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Jetzt nicht in die alten Muster zurückfallen

In der Pandemie mussten die Hochschulen auf den Digitalbetrieb umsteigen. Wie sorgen wir dafür, dass bei der Rückkehr zur Präsenz wichtige Errungenschaften nicht verloren gehen? Und wie erhält die Hochschullehre im digitalen Zeitalter die Bedeutung, die ihr zusteht? Ein Gastbeitrag aus der Jungen Akademie Mainz.

Mitglieder der AG Hochschullehre am 24. Februar 2022 im Zoom-Meeting. Foto: Screenshot.

DIE PANDEMIE HAT die Herausforderungen des Hochschulsystems und insbesondere der Hochschullehre wie unter einem Brennglas sichtbar gemacht. Zwar wurden Entwicklungen hin zur digitalen Lehre beschleunigt, jedoch hat die zwischenzeitliche Entspannung der pandemischen Lage auch gezeigt, wie schnell alle wieder in alte Muster zurückkehren, wenn die akute Krise vorüber zu sein scheint. 

 

Die Studierendenschaft ist zunehmend heterogen (in Hinblick auf familiäre Bildungshintergründe, sozioökonomische Lage, Internationalität, parallele Berufstätigkeiten, Care-Verpflichtungen oder die Entfernung zwischen Wohnort und Universität). Darauf muss Hochschullehre reagieren: Die Frage der Inklusivität von Lehre ist zentral, wobei die beschriebene Heterogenität immer stärker auch die Lehrenden betrifft. Die Lehre wird in großen Teilen von prekär beschäftigtem Personal gestemmt, für dessen Fortkommen in einem hochkompetitiven System allerdings primär Leistungen in der Forschung, der Drittmittelakquise oder im Bereich der "Third Mission" entscheidend sind. Unter diesen Umständen wird die Lehre zwangsläufig – wenn auch ungewollt – zum vernachlässigten Ballast einer Wissenschaftskarriere. 

 

Als Mitglieder der Arbeitsgruppe "Hochschullehre im digitalen Zeitalter" der Jungen Akademie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz haben wir uns mit der Frage beschäftigt, wie die Hochschullehre im digitalen Zeitalter die Bedeutung erlangen kann, die ihr zusteht. Nach mehreren Gesprächsrunden mit Studierenden, nationalen und internationalen Lehrenden, Verwaltungsmitarbeitenden und Hochschulleitungen deutscher und ausländischer Universitäten sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass die Reformen sehr grundsätzlich sein müssen. Sie sollten einerseits die Veränderungen der Studierendenschaft, und andererseits die Situation der Hochschullehrenden in den Blick nehmen. Konkret ergeben sich für uns folgende Forderungen:

 

1. Die Reform der Hochschullehre im digitalen Zeitalter
als Strukturaufgabe anerkennen und finanzieren

 

Der durch die Pandemie angestoßene Reflexions- und Diskussionsprozess über die Bedingungen und Möglichkeiten universitärer Lehre im digitalen Zeitalter darf keine Episode bleiben, sondern muss in möglichst langfristige und nachhaltige Strukturen mit entsprechender Finanzierung überführt werden.

 

Der Umbau der Universität und Lehre ist eine Strukturaufgabe, deren Lasten gleichmäßig und nachhaltig innerhalb des Systems zu verteilen sind. Dies erfordert eine deutliche Erhöhung von Investitionen in die Grundfinanzierung von Lehrentwicklung auf technischer und personeller Ebene. Ohne eine grundlegende Reform der problematischen Personalstrukturen des Hochschulsystems, wie sie zuletzt in der "#IchbinHanna"-Debatte öffentlichkeitswirksam verhandelt wurde, kann dies nicht gelingen.

 

Gerade in den Geistes- und Sozialwissenschaften herrscht noch immer eine verbreitete Skepsis gegenüber der Online-Lehre und dem Einsatz digitaler Tools. Dies birgt die Gefahr, dass die Implementierung technologischer und didaktischer Neuerungen einseitig in den Händen der Hochschulentwickelnden liegt. Die einzelnen Fachdisziplinen müssen daher individuell und im Verbund ihre Erwartungen und Bedürfnisse formulieren, um diesen Prozess aktiv mitzugestalten.

 

2. Hybride Infrastrukturen aufbauen und
Räume an veränderte Bedürfnisse anpassen

 

Die Reformierung der Universitäten erfordert Infrastrukturinvestitionen, die effektive Online- bzw. hybride Lehre überhaupt erst ermöglichen. Dazu zählen technische Ausstattungen von Lehrräumen zur Übertragung und Aufzeichnung von Veranstaltungen ebenso wie entsprechende Hard- und Software sowie Serverkapazitäten und W-Lan. Dabei muss auch die technische Ausstattung der Lehrenden und Lernenden – bis hin zum Homeoffice – bedacht werden.

 

Die derzeitige Raumplanung entspricht vielerorts nicht den gegenwärtigen und erst recht nicht zukünftigen Erfordernissen. Raum an Universitäten muss als strategische Ressource begriffen und geplant werden: Universitäten benötigen eine allgemeine Lernraumstrategie, die Bedürfnisse aller Statusgruppen und Fächer berücksichtigt. Es müssen Orte auf dem Campus geschaffen werden, die an digitale und hybride Lehr-Lern-Szenarien angepasst sind, zum Beispiel Gruppenarbeitsräume und mehr Einzelarbeitsplätze jenseits der üblichen Bibliotheksplätze.

 

3. Universität als sozialen
Interaktionsort stärken

 

Die Pandemie hat deutlich gemacht, dass Universitäten vor allem Orte sozialer Interaktion sind. Die alltäglichen Begegnungen wie auch die Kommunikation zwischen Lehrenden und Studierenden außerhalb konkreter Lehrsituationen sind für das Gefühl der Zugehörigkeit zur Universität unerlässlich. Sie schaffen zudem erst die Atmosphäre und Energie, die für erfolgreiche Lehre und Forschung notwendig sind. Diese Bedeutung der Universität als Präsenzraum muss wertgeschätzt und gestärkt werden.

 

Präsenz-Lehre sollte so konzipiert sein, dass sie Sinn und Wert der Präsenz vor Ort verdeutlicht und nutzt (etwa durch persönliche Interaktion und niedrigschwellige Zugänge zu Lehrenden vor und nach Lehrveranstaltungen).

 

4. Neue Formate und Curricula für
eine Lehr- und Lernwelt im Wandel

 

Lehre soll inklusiv und partizipativ sein und auf die Bedürfnisse einer heterogenen Studierendenschaft eingehen. Die Pandemie hat gezeigt, dass dies durch die Verzahnung von digitalen und analogen Tools sinnvoll erreicht werden kann. Wichtig erscheint dabei eine Variabilität der angewandten Formate mit Blick auf die Ziele: Die Aneignung von Grundlagenkenntnissen ist mit entsprechender Begleitung durchaus asynchron möglich, etwa durch Lehrvideos; die Auseinandersetzung mit diesem Wissen und kritisches Hinterfragen finden eher in synchronen Diskussionsrunden statt.

 

Bei der (Weiter-)Entwicklung von Studiengängen können Online-Lehre und der Einsatz digitaler Tools als Bausteine im Lehrangebot eines Semesters und über den zeitlichen Verlauf eines gesamten Studiums integriert werden. Die einzelnen Fächer sollten dazu angehalten werden, ihre Curricula systematisch auf die didaktische Sinnhaftigkeit solcher Formate zu überprüfen.

 

Neue Motivations- und Affizierungsformen von Online-Lehre und anderen digitalen Formaten können auf verschiedenen Ebenen genutzt werden. Die Attraktivität von Veranstaltungen lässt sich etwa durch die Zuschaltung von Gästen aus der Ferne steigern. Die hochschulübergreifende Öffnung der Lehre bietet darüber hinaus die Chance, den Dialog mit der außeruniversitären Öffentlichkeit zu stärken.

 

5. Die Internationalisierung der Hochschulen
durch digitale Formate vorantreiben

 

Für die Internationalisierung der Lehre stellt die Digitalisierung gerade jenseits etablierter Formate (etwa in Form binationaler Studiengänge) eine große Chance dar. Online-Formate können eine Art hybriden Campus mit gemeinsamen und geteilten Lehranteilen und vermehrter Hybridmobilität (Modulbuchungen digital oder physische Austauschsemester) entstehen lassen, was insbesondere zu einer Verbesserung des Lehrangebots in kleinen Fächern führen kann.

 

Online- oder Hybridformate erzeugen positive ökologische Nebeneffekte. Dies könnte mit der Einrichtung von "Kilometerkonten" noch gesteigert werden, mit denen auch der ökologische Fußabdruck von Universitätsangehörigen vor allem mit Blick auf Flugreisen begrenzt werden kann.

 

6. Hochschullehre einer systematischen
Aufwertung auf allen Ebenen unterziehen

 

Die hochschulpädagogische Ausbildung sollte gestärkt und als essentieller Teil der akademischen Nachwuchsförderung betrachtet werden. Faktoren wie Lehrqualität und Lehrkonzepte sollten bei Stellenbesetzungsverfahren auf allen Ebenen deutlich stärker berücksichtigt werden als bislang.

 

Das bestehende System der Semesterwochenstunden berücksichtigt nicht adäquat die Vielfalt der Beiträge zur Lehr- und Lernentwicklung (wie die Betreuung von Klausuren und Abschlussarbeiten oder die Curricula-Entwicklung). Hier müssen neue Bemessungsgrundsätze für die Berechnung von Lehrdeputaten gefunden werden.

 

Viel zu oft sind Lehrende als Einzelkämpfer:innen unterwegs. Für die Stärkung der Hochschullehre braucht es jedoch eine kooperative Lehrentwicklung im Sinne einer aktiven Zusammenarbeit der Lehrenden. Daher müssen das kooperative Lehren und der Austausch von entsprechenden Templates und Modellen gefördert werden, von denen alle Lehrenden – und Lernenden – eines Instituts profitieren.

 

Die Mitglieder der AG Hochschullehre der Jungen Akademie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz: Jonas Hock (Institut für Romanistik, Universität Regensburg), Andrea Hofmann (Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Abendländische Religionsgeschichte), Kristina Köhler (Institut für Medienkultur und Theater / Kunsthistorisches Institut, Universität zu Köln), Christine Lang (Institut für Geographie / Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien, Universität Osnabrück), Benjamin Loy (Institut für Romanistik, Universität Wien), Miriam Salzmann (Historisches Seminar / Arbeitsbereich Byzantinistik, Universität Mainz) und Lena Wetenkamp (Fachbereich II, Germanistik, Universität Trier).



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Kommentare: 3
  • #1

    Michael Liebendörfer (Mittwoch, 09 März 2022 22:31)

    Ich hab das gern gelesen, aber außer WLAN ist jetzt nichts richtig konkretes hängen geblieben. Einige Leute sollen sich mehr Gedanken machen, Dinge anerkennen, die Lage ernst nehmen. Klar.

    Ich hätte das gerne etwas konkreter.

    Meine spontanen TOP 3:

    1. Wir müssen den Lehrende vermitteln, wie ihre Kundschaft lernt. Welche Ressourcen und Medien verwenden sie, wie suchen sie die aus? Die Hälfte der Lernenden trifft sich auf Discord-Servern, die Hälfte der Lehrenden weiß nicht, was ein Discord-Server ist. Dafür muss die Realität der Zielgruppe sicher oft erst noch erforscht werden.

    2. Die Ergebnisse werden zeigen, dass wir viel zu sehr an Stoff und zu wenig an Lernen als Handlung denken. Studierende brauchen gerade für digitale "Selbstlernumgebungen" Anleitung und Struktur, etwa explizite Lernziele und Muster-Zeitpläne. Lernen muss man ja immer noch selber. Wir erkennen momentan erst in Ansätzen, wie wichtig Universitäten und Präsenz für die Selbstregulation des Lernens sind. Ginge es nur um gut aufbereitetes Wissen, gäbe es seit Gutenberg nur noch Fernuniversitäten.

    3. Videos sind so viel aufwendiger als Lehrbücher und können kaum graduell aus Vorlesungsskripten entwickelt werden. Das BMBF sollte Förderlinien für die Entwicklung guter Lernmedien auflegen. Lernvideos auf YouTube werden zunehmend kommerziell entwickelt und bedienen eine Nachfrage nach "einfachen" Erklärungen, bei der wissenschaftliches Verstehen oft auf der Strecke bleibt.

  • #2

    René Krempkow (Donnerstag, 10 März 2022 16:17)

    @"Dafür muss die Realität der Zielgruppe sicher oft erst noch erforscht werden." Dazu gibt es inzwischen einiges an Forschung, so seit 2020 z.B. vom Stifterverband (https://www.future-skills.net/analysen/hochschulen-corona-und-jetzt), mehrere gut lesbare Ergebniszusammenfassungen vom Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW), wie die "DZHW-Briefe" (z.B. https://www.dzhw.eu/pdf/pub_brief/dzhw_brief_05_2020.pdf), sowie Auswertungen an einzelnen Hochschulen wie z.B. der HU Berlin (https://scilogs.spektrum.de/wissenschaftssystem/durchwachsenes-bild-des-corona-semesters/).
    Oder in Österreich neben digitalen Kompetenzen von Studierenden insbes. auch zu Aspekten der technischen Ausstattung von Studierenden (https://dikos.at/projektergebnisse/)...
    Möglicherweise fehlt es also (auch) an der Nutzung vorhandener Ergebnisse. ;-)

  • #3

    Michael Liebendörfer (Freitag, 11 März 2022 08:53)

    @René Krempkow:
    Danke für die Ergänzung. Da gibt's in der Tat einiges. Viel davon ist aber quantitativ und fokussiert dann naturgemäß die Vorstellungen der Forschenden. Außerdem fehlen m.E. fachspezifische Analysen, die für Lehrende oft deutlich überzeugender sind. Seit ich einen Matheprof. mal auf gängige YouTube-Videos zu Inhalten des ersten Semesters hingewiesen habe, haben wir unter dem Arbeitstitel "Feindbeobachtung" etwas genauer drauf geschaut. Plötzlich steigt doch die Motivation sehr, die eigene Lehre um Material höherer Qualität zu ergänzen.

    Aber ja, das ist geht schon stark in Richtung Aufbereitung für die Praxis.