Jedes Jahr wird weltweit überprüft, wie frei Wissenschaftler arbeiten können. Jetzt ist die Bundesrepublik beim "Academic Freedom Index" aus der Spitzengruppe gefallen. Ein Gespräch mit Politikwissenschaftlerin Katrin Kinzelbach.

Foto: FAU/Kurt Fuchs.
Frau Kinzelbach, zusammen mit schwedischen Kollegen geben Sie jährlich den "Academic Freedom Index" heraus, einen Überblick über den Zustand der Wissenschaftsfreiheit in 179 Ländern. Deutschland, einst Spitzenreiter, ist jetzt aus der Top-10-Prozent-Spitzengruppe herausgefallen. Was ist passiert?
Wir stellen in unserem Bericht einen Rückgang bei der Wissenschaftsfreiheit in Deutschland fest. Die Zeit, in der Deutschland an der internationalen Spitze des Index lag, ist leider vorbei. Aber wir sollten die Lage nicht überdramatisieren, die Bundesrepublik gehört weiter zu den Ländern, die einen Indexwert im obersten Fünftel der Skala haben, das heißt, die Wissenschaftsfreiheit ist insgesamt sehr gut geschützt. Trotzdem müssen wir jetzt wachsam sein, damit sich der Abwärtstrend nicht fortsetzt.
Wie erklären Sie sich den deutschen Abwärtstrend?
In Deutschland messen wir Rückgänge in mehreren Dimensionen der Wissenschaftsfreiheit, das Problem ist also vielschichtig. Ich vermute, dass die BMBF-Fördermittelaffäre eine Rolle gespielt hat, also die Frage, ob es förderrechtliche Konsequenzen hat, wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre politische Meinung etwa zum Gaza-Konflikt öffentlich äußern. Auch der Umgang mit propalästinensischen Protesten an den Universitäten wurde im vergangenen Jahr sehr kontrovers diskutiert, was möglicherweise zu Verunsicherungen geführt hat. Und auch wenn das nicht meiner persönlichen Wahrnehmung entspricht, sollten wir auch diejenigen ernst nehmen, die kritisieren, sie fühlten sich nicht mehr frei darin, an Universitäten ihre Meinung zu äußern. >>>
Wie sich Wissenschaftsfreiheit messen lässt
"Es gibt kein Zentimetermaß, kein Thermometer, an dem man ablesen kann, ob sich die Wissenschaftsfreiheit in einem Land verbessert oder verschlechtert", sagt die Politikwissenschaftlerin Katrin Kinzelbach von der Uni Erlangen-Nürnberg.
Stattdessen hat ihr Forschungsteam einen Index entwickelt, der zu fünf verschiedenen Dimensionen von Wissenschaftsfreiheit die Einschätzung von 2300 Expertinnen und Experten aus aller Welt abfragt:
o Freiheit der Forschung und Lehre
o Freiheit des wissenschaftlichen Austauschs und der Wissenschaftskommunikation
o Institutionelle Autonomie von Universitäten
o Campus-Integrität
o Ausdrucksfreiheit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern
Aus den verschiedenen Bewertungen, die für jedes Land eingehen, wird dann mit einem statistischen Modell der wahrscheinlichste Indexwert für ein Land errechnet, inklusive Unsicherheitsintervall.
"Das ist wichtig, weil dann klar wird: Die Überlappungen zwischen den einzelnen Ländern sind groß", sagt Kinzelbach. "Österreich etwa befindet sich in der Top-10-Prozent-Gruppe, also vor Deutschland, doch die Mess-Unsicherheit führt dazu, dass Deutschland theoretisch gleichauf mit Österreich liegen könnte, allerdings keinesfalls mit Tschechien, das statistisch signifikant an der internationalen Spitze liegt, vor Deutschland."
>>> Meinungsfreiheit ist aber doch nicht Wissenschaftsfreiheit?
Schon richtig, doch das Campusleben und auch die Äußerungsfreiheit in fachlichen Fragen spielen in den Index hinein. Im Kern geht es bei der Wissenschaftsfreiheit natürlich darum, ob die institutionelle Autonomie von Universitäten angegriffen wird, und ob die Forschenden frei sind in ihrer Lehre und in ihrer Forschung. Hier haben wir in jüngster Zeit zwar ein paar Fragezeichen gesehen in Deutschland, aber im Großen und Ganzen herrscht immer noch große Freiheit.
Die Bundesrepublik scheint mit dem Trend nach unten nicht allein zu sein. Ihr Bericht dokumentiert, dass es mit der Wissenschaftsfreiheit zwischen 2014 und 2024 international vielfach bergab ging.
Wir stellen in 34 Ländern eine substanzielle Verschlechterung im Vergleich zu vor zehn Jahren fest, während es nur in acht – übrigens allesamt sehr kleinen – Ländern eine statistisch bedeutsame Verbesserung gab, dort also die Wissenschaftsfreiheit heute besser geschützt ist als 2014. Gleichwohl sollten wir zwei Dinge nicht vergessen. Erstens: In einem Großteil der Länder stagnierte die Entwicklung, es geht also nicht überall bergab – aber es geht an zu vielen Orten bergab. Zweitens: Unabhängig vom Trend nach oben oder unten ist der absolute Wert der Wissenschaftsfreiheit entscheidend. Und da ist in sehr vielen Staaten sehr viel Luft nach oben.
Den Schwerpunkt Ihrer Analyse haben Sie in diesem Jahr auf die Länder gelegt, in denen Parteien an Macht gewinnen, die Sie als "antipluralistisch" bezeichnen. Was meinen Sie damit?
Das sind politische Gruppierungen, die sich dem demokratischen Prozess nicht verpflichtet fühlen, die die Legitimität ihrer politischen Gegner bestreiten, die politische Gewalt nicht verurteilen oder vielleicht sogar befördern und außerdem Rechte von Minderheiten nicht schützen oder explizit infrage stellen. Je mehr dieser Punkte zusammenkommen, desto deutlicher antipluralistisch ist eine Partei.
"Unsere Fallstudien zu Argentinien, Polen und den USA unterstreichen den Druck, unter den die Wissenschaftsfreiheit gerät, sobald antipluralistische Parteien an die Macht kommen. Und sie zeigen, dass sich die Methoden und Strategien stark ähneln."
Stellen Sie einen Zusammenhang zwischen dem internationalen Aufstieg dieser Parteien und der international zurückgehenden Wissenschaftsfreiheit fest?
Das war unsere Ausgangshypothese, ja. Und die Daten untermauern diese Annahme. Wir zeigen über einen Zeitraum von 50 Jahren, dass in Ländern, die einen sehr guten Wert beim Index der Wissenschaftsfreiheit hatten, antipluralistische Parteien tendenziell wenig Einfluss besaßen. Und dass umgekehrt dort, wo Antipluralisten stark sind, auch die Wissenschaftsfreiheit geringer ausgeprägt ist. Sicherlich spielen je nach Land auch andere Faktoren eine Rolle. Aber der Zusammenhang erscheint schon sehr plausibel, das zeigen auch unsere Fallstudien.
Was bedeutet das für Deutschland und den Aufstieg von Parteien wie der AfD?
Spannend ist an unseren Daten, dass die Auswirkungen auf die Wissenschaftsfreiheit weniger stark zu sein scheinen, solange antipluralistische Parteien in der Opposition sitzen. Richtig problematisch wird es, wenn diese Parteien Regierungsverantwortung bekommen. Das muss nicht zwangsläufig auf nationaler Ebene geschehen, wie wir in den vergangenen Jahren in den USA gesehen haben, wo die Regierungen verschiedener Bundesstaaten wissenschaftsfeindliche Politik gemacht haben. In Deutschland sind wir so weit noch nicht. Wir erleben aber zunehmend Abgeordnete mit antipluralistischen Ansichten, wir beobachten eine Verschiebung im Diskursraum, die es für einzelne Wissenschaftlerinnen schwieriger macht, ihre Themen in die öffentliche Debatte zu bringen. Noch führt in keinem Bundesland eine antipluralistische Partei die Regierung an, und wir haben starke Schranken, die die institutionelle Autonomie und die individuelle Freiheit von Forschung und Lehre schützen.
Ihr Bericht zeigt, wie in Argentinien seit dem Amtsantritt von Javier Milei der Index in den Keller gegangen ist und wie er sich in Polen erholt hat, seit Donald Tusk die Regierung übernommen hat. Die Auswirkungen sind in beide Richtungen kräftig und schnell. Was bedeutet das für die USA zu Beginn von Donald Trumps zweiter Amtszeit?
Die Fallstudien zu Argentinien und Polen, aber auch zu den USA unterstreichen den Druck, unter den die Wissenschaftsfreiheit gerät, sobald antipluralistische Parteien an die Macht kommen. Und sie zeigen, dass sich die Methoden und Strategien stark ähneln. Wir sehen Gesetzesänderungen, die die Freiheit der Lehre und die Autonomie einschränken sollen. Wir sehen eine politisierte Mittelzuteilung – inklusive des Entzugs von Mitteln bei unliebsamen Fächern. Wir sehen eine wissenschaftsfeindliche Rhetorik, die bis hin zur Diffamierung einzelner WissenschaftlerInnen führt. Da wir mit unserem Index im Jahreszyklus arbeiten, enden unsere Daten im Dezember 2024, daher können wir die Entwicklungen in den USA nach Trumps zweitem Amtsantritt noch nicht abbilden. Aber wir zeigen, dass die Wissenschaftsfreiheit in den USA vor Trumps erster Amtszeit deutlich besser geschützt war als heute. Noch haben die USA in unserem Index keinen wirklich kritischen Wert erreicht, aber jetzt erfahren wir jeden Tag in den Nachrichten, welcher Geist da erneut ins Weiße Haus eingezogen ist. Die Methoden, die Gesetze, die Rhetorik sind die bekannten. Welche Folgen das für die USA und für das globalisierte Forschungssystem hat, wird täglich sichtbarer.
"Politiker sollten nicht, wie zuletzt vereinzelt geschehen, tagespolitisch aktuell in die manchmal auch heftigen Debatten an den Hochschulen eingreifen."
Zurück nach Deutschland. Was kann die Politik in Bund und Ländern tun, um den Abwärtstrend bei der Wissenschaftsfreiheit zu stoppen?
Deutschland liegt in dem Teil der Welt, Europa, wo die Wissenschaftsfreiheit im internationalen Vergleich sehr gut geschützt ist. Sie ist ein Grundrecht und Standortvorteil zugleich. Das heißt, Deutschland sollte sich auf die Autonomie seiner Universitäten besinnen. Politiker sollten nicht, wie zuletzt vereinzelt geschehen, tagespolitisch aktuell in die manchmal auch heftigen Debatten an den Hochschulen eingreifen. Sie sollten den Hochschulen zutrauen, dass sie diese Debatten wissenschaftlich angemessen führen und dabei auch selbst die Grundrechte aller Beteiligten ausreichend schätzen und schützen können.
Der Kernbereich der Wissenschaft, die Freiheit von Forschung und Lehre, sollte möglichst unangetastet in den Händen der Wissenschaftlerinnen bleiben und Regierende müssen der Versuchung widerstehen, über die Fördermittelvergabe Politik machen zu wollen.
Dieses Interview erschien auch im Tagesspiegel.
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Heiner Otterbach (Donnerstag, 13 März 2025 19:08)
Hallo, Jan Martin, vielleicht erinnerst du dich noch an mich vom Grauen Kloster. Danke für deinen Artikel. Vielleicht wäre es besser, wenn die Universitäten politikfrei wären. In den Unternehmen, in denen die Absolventen der Universitäten später arbeiten, wird auch keine Politik gemacht. Politik ist privat. Bei den Universitäten sollte das auch so sein. Gaza vor der Tür, nicht in den Seminaren oder den Hörsälen. Dann brauchen Professoren keine Briefe mehr zu schreiben und Unis müssen keine Zerstörungen befürchten.
Gruß Heiner Otterbach
Jack Rüssel (Freitag, 14 März 2025 07:59)
bzgl. des erwähnten deutschen Abwärtstrendes:
Es fängt ja schon in den Schulen an. Ich erlebe das fast täglich, und das nicht erst seit dem 7. Oktober. Es herrscht in den Schulklassen (und in meinem Fall reden wir von angehenden Abiturienten und bereits erwachsenen Erzieherinnen in Ausbildung) ein derart verengter, rigider Diskurskorridor, dass, auch ohne explizite Rede- oder gar Denkverbote, von Pluralismus, freiem Gedankenaustausch und einer "diversity" der Sichtweisen überhaupt nicht die Rede sein kann.
In der Schüler*innenschaft herrscht die totale Diskurshegemonie einer ganz bestimmten, alles andere exkludierenden Sichtweise. Wer, innerhalb des Kollektivs, eine differenziertere Perspektive vertritt, gilt als "Verräter" ...wohlgemerkt als Verräter an einer Sache, die nur einen geringen Teil der Leute wirklich unmittelbar selbst betrifft (so wie wir es ja auch an den Universitäten in der demographischen Zusammensetzung der "Aktivisten" sehen). Und wer sich traut, nicht nur zu differenzieren, sondern gar einen starken eigenen Standpunkt jenseits dieses Konformismus zu vertreten, der kann im Prinzip direkt seinen Hut nehmen.
Deutschland, 80 Jahre später.
Alles bewältigt, nichts begriffen.
Wolfgang Kühnel (Sonntag, 16 März 2025 21:39)
Zu # 2: Ja, die "Vielfalt", die angeblich so segensreich für alles und jedes ist, bedeutet nicht, dass eine Vielfalt von Meinungen, von Einstellungen, von Argumenten positiv zu sehen ist. Und die "Toleranz gegenüber Andersdenkenden" wird von denen, die sie fordern, selber nicht praktiziert. Dann heißt es nämlich plötzlich (oft verbunden mit Handgreiflichkeit): Dieser oder jener darf keinen Vortrag halten, "keine Bühne für diejenigen, die x-phob sind".
Da ist einiges ganz nüchtern dokumentiert worden auf der Webseite des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit. Auch dies ist dort genannt: In Berlin gibt es zwei Institute für Migrationsforschung, da wollten die Mitarbeiter des einen mit denen des anderen mal reden. Das hat der Direktor seinen Leuten ausdrücklich verboten mit der Begründung, der Direktor des anderen (Ruud Koopmans) sei politisch nicht auf der richtigen Seite und werde von den "falschen" Leuten zitiert. Andererseits hat man Herrn Koopmans öfter mal in Fernseh-Talkshows gesehen, bei "phoenix persönlich" gab es ein Interview mit ihm. Er scheint kein x-phober Extremist zu sein, der das Grundgesetz nicht achtet. Wie die Diskussion verläuft, kann man hier erahnen (studentische Aktivisten wollen mit dem politischen Begriff "rechts" bestimmen, was wahr oder falsch ist, man spricht den "falschen" Leuten einfach die Wissenschaftlichkeit ab):
https://www.refrat.de/article/pmrechtelehre.html
Wehret den Anfängen, wenn wieder politische Vorgaben den Diskurs über Wahrheit oder Unwahrheit wissenschaftlicher Erkenntnisse dominieren!