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Der Unspektakuläre

Der Wissenschaftsminister, Vize-Regierungschef Sachsen-Anhalts und wissenschaftspolitische Koordinator der SPD-geführten Länder sticht dadurch heraus, dass er nicht heraussticht. Hinter Armin Willingmanns demonstrativen Nettigkeit steckt vor allem eines: Konsequenz. Ein Porträt.

Armin Willingmann, fotografiert von Kay Herschelmann. Die Aufnahmen entstanden in einem Hörsaal der Universität Potsdam.

EIGENTLICH SOLLTE ES nur eine nette Auszeit werden, damals im Oktober 1989. Er hatte gerade sein Staatsexamen hinter sich gebracht, als ein Freund ihn fragte, ob er für zehn Tage mit nach Rostock wolle, eine alte Tante besuchen. Armin Willingmann, geboren in Dinslaken am Niederrhein und ohne jede ostdeutsche Verwandtschaft, sagte: "Klar." Was er zu diesem Zeitpunkt nicht wusste: dass es die zehn Tage werden sollten, in denen Erich Honecker gestürzt wurde und überall in der DDR die Menschen auf die Straße gingen. Plötzlich war er mittendrin, lief mit, stimmte ein in die Rufe nach Freiheit und dachte, berauscht von dem, was er da erlebte: "Wenn die Mauer irgendwann tatsächlich aufgehen sollte, dann komme ich wieder. Und dann bleibe ich eine Weile."

 

Die Weile dauert inzwischen 30 Jahre. Willingmann, 59, ist heute stellvertretender Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt und seit sechs Jahren Wissenschaftsminister. Seine Frau ist Ostdeutsche, seine Kinder wurden in Mecklenburg geboren, und wenn man ihn fragt, wo er zu Hause ist, sagt er: "Wernigerode im Harz." Schon während des Referendariats in den frühen 1990ern ist er nach Rostock zurückgekehrt und ein paar Jahre später Professor für Wirtschaftsrecht an der Hochschule Harz geworden. In den Westen hat es ihn nie zurückgezogen. 

 

"Ossi, Wessi, das ist doch überholt.
Zumindest sollte es das inzwischen sein."

 

Unter den ostdeutschen Wissenschaftspolitikern ist Willingmann der prominenteste. Nur dass er mit solchen Zuschreibungen nichts anfangen kann. "Ossi, Wessi, das ist doch überholt", sagt er. "Zumindest sollte es das inzwischen sein." Zweimal schon wurde Willingmann von den Mitgliedern des Uni-Professoren-Verbandes DHV zum Wissenschaftsminister des Jahres gewählt. Als ehemaliger Fachhochschul-Prof und als Minister, der den HAWs im Land gerade das Promotionsrecht gegeben hat. Und obwohl er aus einem wissenschaftspolitisch eigentlich unbedeutenden Land stammt, haben ihn seine SPD-Ministerkollegen zu ihrem Koordinator bestimmt. Womit er als Gegenpart des bayerischen CSU-Wissenschaftsministers Markus Blume Verhandlungsführer der Länder ist, wenn es, wie Anfang November 2022, um die Reform von Exzellenzstrategie oder des Bund-Länder-Zukunftsvertrages zur Hochschulfinanzierung geht.


Armin Willingmann, 59, wurde in Dinslaken geboren. Er studierte in Mainz, Köln und München Rechtswissenschaften, Volkswirtschaft und Geschichte. Während seines Jura-Referendariats ging er Mitte der 1990er-Jahre nach Rostock, arbeitete in einer Anwaltssozietät und als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni. 1999 wurde er Professor für Wirtschaftsrecht an der Hochschule Harz, 2003 auch deren Rektor. Er blieb es 13 Jahre lang, bis er 2016 für die SDP zunächst Staatssekretär und dann Minister für Wissenschaft, Wirtschaft und Digitalisierung wurde. 2021 gab er Wirtschaft und Digitalisierung ab, bekam dafür Energie, Klimaschutz und Umwelt dazu. Die Zuständigkeit für Wissenschaft behielt er die ganze Zeit, er gilt als einer der führenden SPD-Wissenschaftspolitiker und koordiniert die Wissenschaftspolitik der Länder mit SPD-Regierungsbeteiligung. Willingmann ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.



Man könnte auch sagen: Willingmann sticht als Spitzenpolitiker dadurch heraus, dass er es nicht tut. In der Hinsicht ist er seinem Heimatland durchaus ähnlich. Sein Erfolgsrezept ist das auf den ersten Blick Unspektakuläre: Wenn andere dröhnend lachen oder lautstarke Politikerparolen von sich geben, lächelt Willingmann, kräftige Statur, weißgrauer Vollbart, in sich hinein. Und wenn er das Wort ergreift, müssen die anderen eben genau hinhören. Gefragt danach, was ihn auszeichne, sagt Willingmann als erstes, dass er verlässlich sei. Und als zweites, dass er mit den Themen seines Geschäftsbereichs vertraut sei, dass er sich für die Themen seines Ministeriums mit voller Überzeugung einsetze.

 

Vom Rektor zum
Wissenschaftsminister

 

Mit beidem, Verlässlichkeit und Sachkenntnis, hat er immer Erfolg gehabt. 2003 wurde er Rektor seiner Hochschule, 2007 wählten sie ihn wieder, 2012 erneut. 2008 wurde er zusätzlich Präsident der Landesrektorenkonferenz und vertrat damit als FH-Präsident auch die Universitäten. Acht Jahre lang. Bis er 2016 zunächst zum Staatssekretär berufen wurde und dann wenig später zum Minister, zunächst für Wissenschaft, Wirtschaft und Digitalisierung. Nach der Wahl 2021 gab er die Wirtschaft ab, bekam Klima, Umwelt und Energie dazu und wurde Vize-Regierungschef. 

 

Dass Rektoren Wissenschaftsminister werden, passiert zwar immer mal wieder – aber das war’s dann meist auch, die politische Karriere ganz nach oben bleibt ihnen verwehrt, weil sie keine Lust oder kein Händchen für Parteipolitik haben. Willingmann schon. Er trat bereits in die SPD ein, als er Rektor war. Und lange bevor er Minister wurde. Er sei ein dezidiert politischer Mensch, sagt er. "Es ist mir aber nicht unwichtig, ein Leben vor der Politik und ohne Parteibuch gehabt zu haben." Als er auch für Digitalisierung zuständig war, hatte sein Land die bundesweite Federführung für die Digitalisierung des BAföG. Eines der Themen, bei dem, wenn man ihn danach fragt, der stets gut präpariert wirkende Willingmann ein wenig auf dem falschen Fuß erwischt wirkt.

 

Warum die Studierenden jetzt zwar ihren Antrag komplett online stellen könnten, die Bearbeiter/-innen in den BAföG-Ämtern der Studierendenwerke aber immer noch alles ausdrucken müssten? Der Minister sagt, leider geht nicht alles so schnell wie gewünscht – und klingt in diesem Moment nicht gerade wie der Visionär, der auf profunder Grundlage die Dinge anders – besser – machen will. Was nach seiner eigenen Auskunft einst seine Motivation war, in die Politik zu gehen. Dann fügt er hinzu: "Sachsen-Anhalt hat federführend am Online-Antragsverfahren mitgewirkt und wird Mitte kommenden Jahres als eines der ersten Bundesländer mit dem Testbetrieb der E-Akte beginnen." 

 

Doppelter

Krisenmodus

 

Mit knapp 60 steht Willingmann jetzt vor seinen größten Bewährungsproben. Die Ampel-Koalition im Bund muss brutal sparen, die eben noch sicher geglaubten zusätzlichen Milliarden für Bildung und Hochschulen wackeln. Genau wie die lange praktizierte Einteilung der Länder in ein A-Lager (SPD) und in ein B-Lager (Union). Willingmann selbst sagt: "Bei den meisten Themen in der Wissenschaft unterscheiden sich die Interessen der Länder nicht nach A und B, nicht nach politischen Grundüberzeugungen oder Parteiprogrammen, sondern nach Stadt versus Land, finanzstark versus finanzschwach – und nach dem Zustand der Wissenschaftslandschaft." Was kann da ein Koordinator wie er noch ausrichten? Braucht es ihn überhaupt noch? Oder braucht es ihn gerade jetzt, damit die Länderfront gegenüber dem Bund steht?

 

In Sachsen-Anhalt wiederum sieht sich Willingmann plötzlich in einer Rolle gefordert, mit der er überhaupt nicht gerechnet hatte. "Ich dachte, meine Hauptaufgabe als Energieminister würde sein, insbesondere den schleppenden Ausbau der Erneuerbaren voranzubringen", sagt er. Womöglich hat er sogar ein bisschen auf eine Gelegenheit zum Luftholen gehofft, nachdem er in der Corona-Zeit für die Wirtschaftspolitik im Land zuständig war. Dann aber kamen der 24. Februar 2022 und der russische Angriff auf die Ukraine, und seitdem ist wieder doppelter Krisenmodus angesagt: Der Energieminister Willingmann muss bei Ortsterminen Unternehmer beruhigen, die den Blackout fürchten. Der Wissenschaftsminister Willingmann muss dafür kämpfen, dass die Hochschulen und Forschungsinstitute im Sachsen-Anhalt noch ihre Gasrechnungen bezahlen können. 20 Millionen Euro extra hat er bislang beim Finanzminister losgeeist. Ob das reicht? Das werde von den Wirkungen der Energiepreisbremsen abhängen, sagt er.  

 

Da gerät das, was Willingmann vor einem Jahr noch für seine forschungspolitische Hauptmission hielt, fast schon in den Hintergrund. Sachsen-Anhalt ist eines von drei Ländern, das bislang keinen einzigen Exzellenzcluster errungen hat in der Exzellenzstrategie für forschungsstarke Universitäten. Willingmann hat an den zwei Landes-Unis in Magdeburg und Halle interne Wettbewerbe veranstaltet, um die vielversprechendsten Bewerbungen an den Start zu bringen, mit vielen Millionen fördert das Land neue Kooperationen mit den außeruniversitären Forschungsinstituten. Exzellenzerfolg a la Willingmann – geplant von langer Hand?  

 

Hinter der demonstrativen
Nettigkeit: Konsequenz

 

Die Frage ist nur: Funktioniert in der Dauerkrise sein ruhiger Stil überhaupt noch? Einige von Willingmanns Ministerkollegen aus anderen Bundesländern, an sich voll des Lobes über seine angenehme Art, etwa geben zu, dass er nach ihrem Geschmack manchmal die Ruhe allzu sehr weg hat. Umgekehrt sagen langjährige Weggefährten, all die demonstrative Nettigkeit könne nicht darüber hinwegtäuschen, was Verlässlichkeit im Sinne Willingmanns eben auch bedeute: Konsequenz. Jens Strackeljan, Rektor der Universität Magdeburg, erinnert sich, wie der Minister vergangenes Jahr in der zumindest teilweise selbstverschuldeten Finanzkrise der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) handelte. 

 

 "Einerseits durfte er nicht den Eindruck erwecken, dass er es der MLU durchgehen lassen würde, keine Hochschulentwicklungsplanung vorzulegen." Also keine schmerzhaften Sparmaßnahmen zu beschließen. Andererseits habe niemand im Land einen "erneuten Kampf auf dem Markplatz" gewollt – wie 2013, als Landesregierung und Hochschulen um die Hochschulfinanzierung stritten. Mit Willingmann als Chefverhandler der Hochschulen. Als Minister habe dieser dann gegenüber der MLU den "harten Kurs" durchgehalten. Eine paar Millionen seien indes unterm Radar nach Halle geflossen, "das hat er schon geschickt gemacht", sagt Strackeljan.

 

Neulich hat Willingmann mit seiner Frau und seinen beiden erwachsenen Kindern eine Tour durch die USA gemacht. Die Tochter studiert Psychologie, der Sohn Informatik, beide wollten sich amerikanische Unis anschauen, an denen sie ihren Master machen können. Seine Kinder hätten nie in Sachsen-Anhalt studiert, sagt er. Und doch seien ihre Berichte aus dem Studium für ihn immens wichtig gewesen, um zu verstehen, wie Studierende die Pandemie-Zeit konkret erlebten, sagt Willingmann. Durch sie habe er die Einsamkeit während der Zeit der Corona-Hochschulschließungen mittelbar mitbekommen, den "bestürzenden Verzicht auf Sozialkontakte", wie er sagt. Einer der Gründe, "warum wir jetzt sehr beharrlich trotz der steigenden Energiekosten an der Präsenzlehre festhalten, ohne verlängerte Weihnachtspause oder dergleichen. Das können und wollen wir den jungen Leuten nicht mehr zumuten." Es ist einer der wenigen Augenblicke im Gespräch, in denen der Minister die Stimme hebt.

 

Dieses Porträt erschien zuerst im DSW Journal 4/2022.


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