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Schluss mit der Vereinnahmung

Die deutschen Wissenschaftsorganisationen schreiben einen bemerkenswerten Brief an Ungarns Regierung und protestieren gegen ein neues Gesetz, das die Wissenschaftsfreiheit einschränkt. Ein Wermutstropfen ist allerdings der Zeitpunkt.

ZUNÄCHST EINMAL: Chapeau, Fraunhofer. Die großen deutschen Wissenschaftsorganisationen haben Anfang der Woche einen Brief an Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán geschrieben und das Gesetz zur Umstrukturierung der Ungarischen Akademie der Wissenschaften kritisiert. Er lag der ZEIT exklusiv vor und wurde dort heute in voller Länge abgedruckt.

 

Doch anders als bei einem ähnlichen Protestschreiben an den für Wissenschaft zuständigen Minister, László Palkovics, Ende Februar haben dieses Mal alle zehn Mitglieder der Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen unterzeichnet. Auch Fraunhofer, auch dessen Präsident Reimund Neugebauer.

 

Dessen Unterschrift hatte auf dem Brief vor vier Monaten noch gefehlt, die Begründung seines Sprechers Janis Eitner lautete damals auf meine Nachfrage, man wolle von der öffentlichen Nennungen einzelner Länder absehen und gehe "hier in den direkten Dialog mit den jeweiligen Wissenschaftsministern internationaler Partnerländer."

 

Eine Entscheidung, die von Palkovics gnadenlos ausgenutzt wurde. Er habe sich gefreut, sagte der Minister im April im Interview hier im Blog, "dass Fraunhofer als einzige Organisation den Brief Ende Februar nicht unterschrieben hat. Reimund Neugebauer kennt Ungarn seit langem, wir arbeiten hervorragend zusammen." Die Botschaft: Wer uns und unsere Motive wirklich kennt, der kritisiert uns nicht. Und die anderen haben keine Ahnung.

 

Der Minister ist ein Meister
der Vereinnahmung

 

Auch sonst ist Palkovics ein Meister der Vereinnahmung. In der Antwort auf den ersten Allianz-Brief antwortete die ungarische Regierung, Vorbild für die Umgestaltung der Akademie und der Forschungsfinanzierung  seien das deutsche Forschungssystem und die Max-Planck-Gesellschaft (MPG). Im Interview hier im Blog konkretisierte Palkovics dann: "Wir gehen so ähnlich vor, wie Deutschland nach der Wende bei der Überführung der ehemaligen Akademie-Institute in seine bestehenden Forschungsorganisationen vorgegangen ist." Und wie bei Max Planck werde es eine Zwischenebene zwischen der Politik und der Wissenschaft geben. In einem weiteren Interview mit der ZEIT vergangene Woche bekräftigte er: "Die neue Struktur unserer Akademie wird exakt so sein wie bei der Max-Planck-Gesellschaft."

 

Was genug ist, ist genug, mag sich Neugebauer gesagt haben. Das mögen sich die Chefs der deutschen Wissenschaftsorganisationen auch insgesamt angesichts des ZEIT-Interviews gedacht haben. Und so ließen sie es in ihrem neuen Brief, diesmal direkt an Ministerpräsident Orbán gerichtet, nicht an Deutlichkeit vermissen: Die Darstellung, die neue Struktur der Akademie entspreche jener der MPG, sei "sachlich falsch": "Während die Finanzierung der von Ihnen in Bezug genommenen deutschen Organisationen stets eine Grundfinanzierung einschließt, über die die Organisationen frei verfügen können (wie es bisher auch bei der Ungarischen Akademie der Wissenschaften der Fall war), sollen nunmehr Finanzierungen fast ausschließlich auf Projektbasis geleistet werden." Die Regierung wolle direkten Einfluss auf die wissenschaftlich Ausrichtung der Akademie-Nachfolgeorganisation nehmen. "Das geplante Gesetz knüpft an andere Gesetzesvorhaben an, mit denen die ungarische Regierung ihre Einflussmöglichkeiten im Bereich der Wissenschaft vergrößern will.“

 

Sein Ziel hatte Palkovics freilich schon erreicht, als der Brief der Wissenschaftsorganisationen am Donnerstag in der ZEIT erschien und damit erst so richtig zum Offenen Brief wurde. Das ungarische Parlament beschloss am Dienstag mit der überwältigenden Mehrheit der Orbán-Regierung den von Palkovics eingebrachten Gesetzentwurf. 

 

Als der Brief in Budapest einging, war
der Zug längst nicht mehr aufzuhalten

 

Dass der Zug der Gesetzgebung schon am Montag, als ihr Brief in Budapest einging, nicht mehr aufzuhalten war, wird auch der Allianz klar gewesen sein. Doch offenbar war den Chefs das Signal trotzdem wichtig: gegen den Zynismus des ungarischen Ministers, aber auch vor der eigenen Wissenschafts-Community hierzulande. Insofern war der heute in der ZEIT veröffentliche Brief von Anfang an wohl mehr als Akt der intellektuellen Redlichkeit gedacht denn als Versuch, Orbán und das ungarische Parlament in den finalen 24 Stunden vor der Entscheidung umzustimmen.

 

Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn die Allianz-Organisationen schneller gewesen wären, wenn sie zum Beispiel gleich Anfang Juni reagiert hätten, als klar wurde, dass Palkovics das neue Gesetz innerhalb weniger Tage oder Wochen durchpeitschen wollte? Vermutlich nicht. Deutschlands Wissenschaft genießt einen hervorragenden Ruf in Ungarn, aber der Regierung Orbán dürfte sie dann doch ziemlich egal sein. Trotzdem, so würde man es sich wünschen, sollte die Allianz in ähnlichen politischen Situationen künftig schneller reagieren, trotz aller nötigen Abstimmungen. Mit derselben Klarheit, aber eben mit ein wenig mehr Tempo. 

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