Kohortierung" wurde wie gesagt bereits Ende Januar beschlossen, damals mit zwei Gegenstimmen und einer Enthaltung. Wie aber passt ihre Weitergeltung mit dem Statement von DGKJ-Vizepräsidentin Ingeborg Krägeloh-Mann zusammen? Diese hatte bei Veröffentlichung der aktualisierten Leitlinie am Donnerstag zu Protokoll gegeben, dass die DGKJ sich für die Offenhaltung von Schulen ausspreche, solange dies möglich sei. Die Leitlinie stelle "konkrete Handlungsempfehlungen zusammen und schnürt sie zu einem Maßnahmenpaket, mit dessen Hilfe Schulen auch in dieser Phase der Pandemie geöffnet bleiben können".

 

Lehrerverbands-Präsident: Gebe nicht mehr 

viel auf Versprechungen der Politik

 

Ich fragte bei der DGKJ nach: Die Empfehlung laufe ja wohl angesichts der aktuellen Corona-Lage tatsächlich auf die Forderung nach einem sofortigen Übergang zu Distanzunterricht für ältere Jahrgänge hinaus – und nach Wechselunterricht für Grundschüler? Und die DGKJ unterstütze dies? Geschäftsführerin Olbrich antwortete daraufhin etwas kryptisch, dies hänge davon ab, "ob man das Infektionsgeschehen als hoch oder sehr hoch einschätzt". Nach Einschätzung von DFKJ-Vizepräsidentin Krägeloh-Mann, die an der Leitlinie mitgewirkt habe, sei das Infektionsgeschehen momentan "hoch".

 

Was man bundesweit so sehen kann, in einzelnen Bundesländern wie Bayern (heute Inzidenz 635) oder Sachsen (1.201) sicherlich nicht mehr. Und selbst "hohes Infektionsgeschehen" würde entsprechend der Leitlinie, siehe oben, entweder Wechselunterricht für alle oder Distanzunterricht für die älteren Schüler bedeuten.

 

Nicht einigen konnten sich die 27 Verbände und Organisationen übrigens bei der Frage, ob der Einsatz mobiler Luftreiniger in Schulen als ergänzende Maßnahme zum Lüften zur Aerosolreduktion erwogen könne (Empfehlung 9.1), "wenn grundsätzlich eine ausreichende Lüftung gewährleistet ist und die Einschätzung durch Fachleute erfolgt": 14 waren dafür, 12 dagegen. 

 

Derweil hat Bayerns Staatsregierung flächendeckende Schulschließungen nach eigenen Angaben weiter nicht geplant. Am Donnerstag hatte Sachsens Gesundheitsministerin Petra Köpping (SPD) gesagt, sie sehe im Freistaat zwar keine Alternative mehr zu einem harten Lockdown, doch auch dann könne man noch abstufen und etwa Kitas und Schulen offenhalten.

 

Auch die designierte Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) bekräftigte Mitte der Woche, dass sie Schulschließungen unter allen Umständen vermeiden wolle. 

 

Demgegenüber sagte der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, der Passauer Neuen Presse, er rechne mit Blick auf die angespannte Corona-Lage wieder mit großflächigeren Schulschließungen. Bereits jetzt müssten viele Schulen wegen heftiger Infektionsausbrüche schließen, die Gesundheitsämter kämen mit der Kontaktverfolgung nicht mehr hinterher. Er gebe daher nicht mehr viel auf die Versprechen der Politik. 

 

Seit wieder Schule ist, steigen Infektionen bei
Kindern langsamer als bei Erwachsenen

 

Die Leopoldina fordert vorgezogene Weihnachtsferien, lehnt aber Wechselunterricht ab. Die Kinder- und Jugendmediziner wollen die Schulen auch in dieser Phase der Pandemie offenhalten, doch die von ihnen mutbeschlossene S3-Leitlinie läuft auf sofortigen Wechselunterricht hinaus, mindestens. Parallel bevölkern immer noch zehntausende Fans, wie am Wochenende in Köln, ohne Abstand Fußballstadien und missachten die Maskenpflicht. Währenddessen beharren die meisten Politiker darauf, dass sie erneute flächendeckende Schulschließungen unbedingt vermeiden wollen – doch müssten sie dafür die Erwachsenen längst umso entschiedener für die Corona-Eindämmung in die Pflicht nehmen. Entsprechend hat das Vertrauen in die politischen "Wir halten die Schulen offen"-Versprechungen vor allem bei Eltern und Lehrkräften stark gelitten. 

 

So nebelig und verwirrend die derzeitig die derzeitige Debatte ist, so empirisch schräg ist sie zugleich: Denn vieles spricht dafür, dass länger anhaltende Schulschließungen nicht nur große soziale Schäden verursachen, worin immerhin sich alle einig sind – sondern auch zu einem weiteren Kontrollverlust in der Pandemie führen könnten.

 

So sind zahlreiche Forschergruppen im In- und Ausland, darunter das Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA), mit ihren statistischen Analysen zum selben Ergebnis gekommen: Der Schulunterricht dämpft tendenziell, solange er mit obligatorischen und regelmäßigen Schnelltests verbunden ist, die gesellschaftliche Corona-Dynamik. "Das Wiederöffnen der Schulen nach den deutschen Sommerferien trug vermutlich sogar dazu bei, dass die Inzidenzzahlen niedriger geblieben sind, als sie bei geschlossenen Schulen gewesen wären", schreiben die IZA-Forscher. Die Pflichttests in Schulen stellten ein wichtiges Mittel dar, Ausbrüche frühzeitig zu erkennen und zu isolieren, was zur Eindämmung der Pandemie beitragen könne.

 

Tatsächlich zeigte die Corona-Entwicklung seit dem Sommer in den Bundesländern das immer gleiche Muster: In den Sommerferien ein alltäglicher Anstieg, dann ein starker Inzidenz-Sprung vor allem bei den Kindern und Jugendlichen in den ersten zwei, drei Wochen nach Schulstart, anschließend über viele Wochen eine Seitwärts- oder sogar Abwärtsbewegung. Mit anderen Worten: Die Ferien trieben die Ansteckungen, die Schul-Pflichttests deckten die Dynamik auf und dämmten, zusammen mit anderen Hygienemaßnahmen in den Schulen, die weitere Ausbreitung ein.

 

Insofern würden etwa vorzeitige Weihnachtsferien die sehr hohen Inzidenzen bei Kindern nominal senken, weil diese weniger getestet werden, tatsächlich aber möglicherweise das Infektionsgeschehen weiter anheizen. 

 

In der vergangenen Kalenderwoche entfielen 19,1 Prozent der ans Robert-Koch-Institut (RKI) gemeldeten Neuinfektionen auf die Altersgruppe der 5- bis 14 Jährigen und 6,2 Prozent auf die 15- bis 19-Jährigen. Nach den Sommerferien Mitte September betrug ihr Anteil an allen neuen Corona-Fällen 21,5 Prozent bzw. 9,2 Prozent. Das bedeutet, dass, seit wieder Schule war, auch bei den größtenteils ungeimpften jüngeren Schülern der Anstieg der Corona-Fälle deutlich unterdurchschnittlich war – ausgehend von einem in den Sommerferien stark angestiegenen Ausgangsniveau.

 

Der Bonner Politikwissenschaftler David Kaldewey twitterte am Nachmittag: Die aktuelle Frage sei nicht "Lockdown oder kein Lockdown", sondern ob es diesmal ein Lockdown für die Erwachsenen anstatt einer für Kinder, Jugendliche und Familien werde. "Die "drei Tage früher Weihnachtsferien" (die natürlich für die Kinder, nicht für die Erwachsenen gelten) zeigen die Richtung an, leider."

 

Hinweis: Ich habe den Artikel am 27. November um 22 Uhr aktualisiert.



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Kommentare: 2
  • #1

    Ben (Samstag, 27 November 2021 16:37)

    Und dann gibt es noch Portale wie news4teachers die immer laut auf Schulschließungen plädieren - damit sie ein haufen Geld machen mit Digitaler Bildung. Auf was man alles kommt wenn man sich die Hintergründe mal genauer anschaut...

  • #2

    Martina (Samstag, 27 November 2021 17:11)

    @Ben: Sehr interessant. Haben Sie Quellen?