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Spät, unzureichend, aber immerhin

Das BMBF bewilligt eine bundesweit einmalige Studie zum Immunitätsgrad der Bevölkerung. Verdienstvoll von Forschungsministerin Stark-Watzinger, peinlich für Gesundheitsminister Lauterbach. Was aber kann die Untersuchung tatsächlich an neuen Erkenntnissen bringen?

DASS DIESE NEUIGKEIT überhaupt Schlagzeilen macht, sagt eigentlich alles. Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) hat mitgeteilt, dass ihr Ministerium eine repräsentative Studie zum Grad der Corona-Immunität in Deutschland finanzieren wird.

 

Schon in den nächsten Wochen sollen 29.500 Menschen zu ihrem Impfstatus, zu Ihrer Einstellung zum Impfen, zu möglichen Corona-Infektionen und zu anderen Vorerkrankungen befragt werden. Dann kommt Schritt zwei: Bis zu 16.500 der Studienteilnehmer bekommen einen Bluttest zugeschickt, den sie selbst durchführen können und anschließend zur Laboruntersuchung einschicken. Untersucht wird dann die Zahl der Antikörper, so dass auch unbemerkt gebliebene Infektionen entdeckt werden. Erste Ergebnisse sollen bis September vorliegen, Studienleiter ist der Bonner Virologe Hendrik Streeck. 

 

Es handelt sich international gesehen um keine sonderlich bemerkenswerte Studie. Zum Vergleich: Die "COVID-19 Infection Survey", gestartet bereits April 2020 von der britischen  Statistikbehörde ONS und unter anderem der Universität Oxford, hat über zwei Jahre hinweg mindestens einmal im Monat Tausende repräsentativ ausgewählte Menschen jeden Alters (über zwei) einem PCR-Test unterzogen. Zusätzlich wurde bei über 16-Jährigen regelmäßig das Blut auf Antikörper als Zeichen einer durchgemachten Infektion untersucht. Insgesamt befanden sich immer um die 150.000 Menschen in dem Langzeit-Sample. Neunmal so viele wie beim jetzt angekündigten deutschen Einmal-Test.

 

Und doch hatte Stark-Watzinger Recht, als sie vergangenen Freitag bei der Vorstellung der "Immunebridge"-Studie betonte, dadurch würden Daten erhoben, die bislang in Deutschland fehlten. Denn obwohl viele Experten und Statistiker seit Beginn der Pandemie ein ähnliches Sample auch für Deutschland gefordert hatten, sah das Bundesgesundheitsministerium bis heute dazu keine Veranlassung. Und auch das BMBF hatte unter Stark-Watzingers Vorgängern Anja Karliczek das Thema links liegen gelassen.

 

Ohne gute Daten
keine gute Evaluation

 

Mit weitreichenden Folgen: Das Fehlen eines regelmäßigen Corona-Panels in der Bundesrepublik führte nicht nur dazu, dass sich die künftige Dynamik der Pandemie schlechter vorhersagen ließen, weil alle quantitativen Trendprognosen und Modelle so zwangsläufig auf den vorhandenen – lückenhaften, von Testhäufigkeiten und -kapazitäten verzerrten – Meldedaten aufsetzen müssen.

 

Auch besteht ein unvollständiger, je nach Fragestellung an Unwissenheit grenzender Kenntnisstand über die tatsächlichen Infektionsraten abhängig etwa vom Alter, dem beruflichen Umfeld, bestimmten Vorerkrankungen, dem Impfstatus oder dem Wohnort. Und ohne regelmäßig erhobene aktuelle Infektionsdaten können auch ergriffene Corona-Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit kaum empirisch valide evaluiert werden. Genau der Grund, weswegen die in den nächsten Tagen erwarteten Ergebnisse der zu diesem Zweck  eingerichtete Expertenkommission mehr Kontroverse als Aha-Effekte auslösen dürften.

 

Nein, auch "Immunebridge" ist als Einmal-Antikörperstudie weit davon entfernt, ein regelmäßiges Panel zur Erhebung aktueller Infektionsdaten zu sein. Es ist ein Blick in die Vergangenheit, und noch dazu einer, der kaum noch Rückschlüsse zulässt auf das, was die Pandemie bis jetzt beeinflusst hat. Und da eine durchgemachte Infektion wie auch der Impfstatus nicht zuverlässig vor künftigen Ansteckungen schützen, ist eigentlich auch das von Stark-Watzinger beschriebene Ziel, den Grad der Immunität in der Bevölkerung "möglichst differenziert einschätzen zu können", obsolet.

 

Immerhin aber dürfte eine Frage geklärt werden, die in den vergangenen Monaten und Jahren immer wieder zu Streit und hochkochenden Debatten vor allem in den sozialen Medien geführt hat: Waren Kinder und Jugendliche tatsächlich deutlich stärker von Infektionen betroffen als Erwachsene? Oder infizierten sich Kinder und Jugendliche gar nicht häufiger, sondern die höheren Inzidenzen erklärten sich dadurch, dass sie häufiger, da verbindlich, getestet werden? Und diejenigen Kinder, die unbemerkt eine Infektion durchgemacht haben, wie oft leiden sie unter Folgeerscheinungen? Was sagt das über den Zusammenhang mit Diagnosen wie PIMS oder Long Covid aus? Im Hinblick auf die diskutierten Hygiene-Maßnahmen in Kitas und Schulen gibt es hier womöglich spannende und hilfreiche Erkenntnisse. 

 

Weil Lauterbach nicht wollte, 

handelte Stark-Watzinger

 

Die Notwendigkeit eines aktuellen Infektions-Panels ersetzt das nicht. Doch hatte das Bundesgesundheitsministerium von Karl Lauterbach (SPD) wiederholt deutlich gemacht, dass es dafür keine Notwendigkeit und keinen Anlass sieht. Was angesichts der ohne repräsentative Daten schwierigen Evaluation vergangener und künftiger Maßnahmen (für die unter anderem Lauterbach plädiert) als nicht nur fahrlässig zu bezeichnen ist, sondern als vollkommen unverständlich. 

 

Das war wohl auch der Grund, weswegen Bundesforschungsministerin Stark-Watzinger im Februar erstmals angekündigt hatte, ihr Ministerium werde sich an repräsentativen Bevölkerungsstudien zu Corona beteiligen. Sie sei davon überzeugt, dass die dadurch erhobenen Daten zusätzlich zu den Meldungen von Krankenhäusern, Arztpraxen und Gesundheitsämtern  nötig seien, sagte sie damals. "Deshalb möchte ich darüber mit Wissenschaftlern ins Gespräch kommen."

 

Das kam sie. Mit Hendrik Streeck, der mit der Heinsberg-Studie sehr früh, und zwar im April 2020, erste Ergebnisse zur Verbreitung des Coronavirus in der (lokalen) Bevölkerung vorgelegt hatte. Allerdings machte Streecks Untersuchung auch starke Negativ-Schlagzeilen, vor allem wegen der völlig verunglückten Öffentlichkeitsarbeit und der Streeck vorgeworfenen Vereinnahmung durch den damaligen NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU). 

 

Mit dem Ergebnis, dass in den sozialen Medien auch jetzt wieder und teilweise erbittert darüber gestritten wird, inwiefern von Streeck gute Wissenschaft zu erwarten und die Studie politisch beauftragt sei. Dabei ist sie genau das nicht. Streeck bekommt keine Extra-Finanzspritze, sondern die drei Millionen Euro für die Studie wurden aus der bestehenden Förderlinie "Netzwerk Universitätsmedizin" bewilligt. Wichtig wird freilich sein, dass die Datenerhebung und -analyse transparent und für Wissenschaftlerkollegen nachvollziehbar abläuft. 

 

"Immunebridge" ist eine sehr gute und wichtige Initiative, für die Forschungsministerin Stark-Watzinger Anerkennung gebührt. Und doch kann sie nur ein erster Schritt zur Generierung von mehr Wissen über den tatsächlichen Infektionsstand der Bevölkerung sein. Bundesgesundheitsminister Lauterbach muss sich derweil fragen lassen, warum er weiter den Blindflug durch die Pandemie bevorzugt.



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Kommentare: 3
  • #1

    twisdu (Montag, 27 Juni 2022 12:05)

    Nunja. Den Informationen des SZ-Berichts zur Panelzusammensetzung https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/streeck-studie-coronavirus-impfung-immunitaet-1.5608554 zufolge hat man - mal wieder - die Höchstrisikogruppe der Pflegeheim-Bewohner vergessen. Insofern werden die Ergebnisse sicher nützlich und erhellend sein. Aber der eigentliche Brennpunkt der Pandemie, die Orte, in Bezug auf die am dringlichsten verlässliche Informationen gebraucht würden, bleiben weiter ein blinder Fleck.

  • #2

    Vimukti (Mittwoch, 29 Juni 2022 16:10)

    Es ist mehr als unangemessen, jemandem wie Lauterbach zu unterstellen, daß er "weiter den Blindflug durch die Pandemie bevorzugt". Leute, die so eine vernichtende Kritik üben, sollten erstmal beweisen, daß sie es besser machen können als Herr Lauterbach, der nicht nur mit Herz und Seele an der Überwindung der Pandemie arbeitet, sondern sich auch stets anhand der neuesten Studien weiterbildet. bereit ist, eigene Fehler zuzugeben, und zweifellos viel zur Überwindung der Pandemie beigesteuert hat. Wenn alle Bundesminister dieses Jahrhunderts so vertrauenswürdig und so engagiert (gewesen) wären, wäre manches bei uns heute besser. Fragen Sie ihn doch wenigstens vorher, warum er die fragliche Untersuchung nicht machen wollte - bestimmt gibt es einen plausiblen Grund.

  • #3

    Django (Mittwoch, 06 Juli 2022 14:06)

    @ vimukti: Wenn Lauterbach öffentlich erklärt, eine Datenbasis wie z.B. Dänemark oder Großbritannien nicht zu benötigen, sollte er es von sich aus begründen. Wir haben ein Pandemieregime, das eine hohe Dunkelziffer in Kauf nimmt. Wir wissen nicht zuverlässig, wer "wegen" oder "mit" Covid-19 im Krankenhaus liegt. In Deutschland wurden, das wurde in diesem Blog mehrfach ausgeführt, auf der Basis eines schiefen Testregimes immer wieder Kinder und Jugendliche zu "Treibern" der Pandemie erklärt, einfach weil diese Bevölkerungsgruppe als beinahe einzige systematisch getestet wurde.
    Epidemiologie ist im Grunde empirische Sozialwissenschaft. Ohne Daten aber keine Empirie.