· 

"Ein neues Fortschrittsnarrativ zaubern Sie nicht einfach aus dem Ärmel"

Der Fortschrittsglaube in Deutschland ist brüchig geworden, vielleicht droht liberalen Demokratien gar der Kollaps: Ein Gespräch mit dem Soziologen Andreas Reckwitz über Verlusterfahrungen, die Narrative von Populist*innen – und wie zu hohe Mieten und Chancengleichheit zusammenhängen.

Foto: Kay Herschelmann.

Herr Reckwitz, in Ihrem neuen Buch "Verlust" beschäftigten Sie sich mit der Krise des Fortschrittsglaubens in der spätmodernen Gesellschaft. Erklärt diese Krise das Erstarken extremer und populistischer Parteien?

 

Es gibt definitiv einen Zusammenhang. Die moderne, westliche Gesellschaft, wie sie sich in den vergangenen 250 Jahren entwickelt hat, war stets geprägt von einer massiven Fortschrittsorientierung, die nur begrenzt eine Sprache für Verluste hatte. Die gesellschaftliche Grundannahme lautete: Es geht aufwärts, die Dinge werden besser – obwohl die rapiden Modernisierungs- und Technologisierungsprozesse neben Gewinnern natürlich immer auch Verlierer produziert haben. Deren Verlusterfahrungen passten nicht zu der Fortschrittserzählung. Aus all dem ergab sich eine prekäre Balance: Solange der Fortschrittsimperativ überzeugend genug war, konnten die Verlusterfahrungen, auch die eigenen, relativiert werden. Sie erschienen nicht bedeutsam, wurden, manchmal auch mit Gewalt, unsichtbar gemacht. Doch im Moment wird der Fortschrittsglaube brüchig, sodass die Verlusterfahrungen offener zutage treten: Sie erscheinen so nämlich nicht mehr unbedingt reversibel.

 

Diese prekäre Balance, von der Sie sprechen, prägte das Deutschland der Nachkriegszeit?

 

Deutschland nach 1945 ist ein gutes Beispiel, ja. Krieg und Nationalsozialismus verursachten größte Verlusterfahrungen, doch mit Gründung der Bundesrepublik und dem einsetzenden Wirtschaftswunder gerieten Zerstörung, Verfolgung oder Vertreibung rasch in den Hintergrund, sie wurden scheinbar überwunden. Zwar litten viele Menschen in Wirklichkeit weiter unter ihren Traumatisierungen, aber in der öffentlichen Wahrnehmung spielten sie kaum eine Rolle. Der Fortschrittsmotor brummte, das Narrativ vom Fortschritt und Aufstieg durchzog die Politik, die Wirtschaft, das Soziale. 

 

Wann hat sich das geändert?

 

Eigentlich bahnte sich die Veränderung in vielen Gesellschaften schon seit den 1970er-Jahren an, mit der Ölkrise und Meadows "Grenzen des Wachstums". In den vergangenen zehn Jahren ist es dann massiert zu einer Verlusteskalation gekommen: die veränderte Sicherheitslage in Europa, die Sorgen um den Klimawandel, die Folgen der Digitalisierung, die demografische Entwicklung. Das Fortschrittsnarrativ ist immer fragiler geworden. Und das spiegelte sich im Aufstieg der extremistischen Parteien. Deutschland, genauer Westdeutschland, ist hier in gewisser Weise ein Nachzügler, wenn man es mit anderen westlichen Ländern vergleicht.

 

"Wenn sie keine positive Entwicklung
mehr bringt, steht die Legitimation
der liberalen Demokratie auf dem Spiel."

 

Ist eine moderne Gesellschaft ohne funktionierendes Fortschrittsnarrativ auf Dauer existenzfähig?

 

Das ist die zentrale Frage. Ohne Fortschrittsversprechen ist sie mit einem massiven Legimitationsproblem konfrontiert. Wenn sie keine positive Entwicklung mehr bringt, steht die Legitimation der liberalen Demokratie auf dem Spiel.

 

Erst recht, wenn extremistische Parteien durch ihre Narrative die Angst vor Verlust und Rückschritt noch befördern?

 

Rückschritt oder Niedergang ist in der modernen Gesellschaft ein Skandal. Es darf ihn eigentlich gar nicht geben, schließlich wurde Fortschritt versprochen. Die Populisten schüren Verlustängste und zugleich versprechen sie ja selbst einen eigenen Fortschritt: Donald Trump setzte mit dem Slogan "Make America Great Again" auf dieses Motiv. Eine Gesellschaft, in der sich der Fortschrittsglaube dauerhaft in ein kollektives Rückschritts- oder Niedergangsgefühl verwandelt, wäre ein Experiment mit offenem Ausgang. 

 

Was bedeutet das?

 

Am Ende meines Buches beschäftige ich mich mit solchen Szenarien: Was könnte passieren, wenn die Fortschrittsorientierung wegbricht? Eine Möglichkeit ist, dass die moderne Gesellschaftsform dann kollabiert.

 

Dass Chaos ausbricht?

 

Manche Sozialwissenschaftler etwa in der 'Kollapsologie' diskutieren die Möglichkeit, dass die moderne Gesellschaft dann durch eine andere Sozialform abgelöst werden können. Ich möchte lieber fragen, ob nicht ein neues, ein reflektierteres Fortschrittsverständnis möglich sein könnte. Ein Fortschrittsverständnis, das Verluste nicht mehr als Skandal erscheinen lässt, sondern als etwas, mit dem man umgehen muss und das man akzeptieren kann. Gegen das man sich wappnet und das man verarbeiten kann. Resilienz – von Individuen und von Institutionen – ist hier ein wichtiges Stichwort. Sich in Richtung Resilienz zu entwickeln wäre selbst ein sozialer Reifungsprozess – und damit ein Fortschritt.

 

Eine Aufgabe für unser Bildungs- und Wissenschaftssystem?

 

Die moderne Wissenschaft ist selbst eine tragende Säule des Fortschrittsimperativs. Sie lebt davon, dass es immer neue Erkenntnisse und Innovationen gibt. Die Geistes- und Sozialwissenschaften können die Fortschrittsnarrative weniger bedienen als die Natur- oder Lebenswissenschaften. Aber gerade Geistes- und Sozialwissenschaften können nötige gesellschaftlichen Reflexionsprozesse von Verlusten begleiten. Verluste und Negativität sind seit jeher Themen der Geistes- und Sozialwissenschaften, von der Geschichtswissenschaft bis zur Kulturphilosophie. In den Künsten und Religionen sowieso. In der westlichen und nicht-westlichen Kultur steht ein jahrhundertealtes Reservoir an Verlustreflexionen zur Verfügung. 

 

Das klingt nach langen gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen, bestenfalls nach allmählichen Veränderungen. Haben wir so viel Zeit? Bei der Bundestagswahl haben sich junge Wähler*innen in Scharen von der demokratischen Mitte ab- und den politischen Rändern zugewendet.

 

Die junge Generation war immer eine große Projektionsfläche. Die No-Future-Generation der 1980er-Jahre wurde von der Gesellschaft so wahrgenommen, weil sie selbst Zukunftsangst hatte. Auch jetzt wird sehr viel Besorgtes in die junge Generation projiziert, als ob sie eine homogene Gruppe wäre. Ich denke, dass das Problem alle Generationen betrifft: Ein neues Fortschrittsnarrativ zaubern Sie nicht einfach aus dem Ärmel. Das Wirksame an Fortschrittserzählungen war in der Vergangenheit, dass sie so überzeugend daherkamen, dass sie gar nicht als Erzählungen wahrgenommen wurden, sondern als Realität. Sie müssen zu den Fortschrittserfahrungen passen, die die Menschen machen oder nicht.


Andreas Reckwitz, 55, gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Soziologen der Gegenwart. Mit seinen Arbeiten zu Kreativität, Subjekt und Singularisierung und zuletzt zu Verlusterfahrungen in der spätmodernen Gesellschaft wirkt Reckwitz weit über die Wissenschaftscommunity hinaus. Er studierte unter anderem in Cambridge, promovierte in Hamburg, hatte Professuren in Konstanz und Frankfurt/Oder. 2019 erhielt er mit dem Leibniz-Preis Deutschlands wichtigste wissenschaftliche Auszeichnung. Seit 2020 ist Reckwitz Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Berliner Humboldt-Universität. 

Foto: Kay Herschelmann. 



"Die stolzen Facharbeiter
von einst sind die

Modernisierungsverlierer von heute." 

 

In Ihrem Buch "Die Gesellschaft der Singularitäten" beschreiben Sie die "soziale Logik der Singularisierung", die Einzigartigkeit fordert und belohnt und das Nicht-Besondere, Alltägliche abwertet. Und damit die Verlustängste derjenigen noch verstärkt, die das Gefühl haben, nicht mithalten zu können?

 

So ist es. Bisher haben wir von Verlusterfahrungen gesprochen, die wir als Mitglieder spätmoderner Gesellschaften alle miteinander teilen, aktuell das verlorene Sicherheitsgefühl oder die Angst vor einem Krieg in Europa. Hinzukommen aber die Verlusterfahrungen bestimmter sozialer Gruppen. Der Soziologe Ulrich Beck hat einmal vom gesellschaftlichen Fahrstuhleffekt der industriellen Moderne gesprochen: Bei allen sozialen Unterschieden fuhren am Ende doch alle mit nach oben. Das ist heute nicht mehr so. Seit den 1990er-Jahren fahren – wie in einem Paternoster – die einen nach oben und die anderen nach unten. Die Gewinner, das sind insbesondere die Akademikerinnen und Akademiker, die Profiteure der Bildungsexpansion, die je nach ihren Kompetenzen besonders umworben und nachgefragt erscheinen. Und dann sind da die anderen, die sich in der Logik des Allgemeinen bewegen. Die mit ihren Fähigkeiten eher austauschbar erscheinen und weniger Möglichkeiten haben, einen befriedigenden sozialen Status zu erlangen. Die stolzen Facharbeiter von einst sind die Modernisierungsverlierer von heute. Und diese Gewinner-Verlierer-Konstellationen betrifft auch das Verhältnis zwischen Stadt und Land, zwischen bestimmten Regionen und auch Stadtvierteln.

 

Sprechen Sie gerade vom nächsten Erfolgsgeheimnis der Populisten? Weil sie inmitten einer "Gesellschaft der Singularitäten" das vermeintlich "Normale" hervorheben – auf Kosten von Minderheiten, von Andersdenkenden, von allem, was als "woke" verachtet wird?

 

Diese Erzählung wird von den Populisten gern bedient: das normale Volk gegen die liberalen Eliten. Die Botschaft, die in den USA von Trump eingesetzt wurde und etwa bei Arbeitern im Mittleren Westen verfangen hat, lautet: Ihr müsstet eigentlich gar nicht verlieren. Ihr verliert nur deshalb, weil die anderen gewinnen. Das mündet in Rachefantasien. Dann soll es den vermeintlichen Gewinnern und Tätern an den Kragen gehen – wie wir gerade am Umgang mit den Universitäten in den USA beobachten können.

 

Weil Hochschulen zu den wichtigsten Erzeugern von Singularität gehören?

 

Die Hochschulen erscheinen als zentraler Stützpunkt der liberalen Eliten, auch jener Wissenschaft, die etwa, wenn es um Klima und Pandemien geht, die Politik beeinflusst. Aber sicherlich sind Hochschulen – auch in Deutschland – wichtige Player auf den Singularitätsmärkten – das ist eine Konkurrenz der Besten. Dabei geht es um den Ausweis von Tradition, von Exzellenz, von Aufmerksamkeit und Anerkennung, es geht um Markenbildung. Einige Hochschulen fällt es in diesem Wettbewerb leichter als anderen, singulär zu erscheinen. Was ist das Besonders an der Humboldt-Universität? An der Universität Freiburg? Gibt es eine überzeugende Antwort, zieht dies Studierende und Forschenden aus dem In- und Ausland an. Wettbewerbe wie die Exzellenzstrategie sind dabei keine wesensfremden Strukturen, die der Wissenschaft übergestülpt wurden. Das sind Strukturen, in denen sich Hochqualifizierte gern bewegen. Von außen wird dies möglicherweise als elitär wahrgenommen.

 

Wem dies nicht gelingt, der gerät unter Druck. So wie Studierende, die ständig das Gefühl haben, etwas aus sich machen zu müssen und keine Gelegenheit zur Selbstoptimierung auslassen zu dürfen.

 

Dieser Druck existiert immer, wenn man sich auf Singularitätsmärkten bewegt, das betrifft nicht nur die Institutionen, sondern auch die Individuen. Differenzen werden markiert, bei Studierenden passiert das etwa über Auslandsaufenthalte und Praktika. Wenn man gut darin ist, kann man sich seine sehr eigene Biografie basteln.  

 

"Wer ist denn angesichts der hohen Mieten

dazu in der Lage, in Berlin, Hamburg, Heidelberg

oder München sein Studium aufzunehmen,

wenn man nicht zufällig dort ohnehin schon lebt?"

 

Währenddessen schaffen es viele Nicht-Akademiker bei gleichen Schulleistungen gar nicht erst auf die Hochschule. Viele Studierende kämpfen gegen die hohen Mieten und den Wohnungsmangel, sie müssen sich ohne BAföG und mit Studentenjobs finanzieren. 

 

Es ist eine paradoxe Folge der Bildungsexpansion, dass Abschlüsse jenseits von Abitur und Hochschulabschluss, die einmal als normal und allgemeingültig interpretiert wurden, nun häufig minderwertig erscheinen – eine problematische Entwicklung, da die Gesellschaft ja unterschiedlicher Qualifikationen bedarf. Aber auch innerhalb der Gruppe der Studierenden tun sich neue Asymmetrien auf. Am Beispiel der explodierenden Mietpreise wird besonders deutlich, welche neue Schieflage sich in den letzten Jahren ergeben hat. Es gibt nicht nur die Differenz zwischen 'Exzellenzuniversitäten' und den anderen, hinzukommt, dass sich nicht mehr jeder leisten kann, an diesen Orten zu studieren, selbst wenn die Leistungsvoraussetzungen gegeben sind. Wer ist denn angesichts der hohen Mieten dazu in der Lage, in Berlin, Hamburg, Heidelberg oder München sein Studium aufzunehmen, wenn man nicht zufällig dort ohnehin schon lebt? Mittlerweile muss man häufig schon in eine wohlhabende Akademikerfamilie hineingeboren sein, die ihre Kinder dann an jene Orte schicken kann. So koppelt sich das Wohnungsproblem mit dem Problem der Chancengleichheit – ich habe den Eindruck, dass man die Brisanz dieser Entwicklung noch gar nicht wirklich erkannt hat.

 

Wenn, wie Sie sagen, die Krise der spätmodernen Gesellschaft nur über ein verändertes Fortschrittsverständnis zu lösen ist und die Gesellschaft dafür die Wissenschaft braucht, wie schädlich ist es, wenn jetzt viele Bundesländer an der Wissenschaft sparen? Sie zum Beispiel lehren an der
Humboldt-Universität, und der Berliner Senat will die Hochschulverträge empfindlich kürzen. 

 

In der jetzigen Situation müsste die staatliche Politik gerade in Deutschland eigentlich gegenhalten und einen Akzent gegen die gesellschaftlichen Niedergangs- und Regressionswahrnehmungen setzen, auch gegen die Attacken, was die Wissenschaftsfreiheit angeht, wie wir sie in autoritären Systemen und jetzt selbst in den USA beobachten. Dass Bundesländer wie Berlin nun Mittel kürzen, ist insofern eine kontraproduktive Antwort. Generell fallen im Moment die politischen Signale allerdings widersprüchlich aus. Die künftige Bundesregierung plant ja ein großes Investitionspaket auch für Bildung, Forschung und Wissenschaft. Ich hoffe, wir schaffen es, noch deutlicher zu machen, dass die autonome und plurale Wissenschaft ein Aushängeschild der liberalen Demokratie in Europa ist und eine entsprechende Förderung verdient.

 

Welche Erwartungen haben Sie an die neue Bundesregierung?

 

Wir sprachen ja vom Verhältnis zwischen dem Besonderen und Allgemeinen, dem Singulären und Nicht-Singulären. Dies betrifft auch die Binnenstruktur des Wissenschaftssystems in Deutschland, und ich denke, dass sich in den letzten Jahren eine Schieflage ergeben hat, die ein Umsteuern erfordert. Ich will nicht sagen, dass das Inszenieren immer neuer Wettbewerbskonstellationen in der Wissenschaft bis hin zur einzelnen Professur mit ihren Anreizen, Drittmittel einzuwerben, komplett falsch war. Die Hochschulen haben dadurch einen Innovations- und Professionalisierungsschub erfahren. 

 

Doch haben wir durch den Ausbau der Projektförderung inzwischen ein Missverhältnis zwischen Drittmittel- und Grundfinanzierung erreicht, das in die Sackgasse führt. Besonders zukunftweisende Forschungsfelder fördern wir nur temporär, wir zünden ein Feuerwerk an attraktiven Forschungsprojekten, locken herausragende Talente und lassen sie am Ende mit der Frage allein, wie es mit ihrer Karriere weitergehen soll – derweil ist die Grundfinanzierung der Hochschulen durch Kürzungen gefährdet. Wir befinden uns gegenwärtig an einem Punkt, an dem wir sehr deutlich die negativen Folgen einer einseitigen Drittmittelförderung sehen, die auf Kosten der Grundausstattung der Universitäten geht. Das schließt auch die langfristigen Investitionen in den Hochschulbau ein. Das Ziel müsste sein, einen größeren Teil der Mittel, die in die Projektförderung fließen, in die Grundausstattung von Forschung, Lehre und Infrastruktur umzuschichten. Das wäre auch eine resilientere und für alle Beteiligten berechenbarere Hochschule. Ob die neue Bundesregierung eine solche grundsätzlichen Revision der Wissenschaftsfinanzierung schafft, weiß ich nicht. Aber zu wünschen wäre es.

 

Das Interview erschien zuerst im DSW-Journal 1/2025 des Deutschen Studierendenwerks.



In eigener Sache: Sind Sie gern hier? Bitte unterstützen Sie den Wiarda-Blog

Was ist los im Wiarda-Blog? Und wie steht es um seine Finanzierung? Und wie können Sie helfen? Der Überblick.

 

Mehr lesen...


></body></html>

Kommentar schreiben

Kommentare: 0