Was bedeuten Israels Gaza-Vorgehen und die Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs für Deutschlands Hochschulen und ihre Beziehungen zu Israels Wissenschaft? Wie sollen Hochschulleitungen mit propalästinensischen Protesten umgehen? Eine Analyse in fünf Punkten – aus aktuellem Anlass.

Foto: Xenia Hübner/ccnull.de, CC-BY 2.0 .
"GERMANY MUST stop supporting the annihilation of Palestinians", lautet die Überschrift eines Offenen Briefs von Wissenschaftlern und Aktivisten an die Bundesregierung, der, veröffentlicht Ende Oktober 2024, inzwischen über 5000mal unterzeichnet wurde. Nachdem der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag Haftbefehle gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu, Ex-Verteidigungsminister Yoav Gallant und den inzwischen gesichert getöteten früheren Hamas-Militärchef Mohammed Deif erlassen hatte, verfassten Mitinitiatoren des Offenen Briefs Mitte Dezember weitere Aufrufe, einer davon gerichtet an das Präsidium der Hochschulrektorenkonferenz (HRK).
Unter dem Betreff "Internationales Recht und Pflichten seitens der Universitäten" heißt es darin: "Wir schreiben Ihnen in Ihrer Funktion als Präsidium der HRK, aber auch als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler." Und weiter: "Die kürzlich erlassenen Haftbefehle des IStGH gegen Netanjahu und Gallant sowie die neuesten "Berichte der UN und Amnesty International, die Israels Vorgehen in Gaza als einen Völkermord an der palästinensischen Bevölkerung werten, sind der jüngste Appell nicht nur an die Bundesregierung, sondern an uns alle, einschließlich der Universitäten, endlich unserer Pflicht nachzukommen, Völkerrechtsverbrechen zu verhindern und zu stoppen."
Konkret fordern die Unterzeichner von der HRK ein "Bekenntnis zum internationalen Recht", die Federführung bei der Überprüfung "aller akademischen Beziehungen zu israelischen Institutionen", die Sicherstellung, "dass diese den Prinzipien des internationalen Rechts entsprechen" und "den Abbruch von Beziehungen zu israelischen Universitäten": "Beenden Sie die Beziehungen zu israelischen Universitäten und stellen Sie sämtliche Unterstützung für diese Institutionen ein." Israels Universitäten hingen eng mit Israels Besatzungs- und Apartheidpolitik zusammen.
Die Erlanger Volkswirtschaftsprofessorin Christine Binzel hat den Appell an die HRK kurz vor Weihnachten auf ihrem "X"-Account öffentlich gemacht, neben ihr haben ihn die Global-Health-Professorin Hanna Kienzler vom King's College London und Michael Barenboim, Musiker und Professor an der Barenboim-Said Akademie, unterschrieben.
Wie reagierte die Hochschulrektorenkonferenz? HRK-Präsident Walter Rosenthal verwies auf Anfrage auf eine kurze Antwort per Mail, die das Präsidium Anfang vergangener Woche an Binzel, Kienzler und Barenboim verschickt hatte. Deren Kernsatz: Die HRK habe "bereits direkt nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 genau wie die Allianz der Wissenschaftsorganisationen ihre Positionierungen sehr früh und nachfolgend sehr differenziert in den letzten Monaten öffentlich gemacht".
Den Finger in die Wunde
der deutschen Debatte gelegt
Fest steht: Die Unterzeichner des Offenen Briefs aus dem Oktober und der Extra-Aufforderung an die Hochschulen legen den Finger in eine Wunde der deutschen Debatte. Gilt internationales Recht, gelten eingegangene internationale Verpflichtungen etwa dem Strafgerichtshof-Status gegenüber nur, solange sie nicht mit der eigenen Staatsräson in Konflikt geraten? Wie wäre sie zu führen, eine sachlich angemessene Debatte über die Konsequenzen für Deutschlands Politik, Gesellschaft und – ja auch – für Deutschlands Wissenschaft und ihren Umgang mit israelischen Institutionen?
Persönlich erscheinen mir fünf Feststellungen besonders wichtig.
1. Die Forderungen der Unterzeichner in ihrem Brief an die HRK sind legitim, sie sind angemessen begründet – und es ist nicht antisemitisch, angesichts der Dimensionen des militärischen Vorgehens Israels in Gaza die Beziehungen zu israelischen Institutionen von der Einhaltung internationalen Rechts abhängig machen zu wollen.
2. Ganz gleich, ob man die Initiative der Briefeschreiber inhaltlich unterstützt oder ablehnt: Sie ist selbstverständlich Teil des demokratisch erlaubten Diskurses, und die Meinungsfreiheit leidet, wenn dieser unterdrückt oder verächtlich gemacht würde.
Doch hat die am 7. November beschlossene Bundestagsresolution "Nie wieder ist jetzt - Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken", bei allem guten Willen, den Druck auf diesen Diskurs längst weiter verstärkt. Ein Zitat aus dem Resolutionstext: "Der Deutsche Bundestag bekräftigt seinen Beschluss, dass sicherzustellen ist, dass keine Organisationen und Projekte finanziell gefördert werden, die Antisemitismus verbreiten, das Existenzrecht Israels in Frage stellen, die zum Boykott Israels aufrufen oder die die BDS-Bewegung aktiv unterstützen." Hier wird jegliche Form des Boykottaufrufs unabhängig von ihrem Inhalt mit Antisemitismus gleichgesetzt.
Eine weitere, speziell auf Bildung und Wissenschaft bezogene Antisemitismus-Resolution soll voraussichtlich Ende Januar im Bundestag zur Abstimmung gestellt werden. HRK-Präsident Rosenthal hatte im November von Sorgen in der Wissenschaft "vor unzulässigen Folgewirkungen" gesprochen. "Die Resolution enthält Forderungen, die auch bei besten Absichten als Einfallstor für Einschränkungen und Bevormundung etwa in der Forschungsförderung verstanden werden könnten."
3. Während international mehr und mehr Universitäten in Europa und anderswo tatsächlich israelische Institutionen boykottieren, gehen deutsche Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen einen anderen Weg, haben zum Teil sogar neue Kooperationsprogramme aufgelegt. Deutschland mag damit mehr und mehr zur Ausnahme werden, was angesichts der historischen Verantwortung gegenüber Israel nach der Shoa mehr als gut erklärbar ist. Misst Deutschland, siehe das andere Vorgehen etwa gegenüber Russland, mit zweierlei Maß? Ich persönlich finde: nein. Die Hintergründe zwischen unprovoziertem Angriffskrieg und israelischer Militäraktion als Reaktion auf die Hamas-Terrorangriffe vom 7. Oktober 2023 sind zu unterschiedlich. Und, wie gesagt, die deutsche Verantwortung gegenüber Israel zu besonders. Ich kann aber nachvollziehen, wenn anders argumentiert wird. Unabhängig von der Bewertung der Lage: Der reale Wissenschaftler- und Studierendenaustausch der Bundesrepublik mit Israel ist unter anderem wegen der Reisewarnung des Auswärtigen Amtes längst stark reduziert.
Warum ein Boykott israelischer
Hochschulen der falsche Weg ist
4. Auch ohne Berücksichtigung der deutschen Geschichte halte ich einen Boykott israelischer Hochschulen für den falsche Weg. Warum, hat gerade erst ein Interview von Research Table mit David Harel, dem Präsidenten der Israel Academy of Sciences and Humanities, bemerkenswert deutlich gemacht. Darin sagt Harel, die Netanjahu-Regierung sei "in vielerlei Hinsicht dabei, die Demokratie zu zerstören". Er verweist auf zwei Vorschläge für Gesetzesänderungen aus dem rechten Lager. Die eine würde dem Bildungsministerium in bestimmten Fällen ermöglichen zu entscheiden, was als Terrorunterstützung gilt und was nicht. Mit der anderen könnten Universitätspräsidenten gezwungen werden, Fakultätsmitglieder zu entlassen, wenn diese sich in einer Richtung äußerten, die im Bildungsministerium als Terrorunterstützung betrachtet werde.
Wenn Harel betont, unter israelischen Wissenschaftlern sei der Anteil der regierungskritischen Stimmen höher als in anderen Bevölkerungsgruppen, dann setzt er damit den entscheidenden Punkt: Wer die Demokratie und damit auch den Widerstand gegen die fatale Politik der Netanjahu-Regierung stützen will, sollte die israelischen Wissenschaftler und Hochschulen jetzt nicht im Stich lassen. Bei Harel klingt das so: "Wer möchte, dass sich Israel aus Gaza zurückzieht; wer möchte, dass die bösartigen Angriffe der Regierung auf unsere Demokratie enden; wer diese Regierung loswerden will, der sollte nicht die Wissenschaft boykottieren."
5. In ihrem Brief an die HRK forderten Binzel, Kienzler und Barenboim auch den aktiven Schutz von Studierenden, Wissenschaftlern und Lehrenden, "die sich für die Menschenrechte und gegen die völkerrechtlichen Verbrechen in Gaza einsetzen". Doch zeigen die Vorgänge wie zuletzt an der Berliner Alice-Salomon-Hochschule, wie schwer die richtige Balance in der Praxis ist. Dort hatte die Hochschulleitung unter anderem eine Hörsaalbesetzung geduldet. Präsidentin Bettina Völter geriet in die Kritik, als sie die Präsenz von Polizeibeamten als "bedrohlich" bezeichnete und diese aufforderte, den Eingangsbereich zu verlassen. Der Tagesspiegel berichtete, die Aktivisten hätten innerhalb der Hochschule Hamas-Parolen geschmiert und die Büste von Alice Salomon, der jüdischen Namensgeberin der Hochschule, mit einem sogenannten Palästinensertuch verhüllt. Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU nannte es in seiner Reaktion "völlig unverständlich“, dass Völter die Polizei als Bedrohung sehe und nicht die "vermummten und gewalttätigen Antisemiten". Der CDU-Fraktionschef im Abgeordnetenhaus verlangte sogar den Rücktritt der Rektorin.
Konstruktiver war die Einlassung des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein. Die Vorgänge an der Alice-Salomon-Hochschule zeigten "einmal mehr", dass bei den Hochschulleitungen weiterhin Bedarf an Beratung für das Thema Antisemitismus bestehe, sagte Klein ebenfalls im Tagesspiegel. Im aktuellen Fall sei "ganz offensichtlich" der Unterschied zwischen berechtigten Anliegen für die palästinensische Zivilbevölkerung und Hamas-Solidarität sowie Hass und Hetze gegen Jüdinnen und Juden verkannt worden. "Umso wichtiger ist es nun, dass an allen Hochschulen Antisemitismusbeauftragte eingesetzt werden."
Aus der ASH heraus gibt es neben der Kritik inzwischen zwei offene Unterstützungsbriefe von Hochschulangehörigen, die sich solidarisch mit dem ASH-Präsidium und Völter erklären, einer davon ein "Statement jüdisch-"(deutsch)-israelischer Angehöriger und ehemaliger Angehöriger der Hochschule": "Politische Akteure aus dem rechten und konservativen Spektrum nutzen die viral gegangenen Grenzüberschreitungen von Teilen der Besetzer_innen, um Kritik am Umgang der deutschen Bundesregierung mit dem Israel-Palästina-Konflikt und dem Vorgehen des israelischen Militärs in Gaza pauschal zu kriminalisieren und zum Schweigen zu bringen."
Als Demokratie müssen wir alles schaffen: einen offenen und kritischen Diskurs über Israels Vorgehen in Gaza führen und die Kritiker schützen; friedliche Proteste ermöglichen und absichern; die Kanäle von Kommunikation und Austausch mit Israels Wissenschaft offenhalten – und entschieden gegen all jene vorgehen, die in Wort und Tat den palästinensischen Terror verherrlichen, Antisemitismus verbreiten oder Israels Existenzrecht infragestellen. Als Demokratie müssen wir die Differenzierung, die all dies parallel erfordert, wollen, üben und verteidigen.
Liebe Leserinnen und Leser,
wie immer sind Sie herzlich zum Mitdiskutieren eingeladen. Bitte beachten Sie jedoch, dass von diesem Jahr an die Netiquette hier im Blog noch konsequenter zu beachten ist. Das bedeutet: keine persönlichen Angriffe oder Herabwürdigungen, ein wertschätzender Ton auch bei inhaltlichen Differenzen. Zur Sache kritische Kommentare sind sehr willkommen, wobei ich mir im Zweifel vorbehalte, die Verwendung nachvollziehbarer Klarnamen zur Voraussetzung einer Veröffentlichung zu machen.
Dieser Blog zeichnete sich immer dadurch aus, dass er unterschiedliche demokratische Perspektiven in gegenseitiger Wertachtung gelten ließ. Dabei soll, muss und wird es bleiben, ganz gleich wie die Debatte anderswo sich entwickelt.
Mit bestem Dank und guten Wünschen für 2025
Ihr Jan-Martin Wiarda
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Lilly Berlin (Montag, 13 Januar 2025 22:56)
Ein allgemeiner Boykott wissenschaftlicher Zusammenarbeit ergibt wenig Sinn; nicht nur weil damit eine Gelegenheit zum (kritischen) Dialog wegfällt, sondern auch weil allein damit kein Beitrag zu einer Veränderung geleistet werden kann (dazu dürfte die Kooperation mit Deutschland kaum wichtig genug sein). Schlimmer noch, ist es auch eine Manifestation für den abwegigen deutschen Anspruch einer moralischen Überlegenheit. Entsprechende Überlegungen spielen dann bei anderer Gelegenheit (zu Recht) so gar keine Rolle, zB bei der Zusammenarbeit mit China oder Saudi-Arabien.
Richtig ist vielmehr, sich bei jeglicher Zusammenarbeit an den eigenen ethischen Grundsätzen zu orientieren, auch wenn das für jede und jeden deutlich unbequemer ist und eigenen Aufwand bei der Abwägung bedeutet.
https://drive.google.com/file/d/16Dfu-YHy2XOvU6q0SYlRHidiLsn84bB_/view?usp=sharing (Mittwoch, 22 Januar 2025 08:44)
Prof. Christine Binzel:
Lieber Herr Wiarda,
vielen Dank für diesen Artikel und die Möglichkeit einer sachlichen Auseinandersetzung!
Wir haben eine längere Antwort verfasst, die unter dem oben genannten Link einsehbar ist.
Unsere Hauptpunkte sind folgende: Erstens, das Völkerrecht gilt für alle, auch für Israel. Werden Völkerrechtsverbrechen festgestellt, entstehen daraus bestimmte Pflichten für Drittstaaten wie Deutschland. Zweitens, israelische Universitäten haben sich nicht von israelischen Völkerrechtsverbrechen/dem Genozid oder auch von Besatzung und Apartheid distanziert. Im Gegenteil: Berichte deuten darauf hin, dass israelische Universitäten den Genozid auf verschiedene Weise unterstützen (ebenso Besatzung und Apartheid) und sich nicht schützend vor Lehrende stellen, die sich kritisch gegenüber Israels Vorgehen in Gaza äußern. Drittens, indem wir Kooperationen aussetzen, senden wir ein klares Signal an die Universitätsleitungen und die Politik, dass die internationale Gemeinschaft Belege für Völkerrechtsverbrechen sieht (ähnlich wie im Fall Russlands). Wir stärken damit kritischen Wissenschaftler:innen in Israel den Rücken, da wir ihre Stimme verstärken und sie mit ihrer Position nicht alleine dastehen. Zuletzt deuten repräsentative Umfragen darauf hin, dass deutsche Universitäten nicht davon ausgehen können, dass sich ihre Kooperationspartner in Israel klar gegen Genozid, Besatzung und Apartheid positioniert haben, auch wenn eventuell Wissenschafler:innen überproportional die geplanten Gesetzesänderungen durch die Netanjahu-Regierung ablehnen.
Der Abbruch von Kooperationen mit israelischen Universitäten kann also einen Beitrag zu Frieden und Gerechtigkeit leisten, indem es ein deutliches Signal gegen den Genozid und gegen die illegale Besatzung und Apartheid sendet mit dem Ziel, dass die Menschenrechte und das Recht auf Selbstbestimmung für alle respektiert werden.
Laubeiter (Mittwoch, 22 Januar 2025 09:30)
Wenn es hier um Differenzierung gehen soll, möchte ich Prof. Binzel fragen, warum sie Genozid viermal anspricht, als hätte der IGH einen solchen angekündigt zu untersuchen. Dies ist nicht der Fall, daher scheint mir Differenzierung nötig. Die Haftbefehle des IGH gegen die beiden Mitglieder der Regierung Israels sind ausgestellt, weil der IGH die beiden anklagt, Verantwortung zu tragen für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. https://www.icc-cpi.int/news/situation-state-palestine-icc-pre-trial-chamber-i-rejects-state-israels-challenges
Martin Müller (Donnerstag, 23 Januar 2025 13:50)
Ich bin sehr stolz, wie die TUM mit der illegalen Hörsaalbesetzung durch Pro-Palästina DemonstrantInnen diese Woche umgegangen ist:
- Polizei rufen
- Personalien feststellen
- Der Uni verweisen
- Anzeigen wegen Hausfriedensbruch
Genau so hat das zu laufen. Da können sich v.a. die Berliner Universitäten noch eine Scheibe von abschneiden.
Es kann nicht sein, dass vermummte, antisemitische Mobs unter dem Deckmantel der "Palästina-Solidarität" an den Unis Angst und Schrecken verbreiten und so den Unibetrieb kapern. Dass es wohl ernsthaft ProfessorInnen gibt, die auf der Seite der AggressorInnen stehen, ist mir vollkommen schleierhaft.
Merlon (Donnerstag, 23 Januar 2025 16:15)
Es ist wirklich SEHR auffällig, dass sich Manche wie besessen und über Jahre "für Palästinenser" einsetzen, während sie kein Wort zur Unterdrückung der Uiguren in China, den Massenmorden Assads in Syrien, und anderen Verbrechen verlieren.
Die Empörung ist wohl sehr selektiv, und abhängig von den Beschuldigten...