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Die Schwäche der Extremisten

Gibt es eine Woche vor der Bundestagswahl Gründe für Optimismus? Oh ja. Und man muss nicht einmal lange nach ihnen suchen. Ein Essay.

AM VORABEND der Bundestagswahl geht es Ihnen womöglich wie mir. Die liberale Demokratie, an die ich mit Herz und Kopf glaube, steht unter gewaltigem Druck. Die Lichter der Aufklärung – die Achtung von Menschenrechten und Menschenwürde um jeden Preis – flackern, weil selbst Demokraten sie, getrieben von den eigenen Emotionen und dem Geschrei von Rechts, zu relativieren, in einen Zusammenhang zu stellen beginnen. 

 

Und das alles vor dem Hintergrund der Serie schrecklicher Anschläge, über die so viel Überlegtes zu sagen wäre, doch bevor dazu Zeit und Gelegenheit ist, wurde schon so viel Unüberlegtes gesagt, das jede Debatte unmöglich macht. Begleitet wird dieses unheimliche Szenario vom Soundtrack des amerikanischen Staatsstreiches, der zwar zu erwarten stand, in seiner real existierenden Monstrosität nun aber doch bei vielen den ebenfalls zu erwarteten Reflex auslöst, ihn in Systematik und Auswirkungen kleinzureden. Die für Deutschland und Europa spürbarste Auswirkung derzeit ist die Selbstverständlichkeit der Rhetorik eines J.D. Vance, wenn er die demokratischen Regierungen von EU-Staaten als gefährlicher bezeichnet als China oder Russland.

 

Gibt es da überhaupt noch Gründe für Optimismus, zum Hoffen, zum Muthaben? Womöglich überrascht Sie die Antwort: Oh ja. Und man muss noch nicht einmal lange nach ihnen suchen.

 

Die Hoffnungen am Vorabend
der US-Präsidentschaftswahlen

 

Anfang November schrieb ich einen Essay. "Am Vorabend der US-Präsidentschaftswahlen", stand drunter, aus heutiger Sicht wissen wir, da hätte auch "Am Vorabend von Ampel-Aus und Bundestagswahlkampf" stehen können.

 

Meine These lautete: Die tatsächliche, die große Mehrheit der deutschen Gesellschaft, ob links, liberal oder konservativ, hetero, schwul, biodeutsch oder mit Migrationshintergrund, will keine Diktatur der Mehrheit, wie sie AfD und BSW anstreben (und wie Trump sie innerhalb kürzester Zeit verwirklicht hat). Weil die tatsächliche Mehrheit sehr wohl spürt, dass konstitutiv für eine echte Demokratie vor allem und zuerst der Schutz der Minderheiten ist. Denn: Jeder ist in einer Demokratie mal Mehrheit, mal Minderheit. Je nach Frage und Lebenssituation. Überspitzt formuliert, schrieb ich, ist es das vielleicht größte Paradoxon der gegenwärtigen politischen Lage: AfD- und BSW-Wähler sind eine Minderheit und erhalten einen diskursiven Minderheitenschutz, der sie fast schon als Mehrheit erscheinen lässt.

 

Wenn man so möchte, war  der Versuch der Union Ende Januar, im Bundestag zweimal Beschlüsse zur Migrationspolitik mithilfe der AfD durchzusetzen, davon einmal erfolgreich, der bisherige Höhepunkt dieses Paradoxons.

 

Meinen Optimismus belegte ich Anfang November mit Zahlen. Damals lag die AfD im ZDF-Politbarometer bei 18, das BSW bei acht Prozent. Also zusammen 26 Prozent. Union, SPD, Grüne, FDP und Linke, die von AfD und BSW bei jeder sich bietenden Gelegenheit als Repräsentanten des abgehalfterten Systems gebrandmarkt werden, kamen alles in allem auf 67 Prozent. So unterschiedlich die Wähler dieser Parteien waren, schrieb ich, sie alle ließen sich ganz bewusst nicht von AfD und BSW in dieses angebliche "Wir" gegen die "Altparteien" hineinziehen.

 

Nach drei Monaten furchtbarem Wahlkampf haben
die demokratischen Parteien etwas zugelegt

 

Womit wir bei meinem heutigen Optimismus sind. Nach drei Monaten furchtbarer Polarisierung im Wahlkampf, nach den Anschlägen und mit Trump, nicht zu vergessen eine Wirtschafts- und Innovationskrise, deren Lösung kaum einmal ernsthaft Gegenstand der Debatten ist, steht die AfD im aktuellen Politbarometer bei 20 Prozent, das BSW bei vier Prozent. Macht zusammen 24 Prozent. Während Union, SPD, Grüne, FDP und Linke gemeinsam auf 71 Prozent kommen.

 

Ja, es gibt unterschiedliche Umfragen. Sie unterscheiden sich mal mehr, mal weniger. Aber wenige Umfragen genießen den Ruf der von der "Forschungsgruppe Wahlen" erhobenen Politbarometer-Zahlen, und da sie immer gleich erhoben werden, ist der Trend gut nachzuvollziehen.

 

Nach DIESEN, den letzten drei Monaten nur zwei Prozentpunkte mehr für die AfD und vier weniger für das BSW. Und vier mehr für die übrigen fünf derzeit im Bundestag vertretenen Parteien. Wobei übrigens auch die internen Verschiebungen zwischen den fünf interessant sind: keinerlei Veränderung bei der SPD (jeweils 16 Prozent), ein leichtes Abwärts bei der Union (von 31 auf 30 Prozent), ein starkes Aufwärts bei den Grünen (von 11 auf 14 Prozent), ein leichtes Plus bei der FDP (von drei auf vier Prozent) und ein ebenfalls starkes bei den Linken (von vier auf sieben).

 

Entscheiden Sie selbst, welche Rolle die Strategien und Positionierungen der Parteien nicht nur, aber gerade auch in der aufgeheizten Migrationsdebatte bei diesen Verschiebungen gespielt haben mögen – oder nicht. Viel wichtiger aber ist für mich eine andere Frage: Wo ist denn unsere vermeintliche Hilflosigkeit gegenüber Rechts und dem Populismus? Wo ist das angebliche Kippen unserer Gesellschaft Richtung Autoritarismus und Anti-Demokratismus? In den Zahlen der Umfragen kann ich es nicht erkennen. Und das erfüllt mich mit so etwas wie Genugtuung. 

 

Ja, 24 Prozent für AfD und BSW ist zu viel. Viel zu viel. Zumal Umfragen die Wahlergebnisse extremistischer Parteien tendenziell unterschätzen. Aber da ist kein Momentum. Kein Abrutschen. Die einzige Rutschbewegung bestand in den vergangenen Monaten im Verhalten der demokratischen Parteien auch untereinander.

 

Von jedem Wahlkampf gibt es ein Wiederkommen,
aber diesmal scheint der Weg besonders weit

 

Und hier sehe ich die eigentliche Gefahr für die nächsten Monate. So, wie der Aufstieg von AfD und BSW und ihre Unterstützung in der Bevölkerung systematisch überschätzt werden, so unterschätzen die demokratischen Parteien systematisch den Schaden, den sie durch diese Art des Wahlkampfes angerichtet haben. Jeder Vorwurf an den demokratischen Wettbewerber, er sei nur ideologiegetrieben, habe den deutschen Abstieg verschuldet, sei verkommen und nicht koalitionsfähig; jedes moralisch-moralistische Erheben der einen Demokraten über die anderen verunmöglicht den demokratischen Diskurs, beschädigt das Ringen um die besten Ideen und Konzepte, das eine Grundregel haben muss: Man darf einander die Lösungskompetenz absprechen, aber nie den guten Willen zur Lösung. 

 

Von jedem Wahlkampf gibt es ein Wiederkommen, nur dieses Mal scheint der Weg dahin besonders weit, dabei müsste er besonders gut gelingen. Denn wir brauchen nach dem 23. Februar eine starke und handlungsfähige demokratische Regierung. Wir brauchen keinen kleinen Konsens, kein wechselseitiges Belauern und Behindern. Davon hatten wir genug. Wir brauchen den großen Wurf, die klaren Linien. Auch um der starke Partner in und für Europa zu sein. Ein Europa, dem kaum noch Zeit für seine so dringend nötige – und in Zeiten nationaler Chauvinismen noch viel schwierigere – Selbstermächtigung bleibt. 

 

Ich werde diesen großen Wurf, die klaren Linien, solange demokratisch herbeigeführt, begrüßen, selbst wenn sie dem, was ich für richtig halte, entgegenstehen sollten. Denn das wichtigste Ideal unserer Demokratie wird in den nächsten vier Jahren Handlungsfähigkeit sein. Warum? Weil die Legislaturperiode 2025 bis 2029 darüber entscheidet, ob die Demokratie der Bundesrepublik zum Normalzustand zurückkehren kann oder ob sie tatsächlich in einen Überlebenskampf gerät. 

 

Moment, hatte ich nicht Gründe für Optimismus versprochen? Und ob! AfD und BSW sind Scheinriesen, die allen furchtbaren Ereignissen zum Trotz in Summe nicht haben wachsen können in den vergangenen Monaten. Sie sind nicht dynamisch, selbst an der ausgewiesenen Schwäche der demokratischen Parteien haben sie sich nicht bereichern können, weil unsere Gesellschaft einen demokratischen Schwerpunkt hat, den wir über all dem Krisengerede fast schon vergessen hatten. Warum nur spielt dieses, das in Wahrheit angemessene Narrativ in der öffentlichen Berichterstattung keine Rolle, warum lassen sich die Medien genauso treiben wie die Politik?

 

Nur müssen die demokratischen Parteien nach der Wahl liefern. Sie müssen ihre eigenen inhaltlichen und personellen Interessen so weit zurückstellen, dass eine starke Regierung mit klarer Richtung möglich wird. Ich gebe zu, hierzu fehlt mir derzeit eher die Fantasie als der Optimismus. Aber jedes Volk bekommt die Politik, die es verdient. Und das ist angesichts der demokratischen Resilienz der Deutschen für mich ein Hoffnungsschimmer.

 

Nachtrag: In den Kommentaren kam die Frage auf, was das Thema meines heutigen Essays mit Wissenschaftspolitik zu tun habe. Abgesehen davon, dass ich in meinem Blog natürlich selbst entscheiden kann, worüber ich schreibe, und mich für die thematische Auswahl nicht zu verantworten habe, ist die Antwort ganz einfach: Alles. Das Thema meines Essays hat alles mit Wissenschaftspolitik zu tun. Es ist deprimierend genug, dass der Rechtsdrift der öffentlichen Debatte eine thematische Verengung des Wahlkampfs zur Folge hatte, der für Wissenschaft, Bildung, Klimaschutz & Co keinen Platz mehr ließ – und selbst die Wirtschaftspolitik an den Rand drängte. Noch deprimierender ist, dass der Migrationsdiskurs in weiten Teilen ohne Faktenbasierung und Differenzierung abläuft. Deshalb kann, ja muss auch ein Bildungs- und Wissenschaftsjournalist Position beziehen, wenn die Grundlage unseres demokratischen Miteinanders in Gefahr gerät und dieses demokratische Miteinander wiederum die Grundlage auch eines offenen Wissenschafts- und Bildungssystems ist. Und bitte glauben Sie mir: Ich würde sehr gern über Anderes schreiben. Nur findet dieses Andere – Inhaltliche – in Politik und Medien derzeit kaum noch statt.



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Kommentare: 5
  • #1

    Franka Listersen (Montag, 17 Februar 2025 08:35)

    Auch hier wird also der neue Singsang von den "demokratischen Parteien" angestimmt, die mutig den Populististen? Radikalen? Extremisten? (die Bezeichnungen wechseln beliebig) geeint gegenüberstehen. Also genau in dem "Wir gegen Die" der Polarisierung, die AfD und BSW vorgeworfen wird.

    Blicken wir ins europäische Ausland, so sind Flügelparteien rechts und links reichlich normal. Da sie - wie auch die AfD und das BSW - den demokratischen Prozess und die Verfassungsordnung gar nicht infrage stellen (wohl aber die bisherige Politik), sind sie genauso "demokratisch" wie die anderen, nur eben nicht "unseredemokratisch".

    Würde man AfD und BSW als politischen Konkurrenten wie andere auch behandeln, dann würden deren Schwächen deutlich werden und man könnte gemeinsam im Wettstreit die besten Lösungen finden. Aber das ist gar nicht gewollt, da die Skandalisierung als "Rechts" (abwertend gemeint) oder gleich als "Nazi" so einfach und lohnend scheint.

    Was hat das übrigens mit Wissenschaftspolitik zu tun?

  • #2

    Martin S (Montag, 17 Februar 2025 12:16)

    Danke. Danke! für diese klaren Worte, auch im Nachtrag.
    Ich bin leider weniger optimistisch. Auch wenn die Welt und unsere Gesellschaft eine ganz andere sind als vor 100 Jahren, sehe ich spätestens seit 2001 grundlegende, systematische und andauernde Parallelen.
    Es ist gerade September 1928. Und wenn es so weitergeht wie in den letzten 10, 20 Jahren, dann wird sich jede und jeder von uns in zehn oder fünfzehn Jahren fragen lassen müssen: Wie habe *ich* mich eigentlich verhalten, damals, in den Jahren ab Pandemie und Ukraine-Krieg?

  • #3

    Frank Reichwein (Dienstag, 18 Februar 2025 18:40)

    @2: Ja, man kommt durchaus auf seltsame Gedanken, wenn man die Zeiten vergleicht. Aber ich denke, daß sich die Geschichte nicht so einfach wiederholt.
    @1: Die AgD und das BSW sind m.E. unterschiedliche Dinge.
    Das letztere wird sich nach dem Senkrechtstart in 2024 wohl selbst erledigen. Die AgD ist leider ein unsäglicher Verein und viel gefährlicher. Wer Hitler für einen Linken hält und darüber mit Musk schwadroniert, disqualifiziert sich für die Politik.

  • #4

    Nikolaus Bourdos (Mittwoch, 19 Februar 2025 18:24)

    #1: Die AfD stellt den demokratischen Prozess nicht infrage? Auf dem Papier vielleicht nicht, aber zahlreiche Äußerungen von AfD-Protagonisten lassen deutlich andere Absichten erkennen. Augen auf!

  • #5

    Steffen Prowe (Mittwoch, 19 Februar 2025 19:21)

    Danke für diese positive Sicht und die klare Haltung auch gegenüber denjenigen, die keine echte Freiheit der Wissenschaft und der Bildung mögen. Weil dann deren simplifizierenden Populisten nicht mehr so gut verfangen.
    Und was hat eine freiheitliche Demokratie mit Wissenschaft und diesem Blog zu tun? Ja alles. Denn Wissenschaft in Unfreiheit wird NIE echte Innovation und Diskurse um (nicht erwünschte) Ergebnisse zulassen wollen.
    Und rechtsradikale AfD als auch die Egoshooter-Putinfreunde-Partei BSW fürchten eben das: denkende, reflektierende, offene, kritische Menschen. Die Wissenschaft eben gerade benötigt! Danke Herr Wiarda!