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Die Botschaft der IGLU-Studie

Die Bildungspolitik sollte die mittelmäßigen Leistungen deutscher Grundschüler nicht schön reden, sondern Konsequenzen ziehen.

EIN ZYNIKER WÜRDE zu den heutigen IGLU-Ergebnissen sagen: Wenigstens zeigen sie, dass die empirische Bildungsforschung inzwischen ein echt genaues Messinstrumentarium entwickelt hat.

 

Ende vergangenen Jahres hatte schon die TIMS-Studie eher maue Ergebnisse für Deutschland produziert. Damals ging es um die mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen von Grundschülern im internationalen Vergleich – mit stagnierenden Leistungen in den Naturwissenschaften und abfallenden in Mathematik. Im Ländervergleich rutschten Deutschlands Grundschüler in Mathe unter dem EU-Schnitt. 

 

Dann der IQB-Bildungstrend im Oktober 2017, diesmal der innnerdeutsche Vergleich, wieder Grundschüler, 4. Klasse, in Mathe und Deutsch. Sowohl in Deutsch als auch in Mathe zeigten die Schüler deutlich schwächere Leistungen als vor fünf Jahren, im Lesen noch am wenigsten, in Orthografie war der Rückgang am größten. Das Fazit musste deshalb bereits vor den heutigen Ergebnissen lauten: Waren die Viertklässler (und speziell ihr Lesevermögen) nach dem Pisa-Schock von 2001, der sich auf die Kompetenzen von Neuntklässlern bezog, noch und über Jahre der Lichtblick im Bildungssystem, haben inzwischen auch die Grundschulen immer größere Probleme, das erreichte Niveau zu halten. 

 

Und nun also die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) 2016. Dort hatte es schon bei der letzten Erhebung 2011 Leistungsrückgänge gegeben. 2016 verharrten die Ergebnisse auf demselben Level. Die Kultusministerkonferenz (KMK) und das Bundesbildungsministerium sprechen deshalb tapfer von einer "stabilen" Entwicklung seit 2001 – und bringen gleich im ersten Absatz ihrer gemeinsamen Pressemitteilung den mittlerweile obligatorischen Hinweis auf die zunehmende "Heterogenität". Nach dem Motto: Wenn die Schüler immer schwieriger werden, dann ist Stagnation doch schon eine Leistung. 

 

Lässt man den nett klingenden Spin von der Stabilität einmal beiseite, dann sind die IGLU-Zahlen vor allem folgendes: erstens eine angekündigte Enttäuschung. Deutschland wird in der Ländertabelle nach unten durchgereicht, denn die Schulsysteme vieler anderen Länder sind nicht stehengeblieben. Zweitens sind sie eine immer dringlichere Warnung an die Politik, Konsequenzen zu ziehen, anstatt Ausreden zu bemühen. Die Schüler sind, wie sie sind in einer modernen, offenen Gesellschaft. Darauf müssen sich die Schulen einstellen und nicht umgekehrt. Und die Schulen können sich nur darauf einstellen, wenn die Politik die dafür nötigen Rahmenbedingungen schafft.

 

Susanne Eisenmann (CDU), KMK-Präsidentin und Kultusministerin aus Baden-Württemberg, sagte, es gelte zu analysieren, warum es "einer Reihe von Staaten im Grundschulbereich besser gelingt, die Leseleistungen zu verbessern." Wobei die Analysen in Wirklichkeit längst da sind. Die Bildungsforschung liefert nicht nur verlässliche Wasserstandserhebungen, sie hat seit Jahren und wiederholt darauf hingewiesen, wo die Defizite im deutschen Bildungssystem zu finden sind: Den Schulen gelingt es nicht, den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schülerleistungen aufzubrechen, im Gegenteil. So, wie der Anteil der Schüler, die besonders gut lesen können, steigt (von 8,6 Prozent 2001 auf 11,1 Prozent 2016), wächst auch die Gruppe derjenigen Schüler, die kaum oder nur schlecht lesen können (von 16,9 Prozent 2001 auf 18,9 Prozent 2016). Entsprechend hat der grüne Bildungsexperte im Bundestag, Kai Gehring, Recht, wenn er sagt: "Ein Messen von Bildungsleistungen reicht nicht aus, viel notwendiger sind gezielte Konsequenzen und gemeinsames Handeln."

 

Das Zauberwort heißt individuelle Förderung, das Eingehen auf die Stärken und Schwächen jedes einzelnen Schülers und jeder einzelnen Schülerin. Derzeit erhält zum Beispiel nur ein Drittel der leseschwachen Schüler in Deutschland überhaupt eine zusätzliche schulische Förderung im Lesen. Zumal es dann nicht irgendwelche Förderprogramme sein dürfen, sondern durch die Bildungsforschung evaluierte.

 

Mehr individuelle Förderung kostet natürlich Geld, zusätzliche Ressourcen für die im Vergleich zu etwa den Gymnasien schwach finanzierten Grundschulen. Zum Beispiel, um mehr Ganztagsunterricht zu ermöglichen, das heißt: echten Ganztag, auch mit Unterricht am Nachmittag, wie Studienautor Wilfried Bos von der TU Dortmund betonte. 

 

Doch es geht auch um neue Unterrichtskonzepte und Lehrerbildung. So fordern Bos und die anderen Autoren der IGLU-Studie, dass die sprachliche Bildung Bestandteil aller Unterrichtsfächer werden müsse, nicht nur des Deutschunterrichts. Das jedoch wird nur klappen, wenn sie auch verpflichtender Bestandteil des Lehramtsstudiums für alle Fächer wird, wie Michael Becker-Mrotzek, Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache der Universität zu Köln, zu Recht betont. 

 

Einen Schock wie den nach Pisa 2000 (inklusive dem daraus resultierenden bildungspolitischen Aufbruch und den zwischenzeitlichen Leistungssprüngen wiederum vor allem bei Pisa) gibt es nur alle paar Jahrzehnte. Man sollte ihn auch nicht herbeireden angesichts der mauen, aber keineswegs katastrophalen Ergebnisse heute und im vergangenen Jahr. Ein Umsteuern in den Schulen brauchen wir allerdings auch jetzt wieder. Und zwar dringend.


Bei IGLU 2016 wurden rund 4300 deutsche Viertklässler getestet, weltweit beteiligten sich diesmal 57 Staaten und Regionen an der alle fünf Jahre stattfindenden Studie. Detaillierte Ergebnisse und weitere Analysen können Sie zum Beispiel bei den Kollegen von Spiegel Online nachlesen. 

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