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Thüringer Kehrtwende

Bildungsminister Helmut Holter will jetzt doch nicht alle Schulen nach den Weihnachtsferien schließen. Offenbar hat er sich juristisch verschätzt. Bundespolitisch ein wichtiges Signal – landespolitisch sind die Folgen des Hin und Her gravierend.

THÜRINGENS LANDESREGIERUNG rudert zurück: Anders als kurz vor Weihnachten angekündigt, soll es jetzt doch keine flächendeckenden Schulschließungen geben. Stattdessen werde die Form des Unterrichtsbetriebs vom jeweiligen Infektionsgeschehen vor Ort abhängig gemacht, teilte das Bildungsministerium von Helmut Holter (Linke) am späten Dienstagabend mit.

 

Was konkret bedeutet: Es kann vollen Präsenzbetrieb geben, es kann aber auch Einschränkungen geben, entweder für einzelne Klassenstufen oder ganze Schulen – abhängig davon, ob und wie viele Schüler und Lehrkräfte aktuell oder vor kurzem infiziert waren oder sich in Quarantäne befinden.

 

In diesem Fall wird der Unterricht bis einschließlich Klasse 6 möglichst in vollem Umfang, aber in festen Lerngruppen stattfinden, ab Klasse 7 soll dann das Wechselmodell gelten. Kompletter Distanzunterricht soll die Ausnahme bleiben. Wird er beschlossen, soll für die Klassenstufen 1 bis 6 eine Notbetreuung angeboten werden, allerdings nicht für alle Kinder.

 

Die Kehrtwende ist bemerkenswert: Offenbar hatte sich die Landesregierung verschätzt, was die Vereinbarkeit der von ihr geplanten Schulschließungen nach den Weihnachtsferien mit dem geltenden Infektionsschutzgesetz angeht.

 

Bildungsrechtsexpertinnen hatten vor 
der Gesetzwidrigkeit der Pläne gewarnt

 

Meine diesbezüglichen Anfragen waren seit dem Tag vor Weihnachten unbeantwortet geblieben, während Bildungsrechtsexpertinnen die Rechtmäßigkeit des Thüringer Vorgehens öffentlich angezweifelt hatten. Das geänderte Infektionsschutzgesetz schließe explizit die bundeslandweite Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen aus, sagte etwa die Wiesbadener Bildungsanwältin Sibylle Schwarz. Einzelne Schule könnten dagegen geschlossen werden. 

 

Genauso will das Bildungsministerium in Erfurt jetzt offenbar vorgehen. Als Begründung, warum meine Anfragen so lange unbeantwortet geblieben waren, hieß es gestern Abend aus der Pressestelle lediglich, man habe die "neue Allgemeinverfügung" abwarten wollen. 

 

Die online abrufbare Mitteilung mit den neuen Plänen nimmt nun keinerlei Bezug auf die nur sechs Tage zuvor gemachte Ankündigung der Komplett-Schließungen. Sie tut im Gegenteil so, als konkretisiere das Ministerium lediglich seine Planungen, um die Schulen "auf die prognostizierte starke Infektionswelle mit der neuen Omikron-Variante des Coronavirus ab Jahresbeginn" vorzubereiten. Weiter heißt es: "In ganz Thüringen besteht nunmehr unter Berücksichtigung der Situation vor Ort die Möglichkeit, Distanzunterricht schulbezogen umzusetzen. Trotz des zu erwartenden erhöhten Infektionsgeschehens können gleichzeitig die Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen durch eingeschränkten Präsenzunterricht gewahrt werden."

 

Minister Holter kommentierte auf Twitter, jede politische Entscheidung gehe "mit einer rechtlichen Umsetzung sowie gegebenenfalls auch mit einer fortgeschrittenen Informationslage einher". Heute Morgen bestätigte er dann, dass es einen Eilantrag am Oberverwaltungsgericht Weimar gegen die vor Weihnachten beschlossenen Pläne gegeben habe. Sein Ministerium müsse hierzu bis zum 30. Dezember Stellung nehmen.

 

Neuer Frust durch
neue Regelung

 

Die neue Regelung sorgt derweil schon wieder für Frust. Von den alten Plänen bleibt nämlich, dass alle Thüringer Schulen nach den Weihnachtsferien am Montag und Dienstag geschlossen bleiben (offiziell zum "eigenständigen Lernen" und Stoffwiederholen). Innerhalb dieser zwei Tage sollen die Schulleitungen dann die Infektionslage in jeder einzelnen Schule und Klassenstufe eigenständig ermitteln, um daraufhin ebenfalls in Eigenregie die Form der Unterrichtsorganisation festzulegen. Nur Komplett-Distanzunterricht muss mit dem Schulamt abgestimmt werden. 

 

Wie die Ermittlung funktionieren soll, wenn an diesen beiden Tagen die Schüler gar nicht in der Schule sind, ist offen und scheint so wenig durchdacht wie praktikabel zu sein. Klar ist, dass die Allgemeinverfügung festlegt, dass die Schulleitungen ihre Einschätzung wöchentlich wiederholen sollen. Sobald es mehr als eine mit Corona infizierte Person gibt, können abgestufte Einschränkungen des Unterrichts umgesetzt werden. Ein Abwälzen der Verantwortung und des mit ihr einhergehenden Ärgers auf die einzelnen Schulen?

 

Das bundespolitische Signal aus Thüringen ist so wichtig wie eindeutig: Die einzige Landesregierung, die bundeslandweit Distanzunterricht umsetzen wollte, rückt davon ab – als Folge eines gerichtlichen Eilantrages und offenbar aus der erstaunlich späten Erkenntnis heraus, dass flächendeckende Schulschließungen nicht mit dem geltenden Infektionsschutzgesetz vereinbar sind. 

 

Landespolitisch bedeutet die Entscheidung jedoch auch: Die erratische Thüringer Bildungspolitik der vergangenen Monate setzt sich fort. Sie besteht in einem schwer nachvollziehbaren Hin- und und Herschwingen zwischen den Extremen – vom Aussetzen der Masken- und Testpflicht entgegen allen Expertenrats noch im Herbst über die öffentlich bis heute nicht ausreichend geklärte Entlassung von Staatssekretärin Julia Heesen bis hin zu den jetzt aufgegebenen landesweiten Distanzunterrichts-Vorhaben. Die Luft für den verantwortlichen Bildungsminister Helmut Holter, der einst so erfolgreich in sein Amt gestartet und auch als KMK-Präsident positiv aufgefallen war, wird immer dünner.

 

 

Nachtrag am 29. Dezember, 13 Uhr 

Helmut Holter geht zum Gegenangriff über, KMK-Präsidium tagt morgen per Schaltkonferenz

Der linke Bildungsminister forderte am Mittwoch vom Bund eine Änderung des Bundesinfektionsschutzgesetzes, um doch flächendeckenden Distanzunterricht zu ermöglichen. Er erwarte, dass sich die Kultusministerkonferenz (KMK) noch vor der nächsten Schaltkonferemz der Regierungschefs von Bund und Ländern am 7. Januar entsprechend verständige, um Empfehlungen zu formulieren, sagte er der Nachrichtenagentur dpa. "Alle wissen doch, dass die Omikron-Welle kommt. Im Moment ist mir das, was auf Bundesebene läuft, zu spät."

 

Zuvor hatte schon der Pressesprecher des Thüringer Sozialministeriums, Frank Schenker, getwittert, der von Holter vor Weihnachten angekündigte Sicherheitspuffer nach den Ferien komme. "Die Ausgestaltung wird nur ein bisschen komplexer, weil der Bund sich Zeit lässt, die Rechtslage an die Omikron-Variante anzupassen."

 

Es scheint die aktuelle Verteidigungslinie nach dem Schulschließungs-Chaos zu sein: KMK und Ampel-Koalition sind schuld, und Thüringen ist seiner Zeit einfach voraus. 

 

KMK-Pressesprecher Torsten Heil bestätigte am Nachmittag auf Anfrage, dass es morgen eine Schaltkonferenz des KMK-Präsidiums geben werde, Thema: das weitere Vorgehen nach den Weihnachtsferien. Dass bei dem Gespräch auch Holters Forderungen eine Rolle spielen dürfte, ist anzunehmen. Ob vor dem 7. Januar eine Runde aller Kultusminister einberufen wird, war laut Heil heute noch offen.

 

(Den letzten Absatz habe ich am 29. Dezember um 15 Uhr ergänzt).



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