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Zeit für die neue Normalität

Die Corona-Inzidenzen steigen wieder, doch hat die Politik zurzeit trotzdem keine Rechtfertigung für weitere Einschränkungen. Eine Analyse der aktuellen Zahlen und die Schlussfolgerung daraus.

DER 19. MÄRZ NAHT, und die Debatte, wie es danach weitergehen soll mit den Corona-Regeln, läuft heiß. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) warnt vor einer Sommerwelle, wenn alle alles machen dürfen, die FDP hält dagegen: Warnungen vor eventuellen Entwicklungen, die so eintreffen könnten oder nicht, rechtfertigten keine gravierenden Grundrecht-Einschränkungen auf Vorrat. Währenddessen steigen die Corona-Zahlen wieder an. Heute Morgen meldete das Robert-Koch-Institut (RKI) eine Inzidenz von 1.293,6. Das waren gut 80 Punkte (6,6 Prozent) mehr als vergangenen Dienstag. Und was bedeutet das?

 

Wenn man sich die Zahlen genauer ansieht, dreierlei. Am wichtigsten ist aber die Schlussfolgerung daraus. Erstens: Am meisten treibt gerade nicht die noch ansteckendere Omikron-Variante BA.2. die Dynamik, sondern der Karneval. Zweitens: Die gemeldeten Infektionszahlen bei den Kindern und Jugendlichen gehen in Gegensatz zu den Erwachsenen weiter zurück. Drittens: Auf den Intensivstationen entspannt sich die Lage weiter. Und die Schlussfolgerung: Es ist Zeit für die neue Normalität nach der akuten Phase der Pandemie – soweit man davon angesichts der weltpolitischen Lage überhaupt noch reden kann.

 

Infektionstreiber Karneval

Die großen Umzüge sind wegen des Ukraine-Krieges abgesagt worden, doch das hat die Menschen offenbar nicht vom Feiern abgehalten. Zwar legten im Vergleich zur Vorwoche die gemeldeten Neuinfektionen heute in 13 von 16 Bundesländern zu, doch in den meisten moderat. Nicht so in Nordrhein-Westfalen (+20,0 Prozent auf 1.232,1), dem Saarland (+23,6 Prozent auf 1.511,2) und, am extremsten, in Rheinland-Pfalz: ein Plus von krassen 52,6 Prozent im Wochenvergleich auf  1.199,7. Dass das an Partys aller Art lag, ist sehr wahrscheinlich, wenn man sich die Dynamik der neuen Fälle nach Altersgruppen in den drei Bundesländern anschaut. 0 bis 4: -8,6 Prozent. 5 bis 14: -11,4 Prozent. Über 60: -4,0 Prozent. Und 15 bis 59: +18,8 Prozent. 

 

Dass es auch wieder etwas mehr gemeldete Neuinfektionen in Hamburg (+8,7 Prozent auf 596,0), Bremen (+1,6 Prozent auf 723,0) und sogar deutlich mehr in Schleswig-Holstein (+14,8 auf 1007,0) gab, also in den Nord-Ländern, wo die Omikron-Welle schon durch war, dürfte dagegen tatsächlich vor allem an BA.2. liegen. Aber die Dimensionen sind geringer als im Karneval-begeisterten Westen Deutschlands. Stark sind die Zuwächse auch in den Ost-Ländern, die aber noch vor dem Scheitel "ihrer" später angelaufenen Omikron-Welle befinden: Thüringen: +17,8 Prozent auf 1525,4 und Sachsen: +11,0 Prozent auf 1301,3. In Berlin (-18,2 Prozent auf 853,1) geht es derweil im Bundesvergleich am stärksten runter, in Brandenburg (+1,1 Prozent auf 1446,1) und Sachsen-Anhalt (-4,9 Prozent auf 1.726,9) stagnieren die Zahlen, in Mecklenburg-Vorpommern steigen sie um kräftige 17,4 Prozent auf die bundesweit höchste Inzidenz von 1.806,8 – wohl mit BA.2. als zusätzlichem Treiber, weil Omikron hier auch relativ früh begonnen hatte. Derweil ein Minus um 7,4 Prozent in Bayern (auf 1.560,4), ein Plus um 5,9 Prozent in Baden-Württemberg (auf 1.484,9) und um 6,7 Prozent in Niedersachsen (auf 1213,5) , in Hessen wenig Veränderung (+1,3 Prozent auf 933,9.

 

Erfreulich positive Entwicklung bei Kindern

Auch bundesweit sind es die Erwachsenen, die den erneuten Anstieg treiben. Mit der Folge, dass der Anteil der Kinder und Jugendlichen an den gemeldeten Neuinfektionen seit Wochen immer weiter fällt, und zuletzt sogar noch schneller. In der vergangenen Kalenderwoche waren 3,9 Prozent aller registrierten Neuinfizierten unter 5 und 14,1 Prozent zwischen 5 und 14. Macht insgesamt 18,0 Prozent – im Vergleich zu 26,1 (!)Prozent vor vier Wochen. Das ist ein enormer Rückgang. Auch absolut: 196.814 gemeldete Neuinfektionen statt 335.045 (-41,3 Prozent). Die Entwicklung bei allen übrigen Altersgruppen: 898.577 statt 950.569 (-5,5 Prozent).

 

Weniger schwer Kranke, Beruhigung auf Normalstationen 

Schon als die Corona-Inzidenzen Rekordniveau hatten, war die Entwicklung auf den Intensivstationen erstaunlich. Erst kaum ein Anstieg, dann sogar ein langsamer, aber stetiger Rückgang. Gestern befanden sich noch 2.156 Patienten mit einer Corona-Infektion in Intensiv-Behandlung. Das ist ein Drittel des im vergangenen Frühjahr erreichten Maximalwerts. Und erneut vier Prozent weniger als in der Vorwoche. 

 

Auf den Normalstationen sieht die Lage weniger entspannt aus. Die Interpretation der RKI-Daten ist hier allerdings schwieriger, weil die Zahlen einem enormen Meldeverzug unterliegen und auch nicht systematisch zwischen Covid-19 als Haupt- oder Nebenbefund unterschieden wird. Was sich festhalten lässt: Die jüngsten Meldungen deuten auf eine Trendwende hin. So verzeichnet das RKI aktuell für die vorvergangene Kalenderwoche (8) 6.594 Corona-Patienten in den Krankenhäusern. Vor einer Woche waren es für die Kalenderwoche 7 noch 6.594. Auffällig ist auch hier der starke Rückgang bei den Kindern und Jugendlichen zwischen 5 und 14. Sie stellten in Kalenderwoche 8 knapp 3,2 Prozent der Covid-positiven Patienten. Zwei Wochen vorher waren es noch 3,8 Prozent. 

 

Die Schlussfolgerung: Zeit für die neue Normalität

Bei den Verhandlungen der Ampel über die Neufassung des Bundesinfektionsschutzgesetzes sollte klar sein: Das Argument, das Gesundheitssystem müsse vor einer Überlastung geschützt werden, greift aktuell nicht mehr. Auch den ganzen Winter über und auch bei den Rekordinzidenzen konnten alle Patienten bundesweit behandelt werden, ohne dass eine Triage drohte. Insgesamt liegt die Corona-Krankheitslast massiv unter dem Vorjahr, was sich vor allem an der Entwicklung auf den Intensivstationen zeigt. Die weiter relativ hohen Zahlen auf den Normalstationen sind aus den oben genannten Gründen schwerer zu interpretieren, doch festzuhalten ist auch hier: Selbst eine angespannte Situation ist, insofern bewältigbar, sehr ärgerlich und frustrierend für das Pflegepersonal und ein sozialpolitisches Armutszeugnis der Politik. Aber kein Grund für größere wirtschaftliche oder gesellschaftliche Einschränkungen. Denn dann ist jeder mit seinem Verhalten und seinen Entscheidungen (etwa zur Impfung) selbst für sein Wohl verantwortlich. Womit Lauterbachs Argument, Deutschland befinde sich aufgrund der hohen Zahl ungeimpfter Älterer in Europa in einer Sonderlage, keines sein kann. Zumal der Gesundheitsminister erst einmal dafür sorgen müsste, dass die erhobenen Zahlen auch zum Impfstatus akkurater würden.

 

Natürlich könnte man argumentieren, die Gesellschaft als Ganzes schulde den Risikopatienten aller Generationen Solidarität. Festzuhalten ist aber: Das tat sie auch vor der Corona-Pandemie. Die Frage muss daher lauten, wie sich diese Solidarität mit dem Recht und dem Wunsch so vieler nach einem möglichst umfassenden Ende der Einschränkungen verbinden lässt – weil alles Andere gesellschaftlich nicht durchzuhalten sein wird. Die Antwort muss die Politik geben, vor allem Gesundheitsminister Lauterbach: in Form passender Schutzkonzepte für jene, die sie vor allem brauchen. Damit auch sie an der Gesellschaft teilhaben können. Ja, das kostet viel Geld und Anstrengungen. Doch einfach nach Einschränkungen für alle zu rufen, wird, selbst man sich mehr Solidarität wünscht, nicht funktionieren. Es ist auch zu einfach gedacht.

 

Und noch eines: Wer sich anschaut, wie die Erwachsenen gerade die Inzidenzen hochtreiben, der kann nicht ernsthaft von Kindern und Jugendlichen fordern, dass sie als einzige gesellschaftliche Gruppe noch über den März hinaus einer anlasslosen Testpflicht in den Kitas und Schulen unterliegen. Der kann auch nicht wirklich die Möglichkeit einer Maskenpflicht in Bildungseinrichtungen fordern – nicht aber für Fabriken oder Büros, wo Menschen ebenfalls eng zusammenkommen müssen, ob sie wollen oder nicht. Und wie kann es sein, dass offenbar vor allem Partys die Dynamik befördern, aber in Clubs und Kneipen wieder ohne Masken auf engsten Raum gegröhlt und gesungen werden darf?

 

Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich denke, das kann mit Blick auf die Krankenhauszahlen durchaus sein. Aber bitte dann für alle die gleiche Behandlung. Und nicht wieder die Kinder und Jugendlichen zuletzt. 

 

Nachtrag am 10. März:

Gestern hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach den Entwurf des neuen Bundesinfektionsschutzgesetzes im Kabinett vorgelegt. Demzufolge würden die Länder weiter eine Testpflicht in den Schulen erlassen dürfen, aber keine Maskenpflicht mehr. Was indes auffällt: Für Büros und Fabriken (also die täglichen Aufenthaltsorte der Erwachsenen) sollen alle Regeln ersatzlos entfallen, inklusive der bisherigen 3G- und der Homeoffice-Pflicht. Die Kultusminister werden sich voraussichtlich morgen zur Bundesinfektionsschutzgesetz-Novelle und ihren Auswirkungen auf die Schulen äußern.



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Kommentare: 2
  • #1

    twisdu (Dienstag, 08 März 2022 14:18)

    Und wieder einmal werden in der Diskussion, leider auch in diesem Blogbeitrag, die Pflegeheime vergessen. Dort hat sich im Lauf des letzten halben Jahres erneut ein Wildwuchs an oft ebenso ineffektiven wie nicht selten die Grenze zur inhumane Schikane überschreitenden Maßnahmen etabliert (siehe z.B. die Angehörigen-Berichte auf https://www.biva.de/corona-im-pflegeheim/corona-im-pflegeheim-ihre-erfahrungen/). Statt dort durch klare, verbindliche, die Rechte der Bewohner auf Prophylaxe UND auf Lebensqualität wahrende Regelungen und die Akzeptanz eines Restriskos, das in Gemeinschaftseinrichtungen letztlich nie ganz ausgeschlossen werden kann, endlich wieder für lebenswerte Zustände zu sorgen, und statt endlich den Pflegenotstand, der auch ein wesentlicher Aspekt der Probleme in den Heimen ist, anzugehen, diskutiert man über Schulen, Veranstaltungen, Gastronomie, Schulen, Karneval, Fußball, Schulen ... etc.pp. Als gäbe es die Bewohner der Einrichtungen und ihre Angehörigen, diejenigen, die von der Pandemie in allen Aspekten (Infektionshäufigkeit, Krankheitsschwere UND Kollateralschäden von Maßnahmen) am schwersten betroffen waren, überhaupt nicht. Als hätten sie kein Recht auf Normalität. Und schon gar kein Recht auf Selbstbestimmung. Wir fallen zurück in längst vergangen geglaubte Zeiten. Aus Bewohnern sind in viel zu vielen Einrichtungen wieder Insassen geworden. Es ist zum ...

  • #2

    Birger Horstmann (Mittwoch, 09 März 2022 09:35)

    Gerade hat Herr Lauterbach verkündet, dass Testpflichten in den Schulen auch nach dem neuen Infektionsschutzgesetz möglich bleiben sollen. Ich bin mal gespannt, ob auch die Testpflicht am Arbeitsplatz bleibt.