Sechs persönliche Gedanken zum Bundestags-Eklat mit einer Woche Abstand.

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"KEEP YOUR EYE ON THE BALL": An diese Redewendung musste ich in den vergangenen Tagen oft denken. So verwirrend waren für mich Lautstärke, Chaos und, ja, Kakophonie des öffentlichen Diskurses, nachdem die Union im Bundestag zweimal versucht hatte, Beschlüsse zur Migrationspolitik mithilfe der AfD durchzusetzen. Der CDU-Entschließungsantrag zum "Fünf-Punkte-Plan" war dank AfD-Unterstützung erfolgreich, ist aber nicht bindend. Das "Zustrombegrenzungsgesetz" scheiterte trotz AfD-Unterstützung. Dammbruch? Halb so wild? Schuld von CDU-Chef Friedrich Merz? Oder waren die SPD, Grüne und Teile der FDP zu kritisieren mit ihrer "Verweigerungshaltung"? Was ist da wirklich passiert? Sechs persönliche Gedanken mit einer Woche Abstand.
1. Das Außergewöhnliche nicht kleinreden
Robin Alexander von der WELT schrieb, "zuerst" seien es SPD und Grüne gewesen, "die nach dem Aus der Ampel AfD-Stimmen nutzten, um eine (Verfahrens-)Mehrheit gegen die Union zu erreichen". Das habe nicht die Dimension eines gemeinsam beschlossenen Gesetzes, gehöre aber zur Wahrheit dazu. Anderswo wurde argumentiert, auf Kommunalebene hätten demokratische Parteien doch auch schon häufiger mit der AfD zusammen abgestimmt und so eine Mehrheit erreicht.
Ich halte weder das eine noch das andere Argument für valide. Zu Recht wies die grüne Bundestagsabgeordnete Canan Bayram auf "X" darauf hin, dass die Sache mit dem abgelehnten CDU/CSU-Antrag, auf den Alexander sich bezog, völlig anders gelagert war. Erstens bestand der damalige Unionsantrag im Rechtsausschuss darin, einen anderen, fraktionsübergreifenden Gruppenantrag zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs von der Tagesordnung zu nehmen. Zweitens wurde mit der Mehrheit gegen diesen Verfahrensantrag nichts Inhaltliches beschlossen. Drittens reichten die Gegenstimmen auch ohne die AfD.
Als die Unionsfraktion am vergangenen Mittwoch die Entschließung zu ihrem Fünf-Punkte-Migrationsplan im Plenum durchsetzte, war vor der Abstimmung klar, dass CDU/CSU ausschließlich mit Unterstützung der AfD eine Mehrheit erreichen würden, und diese nahmen sie – noch dazu bei einem derart symbolträchtigen Thema wie der Migrationspolitik – in Kauf. Genau deshalb sprachen viele bis in die Union hinein von einem bundespolitischen Tabubruch, der die politische Architektur der Bundesrepublik erschüttere.
Indes: Nur weil der von der CDU/CSU kam, sind die anderen demokratischen Parteien nicht aus dem Schneider. Sich über die Fehler der anderen im Umgang mit der Gefahr von rechts zu erregen, macht einen nicht davor gefeit, selbst welche zu machen.
Doch selbst wer das Wort "Tabubruch" zu moralistisch findet, muss zugeben: Der Vorgang hatte eine neue Dimension und war daher nicht vergleichbar mit kalkulierten Kooperationen mit der AfD auf Kommunalebene. Sehr wohl haben solche Kooperationen aber ihren jeweiligen Beitrag zur Normalisierung der je nach Bundesland laut Verfassungsschutzgesichert rechtsextremen AfD geleistet.
Als nach der Abstimmung Teile der Union SPD und Grünen vorwarfen, sie hätten gar nicht ernsthaft nach einer Einigung gesucht, um die Union schlecht aussehen zu lassen, war das wiederum nichts Anderes als der Versuch einer Verantwortungsumkehr. Mal schauen, ob die FDP Erfolg hat mit ihrem Versuch, im nächsten Anlauf ein gemeinsames Vorgehen der demokratischen Parteien hinzubekommen. Zunächst sah es nicht so aus.
2. Hört auf mit dem Anlegen von Listen
Nachdem das von CDU/CSU eingebrachte "Zustrombegrenzungsgesetz", welch furchtbarer Name nebenbei gesagt, am vergangenen Freitag gescheitert war, kursierten umgehen die Namen der Unions- und FDP-Abgeordneten, die das Gesetz nicht unterstützt hatten, sei es durch Enthaltung, Nein-Stimmen oder indem sie nicht zur Abstimmung erschienen waren.
Rechte Journalisten verbreiteten Listen mit Fotos, die vielfach über die sozialen Medien geteilt wurden. Die betreffenden Unionsabgeordneten wurden als die letzten Merkelianer beschimpft, die ohnehin bald weg seien, die FDP-Parlamentarier teilweise als zum "links-grünen Sumpf" gehörig. Zum Glück gab es sowohl aus Union als auch aus FDP Proteste gegen ein solches Vorgehen. "Was ist das? Eine Proskriptionsliste?", fragte ein FDP-Kommunalpolitiker.
Klar ist: Das Anlegen von Listen mit Andersdenkenden gehört in Diktaturen und autoritäre Systeme, nicht in Demokratien. Kein Wunder, dass schon die interne Erstellung einer Liste kritischer Wissenschaftler im BMBF während der sogenannten "Fördermittelaffäre" nach Bekanntwerden so heftige Reaktionen ausgelöst hatte. Wer Namenslisten gar als öffentliches Mittel der politischen Auseinandersetzung einsetzt, zerstört, bewusst oder unbewusst, den freien Diskurs und will seine eigene Meinung mit Druck und Angst durchsetzen.
3. Die Brücken des Austauschs nicht verächtlich machen
Ebenfalls kein Ruhmesblatt der Medienberichterstattung waren die in Enthüllungsstil gehaltenen Artikel über ein Treffen führender Politiker von Union und Grünen in der Wohnung von Armin Laschet. Zuerst hatte der Stern berichtet. Tenor: Hinter den Kulissen feiern sie miteinander Partys, öffentlich gehen sie aufeinander los und überziehen sich gegenseitig mit Feindseligkeit und Vorwürfen. Also, konnte man folgern, doch alles nur Schauspiel? Zugespitzt ließ sich sogar ein typisches Narrativ von AfD und BSW bedienen: Die "Altparteien" stecken in Wirklichkeit doch alle unter einer Decke, sie inszenieren Demokratie bloß. Ich glaube keineswegs, dass der Stern diese Deutung intendiert hat, aber warum muss man es überhaupt als besondere Nachricht herausstellen, dass Politiker der demokratischen Parteien versuchen, in diesen schwierigen Zeiten die Brücken des Austauschs zu erhalten? Wir dürfen diese Brücken gerade jetzt auf keinen Fall verächtlich machen, sonst geht kein Politiker mehr hinüber.
4. Die wahre Motivation der Rechtsextremen kennen
Der entscheidende Unterschied zwischen migrationskritischen Demokraten und migrationskritischen Rechtsextremen? Letztere werden ideologisch durch die Verschwörungstheorie des Großen Austausches motiviert, dessen Ziel angeblich darin besteht, die angestammte (und weiße, christliche) Bevölkerung der westlichen Welt durch muslimische und nichtweiße Einwanderer zu ersetzen.
Vor dem Hintergrund dieser rassistischen Theorie, die sich bis weit in die AfD hineingefressen hat, erklärt sich auch der Druck von Rechtsextremen gegen alles "Woke", gegen die Genderwissenschaften und gegen die LGBT+-Community. Denn auch diese werden als Bewegungen gesehen, die die angeblich traditionellen Werte und Lebensweisen korrumpieren und so die Bevölkerung nachhaltig verändern wollen.
Wo Demokraten Kritik an der Migrationspolitik oder auch nur am Gendern üben, tun sie das aus einer anderen Motivation heraus. Sie wollen "dichter dran" sein an dem, was sie für die wahren Probleme und die Gefühle der "normalen" Leute halten. Doch wird die Unterscheidung immer schwieriger, was wirklich der Mehrheitsmeinung entspricht und wo lediglich eine lautstarke, radikale Scheinmehrheit den Diskurs nach rechts verschoben hat.
Apropos: Eine aktuelle Forsa-Umfrage ergibt, dass das Wahlkampfthema "Zuwanderung/Geflüchtete" in der Priorität der Bevölkerung nur auf Platz fünf landet, Platz 1: "Schutz der Demokratie/Bekämpfung des Rechtsextremismus", Platz 2: "Wirtschaftliche Entwicklung". Die Union sank in der nach dem Bundestags-Eklat gemachten repräsentativen Umfrage um zwei Prozentpunkze auf 28 Prozent, Grüne und Linke legten zu – die AfD nicht. Ein etwas anderes Bild im ARD-Deutschland-Trend: jeweils plus ein Prozent für Union und AfD, minus ein Prozent für die Grünen. Was Spiegel-Spindoktoren gleich zu der Aussage veranlasste: "Hat der Tabubruch im Bundestag der Union geschadet? Im Gegenteil, zeigt eine wichtige Umfrage". Dabei sind die Ergebnisse in Wirklichkeit schlicht uneinheitlich, was dafür spricht, dass die Angelegenheit bislang keine großen Verschiebungen brachte.
Übrigens: Selbst wenn im Extremfall tatsächlich eine Bevölkerungsmehrheit für eine Einschränkung von Freiheiten oder Menschenrechten wie Asyl sein sollte, könnte und dürfte das für eine demokratische Partei niemals handlungsleitend sein, denn sie ist zuerst den – auch im Grundgesetz unantastbaren – Menschenrechten verpflichtet.
Alle Demokraten sollten daher gerade in aufgeregten Zeiten genau prüfen, was tatsächlich den Emotionen zugrunde liegt, auf die sie reagieren, und ob die diskutierten Gesetze wirklich Probleme lösen – oder doch nur den Rechtsextremen und ihren zugrundeliegenden Verschwörungstheorien nützen.
5. Evidenzbasierung bitte
Deshalb: Wenn aufgeregt über "täglich stattfindenden Gruppenvergewaltigungen aus dem Milieu der Asylbewerber heraus" diskutiert wird, gehört es zur Verantwortung demokratischer Politiker zu differenzieren. So sehr der Begriff die Fantasie anregen mag (oder soll), ist die Realität komplexer. Erstens: Die zur Anzeige gebrachten Gruppenvergewaltigungen sind laut Polizeilicher Kriminalstatistik bereits als solche definiert, wenn es mehr als einen Tatverdächtigen gibt. Fest steht auch, das schon die Tatvertuschung durch einen zweiten als dessen mutmaßliche Tatbeteiligung gezählt wird. Zweitens: Die Zahl der Verdachtsfälle blieb über Jahre nahezu stabil, 2019: 710, 2021: 677, 2023: 761. Der Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen erreichte 2019 50 Prozent, 2023 48 Prozent. Der Anteil der Asylbewerber darunter: unbekannt. Aber sicher der deutlich kleinere Teil unter den Nichtdeutschen.
Wer zuspitzt und übertreibt, hilft nur den Radikalen, weil die Stimmung weiter angeheizt wird. Noch zwei Beispiele: Laut "Mediendienst Integration" stieg die Zahl der Messerangriffe 2023 gegenüber dem Vorjahr um knapp zehn Prozent, aber die Gewalttaten stiegen insgesamt fast ebenso stark. Und: Die Zahl der registrierten Mordopfer in Deutschland sank tendenziell in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Im Jahr 2000 waren es 497, 2023 dagegen 299.
Dass Flüchtlinge bedroht und ausgegrenzt werden, und zwar alltäglich, findet derweil kaum noch Beachtung. Oder haben Sie die breite Berichterstattung darüber wahrgenommen, dass im Jahr 2024 1.905 Straftaten allein gegen Geflüchtete registriert wurden, davon 237 Gewalttaten? Auch das ist die Realität.
Und Teil einer Einordnung, die eigentlich demokratische Politiker leisten müssten, sich aber kaum noch trauen, weil sie womöglich im nach rechts gerutschten Diskurs Angst haben, der Relativierung oder Verharmlosung der jüngsten Gewaltakte bezichtigt zu werden. Dann präsentiert man lieber Pläne zu einer Verschärfung der Migrationspolitik und Gesetzesinitiativen, die die schrecklichen Taten wie in Magdeburg, Aschaffenburg oder Mannheim nicht verhindert hätten.
6. Was eine härtere Migrationspolitik tatsächlich auslöst
Schon die Vorstellung, Deutschland könnte als größter EU-Mitgliedstaat mit dauerhaften Grenzkontrollen oder der generellen Zurückweisung von Asylbewerbern an der Grenze geltendes Europarecht brechen, ist verheerend. Das Argument, das zugrundeliegende Europarecht sei dysfunktional, macht es eher noch schlimmer, denn dann muss man es auf dem dafür vorgesehenen Weg ändern. Fest steht: Die Realisierung solcher Pläne würde eine sehenden Auges heraufbeschworene massive Schwächung Europas in geopolitisch höchstkritischen Zeiten bedeuten. Übrigens hat SPD-Innenministerin Nancy Faeser mit ihrer wiederholten Verlängerungen vorübergehender Grenzkontrollen auch ihren Anteil daran, diese mit Hinweis auf den Kampf gegen die "irreguläre Migration" politisch wieder zu normalisieren.
Doch selbst wenn man annähme, die in Entschließungsantrag und Gesetzentwurf von vergangener Woche enthaltenen Maßnahmen würden, tatsächlich umgesetzt, etwa die längst eingebrochenen Migrationszahlen weiter verringern: Die negativen Auswirkungen auf Politik, Wirtschaft und Wissenschaft wiegen allein aufgrund des zu diesem Zweck eingeschlagenen Weges schon jetzt schwer.
Für die Politik: Die Inkaufnahme einer Mehrheitsbeschaffung mithilfe der AfD auf deren ureigensten Politikfeld macht vielen politisch Aktiven in allen demokratischen Parteien, auch in CDU und CSU, große Angst. Und sie ermutigt die AfD, ihren Druck weiter zu verstärken, um die Spitzen der demokratischen Parteien zu noch mehr zweifelhaftem Taktieren zu bringen. Umso wichtiger ist, dass die Union jetzt wirklich glaubhaft macht, dass sich Ähnliches nicht wiederholen wird.
Für Wirtschaft und Wissenschaft: Unter einheimischen Akademikern wird bis ins konservative Lager bereits länger darüber diskutiert, wann man angesichts des gesellschaftlichen Rechtsrucks besser das Land verlassen sollte. Ein Braindrain-Szenario, das seit vergangener Woche wahrscheinlicher geworden ist.
Die "High Potentials" mit internationalen Wurzeln sind noch empfindlicher. Man kann schlicht nicht einerseits eine pauschal härtere Rhetorik gegen Geflüchtete fahren und andererseits Deutschland als weltoffenes Einwanderungsland für Spitzenkräfte darstellen. Die zunehmende Anti-Flüchtlings-Stimmung macht im Alltag schon lange keinen Unterschied mehr bei der Frage, welchen Aufenthaltsstatus jemand hat. Menschen, die hier geboren wurden oder die als hochqualifizierte Wissenschaftler ins Land kamen, berichten immer häufiger, allein aufgrund ihres Aussehens blöden Sprüchen zu begegnen oder angepöbelt zu werden. Kritisieren sie das öffentlich oder engagieren sie sich gar politisch, wird ihnen mitunter gedroht oder nahegelegt, sie könnten ja Deutschland verlassen. Auch wenn sie Deutsche sind. Es könnte sein, dass viele es bald tun werden.