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Welchen Schutz braucht Julia?

Lehrkräfte halfen bei sozialer Ausgrenzung eher einem Mädchen als einem Jungen, berichteten Bildungsforscherinnen als Ergebnis einer Studie – und machten Stereotype und Sozialisation dafür verantwortlich. Anlass für eine Kritik aus genderwissenschaftlicher und wissenschaftssprachlicher Sicht. Von Hermann H. Dieter.

Foto: Pxhere, CCO.

JAN-MARTIN WIARDA BERICHTETE am 25. Mai hier im Blog über eine genderwissenschaftliche Untersuchung zu der Frage, ob und wie Lehrer (m/w/d) auf soziales Mobbing unter Schülern (m/w/d) geschlechtsspezifisch reagieren. Wiardas Bericht, vor allem aber die Studie selbst, erfordern eine kritische Beleuchtung.

 

Die drei Autorinnen, darunter Studienleiterin Hanna Beißert vom DIPF Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, hatten 101 Lehrer (84w+17m) dazu befragt, wie sie sich zu verhalten gedächten, wenn in ihrer Klasse eine "Julia" oder ein "Lukas" von Mitschülern sozial ausgegrenzt würde. Das Ergebnis: In dem hypothetischen Szenario wollten deutlich mehr Lehrerinnen zugunsten von "Julia" eingreifen als zugunsten von "Lukas". Bei den allerdings nur 17 befragten Lehrern wollten dies dagegen jeweils nur etwa gleich viele tun.

 

Hanna Beißert wird von Wiarda zwar so zitiert, dass sich aus dem Ergebnis der Befragung eine Erklärung nicht gesichert ableiten lasse, meint dann jedoch, die abweichenden Reaktionen passten "zu bestimmten sozialen Zuschreibungen", zu Stereotypen also. Etwa, dass Mädchen schutzbedürftiger als Jungen seien – und letztere widerstandsfähiger als Mädchen.

 

Unidirektionale Deutung

 

Doch so einfach, wie diese Deutung es nahelegt, ist die Sache nicht. Tatsächlich folgt aus der Beobachtung, dass Lehrerinnen häufiger als Lehrer zugunsten von "Julia" eingriffen, eben nicht automatisch, dass die Lehrerinnen "Julia" einen bestimmten Rollen-Stereotyp zuschreiben. Genauso gut könnte es sein, dass Rollen-Stereotype auch auf Seiten der Lehrerinnen selbst liegen. Dennoch glauben und schreiben die Autoren ganz unbefangen, das Geschlecht der Lehrkräfte habe das Ergebnis der Befragung nicht beeinflusst – wohl aber sei ein solcher Einfluss vom Geschlecht (nur) des exkludierten Kindes auf die Lehrer(w) ausgegangen. 

Beißert et al. schließen also zwar auf eine Interaktion der Richtung "Julia —> Lehrerinnen", schließen jedoch eine Interaktion der Richtung "Lehrerinnen —> Julia" aus. Dennoch lässt ihre Beobachtung beide Interaktions-Richtungen als Deutung zu.

 

Die Autorinnen diskutieren leider nicht, warum sie zur Deutung ihres Befundes ausschließlich die erstgenannte, eindimensionale Interaktion zuzulassen. Ihre partielle Blindheit verdeckt, dass nicht nur eine Mehrheit der Lehrerinnen, sondern auch sie selbst genau den Rollen-Stereotyp "besondere Schutzbedürftigkeit" verinnerlicht haben, den die Lehrerinnen mehrheitlich zwar "Julia" zuzuschreiben scheinen, vorgeblich aber nicht ebenfalls sich selbst. Mit genderwissenschaftlich offenem Blick hätten die Autorinnen jedoch auch diese andere Richtung der Deutung ihres Befundes zulassen müssen, zumal ja nur die männlichen Lehrer nicht öfter zu Gunsten von "Julia" als von "Lukas" eingegriffen hatten. 

 

Das Aufbrechen mitunter historisch gewachsener Rollen-Stereotypen, insbesondere auch solcher, die die Politik des Gender-Mainstreaming neutralisieren will, ist immer schwierig. Dies und umso mehr, je stärker diejenigen – hier offenbar die Lehrerinnen – sie verinnerlicht haben, zu deren Gunsten sie neutralisiert werden sollen. 

 

Womöglich aber verhielten sich die Lehrerinnen auch deshalb so parteiisch zugunsten von "Julia", weil das ihnen vorgelegte hypothetische Szenario,

"Nach dem Unterricht in der 7. Klasse beobachten Sie beim Zusammenpacken, wie sich einige Schüler*innen zum Lernen verabreden. Lukas/Julia möchte sich gerne der Lerngruppe anschließen. Die anderen Jugendlichen sagen ihm/ihr, dass er/sie nicht mitmachen darf." auf das sie reagieren sollten, nicht auf Standarddeutsch, sondern parteinehmend beschrieben worden war. Der dem Standarddeutschen fremde Genderstern macht die Beschreibung unwissenschaftlich und manipulatorisch, denn er ist ein nichtsprachliches Zeichen, das biologische Frauen und alle (sozialen) Gender als besonders schutzbedürftig evoziert. Er könnte daher die Mehrheit der befragten 84 Lehrerinnen wie beobachtet zugunsten einer besonderen Schutzbedürftigkeit von "Julia" manipuliert haben. 

 

Dies übrigens ganz im Sinne der Verfechter einer "gendergerechten" Sprache, deren wichtigste Hypothese ja behauptet, Sprache strukturiere die Wirklichkeit nicht nur, sondern erschaffe und verstetige sie auch – hier also die Vorstellung von einer besonderen, semiotisch (durch den Genderstern) angedeuteten Schutzbedürftigkeit des biologisch "schwachen", ja aller sozial "schwachen" Geschlechter.

 

Welche Wirkung hat der Genderstern?

 

Die Erstautorin der Studie, Hanna Beißert, hielt die von mir befürchtete sprachliche Manipulation auf meine Nachfrage hin zwar für möglich, jedoch "für unwahrscheinlich". Warum? Sie meinte, der Genderstern sei "für sehr viele Leute schon so normal, dass (die von mir befürchtete Manipulation) wenn überhaupt, dann allenfalls sehr schwach, wenn auch wohl messbar wäre".

 

Für "sehr viele Leute", nämlich 70 bis 80 Prozent der Menschen, ist der Genderstern aber keineswegs normal. Dies ist ein sehr stabiler, seit Jahren empirisch gesicherter Befund. Beißerts Argument zur Widerlegung meiner These kann daher nicht zutreffen, stattdessen aber umso stärker die von mir formulierte Befürchtung, der Genderstern in der Beschreibung des Szenarios habe das Stereotyp von der – im Vergleich zu Lukas – besonderen Schutzbedürftigkeit von "Julia" für eine Mehrheit der Lehrerinnen überhaupt erst bewirkt oder verstärkt. 

 

Ohne den manipulatorischen Genderstern in der Beschreibung des Szenarios könnte das Ergebnis der Befragung demnach auch ganz anders, nämlich ganz untypisch zu Ungunsten des genderpolitisch ohnehin abgelehnten Rollenstereotyps ausgefallen sein.

  

Die Methodik der hier diskutierten Studie stärkt die These, so manches "Genderprojekt" sei kreisläufig, erschaffe sich also beispielsweise mittels einer manipulatorischen Zeichensprache seine eigene Begründung und dazu passende Forschungsergebnisse. Womöglich ist das Rollen-Stereotyp "besondere Schutzbedürftigkeit von Mädchen" in Wirklichkeit längst weniger virulent als behauptet. Im Idealfall existierte es gar nicht (mehr), würde dann immer nur aufs Neue durch eine Gendersprachpraxis behauptet – mit einem sich selbst verstärkenden Effekt und ohne, dass ihre Apologeten je beweisen müssten, ob ihr Jargon dem behaupteten guten Zweck überhaupt dient und ob er insbesondere auch das Schutzbedürfnis biologisch männlicher Wesen wie "Lukas" gegen soziale Exklusion in Erinnerung hält.

 

Die "Leit"-Moral der Sprachleitfäden

 

Dabei müsste doch klar sein: Eine sprachlich evozierte oder vorgetäuschte "besondere Schutzbedürftigkeit von Mädchen" passt gar nicht zu einer Genderforschung, die zu mehr Geschlechtergerechtigkeit, also auch dem Schutz ebenso schutzbedürftiger Jungen, beitragen möchte. Diese würde Jungen nämlich endlich dieselbe Schutzbedürftigkeit zukommen lassen, wie sie aktuell bevorzugt Mädchen wie selbstverständlich zugesprochen wird. 

 

Unterdessen macht sich eine doppelzüngige, den guten Zweck angeblich befördernde "Leit"-Moral breit, in Worte gefasst mittlerweile in ebenso unzähligen wie unseligen Sprachleitfäden öffentlicher Institutionen, die doch bitte nur freiwillig zu befolgen seien. Sprachwissenschaftlich und soziolinguistisch wurden alle darin enthaltenen Varianten längst zerpflückt, etwa von maßgeblichen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft (DGfS).

 

Der genderpolitisch höchst relevanten Frage, ob es für Frauen nicht viel gewichtigere als vorgebliche Benachteiligungen grammatischer Art geben könnte, bestimmte Karrieren oder Berufe zu meiden, geht indessen kaum jemand ernsthaft nach. An erster Stelle wäre hier die überfällige Durchsetzung des Rechts auf gleichwertige Bezahlung inhaltlich, körperlich und/oder systemstrukturell gleichwertiger Arbeit zu nennen. Ein Kampf, der es wirklich wert wäre.

 

Hermann H. Dieter ist Stellvertretender Vorsitzender des Arbeitskreises Deutsch als Wissenschaftssprache e. V.



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Kommentare: 2
  • #1

    Natürlich Gendern (Dienstag, 30 August 2022 16:21)

    Der Mehrwert eines Großteils dieses "Leit"-Beitrags und besonders seiner Wertung ergibt sich mir nicht.

    > Der dem Standarddeutschen fremde Genderstern macht die Beschreibung unwissenschaftlich und manipulatorisch, denn er ist ein nichtsprachliches Zeichen, das biologische Frauen und alle (sozialen) Gender als besonders schutzbedürftig evoziert.

    Die zugrundeliegende Studie mag diskutabel sein. Der vermittelte Eindruck ist aber vielmehr, dass die hier vorliegende Deutung - ganz besonders ab der zitierten Stelle - stark polemisch ausfällt und gerade nicht neutral ist oder eine inhaltliche Debatte wünscht. Hier wird eine Ablehnung gegenüber *genderwissenschaftlichem Gender-Mainstreaming* betrieben.

  • #2

    Hermann H. Dieter (Mittwoch, 31 August 2022 18:26)

    Antwort auf #1: meine Analyse belegt doch gerade, dass die Deutung des Ergebnisses der Studie genderwissenschaftlich einseitig und deshalb abzulehnen ist - nicht nur wegen dessen unidirektionaler Deutung sondern auch der einseitigen Befragung. Methodisch und interpretatatorisch einseitige Arbeiten dieser Art leisten einem genderwissenschaftlich fundierten Gender-Mainstreaming keinen guten, sondern einen Bären- oder muss ich schon sagen Bär*innendienst?