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Menetekel NRW

Während die Kultusminister über Präsenzunterricht nach den Osterferien berieten, teilte Nordrhein-Westfalen mit: Alle Schüler müssen vorerst zu Hause bleiben. Was die KMK daraufhin beschloss.

WER WISSEN WILL, wie in der Coronakrise zweierlei Maß an Kinder und Erwachsene angelegt wird, sollte heute einmal nach Nordrhein-Westfalen schauen.

 

Während ihre Kultusministerkollegen in einer Videoschaltkonferenz zusammensaßen, verkündete NRW-Ressortchefin Yvonne Gebauer (FDP) am Nachmittag, dass bis auf die Abschlussklassen alle Schüler im größten Bundesland für zunächst eine Woche wieder in den Distanzunterricht gehen müssen. Offensichtlicher Grund: Die Millionen versprochenen Selbsttests wurden nicht geliefert. 

 

Unterdessen gehen Millionen Arbeitnehmer in NRW weiter jeden Tag in die Büros und Fabriken. Wie in anderen Bundesländern auch gibt es für die Arbeitgeber weder eine vorgeschriebene Homeoffice-Quote noch müssen die Erwachsenen zu Hause bleiben, wenn die Unternehmen ihnen nicht genügend Tests zur Verfügung stellen können. Und selbst wenn: Das Test-Angebot ist natürlich freiwillig – wer es nicht annehmen mag, kann trotzdem weiter kommen.

 

Für die Schülerinnen und Schüler hingegen soll es in NRW eine Testpflicht als Voraussetzung dafür geben, dass sie den Unterricht besuchen können – wie in immer mehr Bundesländern. Was ich, nebenbei gesagt, für sehr sinnvoll halte. So sinnvoll, dass es unverständlich ist, warum das nicht auch für die Erwachsenen am Arbeitsplatz gelten soll. 

 

Kinder zuerst – bei

den Einschränkungen

 

Wobei es eigentlich nicht unverständlich ist, sondern stimmig. Denn es setzt sich eine Tendenz fort, die die Corona-Politik der gesamten letzten 14 Monate geprägt hat: Kinder zuerst. Bei der Rhetorik. Und bei den Einschränkungen.

 

Vor diesem Hintergrund wundert es dann auch gar nicht mehr, dass der neue CDU-Chef und Möchte-Gern-Wird-Aber-Wohl-Nicht-Kanzlerkandidat Armin Laschet, der eben noch die Rechte der Kinder hochgehalten hat, die gesamten Osterferien  abwartet – um für die Zeit danach einen Brücken-Lockdown zu fordern, der im Wesentlichen (und, wie es aussieht, ausschließlich) auf neuerliche Kita- und Schulschließungen hinauslaufen dürfte.

 

Wieviel sinnvoller wäre es gewesen, die Zeit der ohnehin geschlossenen Schulen (=Ferien) für einen Lockdown der Fabriken und Büros zu nutzen. Aber das wäre wiederum nicht stimmig gewesen mit der bisherigen Corona-Politik, die im Wesentlichen auf dem Rücken von Kindern, Familien, Freiberuflern und Kleinunternehmen ausgetragen wurde. Denn je länger große Teile der Gesellschaft und der Erwachsenen von Schließungen ausgenommen werden, desto länger müssen die anderen (und vor allem die Kinder) unter denselben leiden.

 

Natürlich ist das holzschnittartig, was ich hier schreibe, und natürlich ist die Wirklichkeit differenzierter. Laschets Landesregierung hat tatsächlich zeitweise die Kitas und Schulen entschiedener offengehalten als andere Bundesländer. Und derzeit gibt es Bundesländer wie Berlin, die die Arbeitgeber stärker in die Pflicht nehmen, was Homeoffice-Quoten angeht. Hinzu kommt, dass sich die Kultusminister insgesamt, auch die von NRW, die längste Zeit der Coronakrise für möglichst offene Schulen eingesetzt haben – und dafür bei vielen Lehrkräften und nicht wenigen Eltern massiv Gegenwind bekommen haben. 

 

Die Debatte, ob die Hygienekonzepte ausreichend waren oder nicht, will ich an dieser Stelle gar nicht führen. Meines Erachtens waren und sind sie nämlich – bei aller Kritik – an vielen Schulen besser und strenger, als sie in Unternehmen jemals waren (was nicht nur die Debatte um die Schnelltests zeigt), und die S3-Richtlinie ist eine sehr gute Grundlage für Präsenzunterricht in der Pandemie. Das Problem sind der Schülertransport und der Umstand, dass die Kinder und Jugendlichen, die in der Schule oft nach Gruppen getrennt werden, sich natürlich in der Freizeit begegnen.

 

Die Schulen als Stiefkinder

von Bund und Ländern

 

Trotzdem stehen die Bildungseinrichtungen in der Coronakrise wie Stiefkinder von Bund und Ländern da – was auch damit zu tun hat, dass die Politik Milliarden und Abermilliarden für Rettungspakete für die Wirtschaft ausgegeben hat, was gar nicht zu kritisieren ist – aber es schon für eine Großtat hält, wenn es demnächst ein Lernhilfe-Sonderprogramm für Schüler in Höhe von einer oder möglicherweise zwei Milliarden Euro gibt.

 

Yvonne Gebauer hätte jedenfalls heute, als sie mit ihren KMK-KollegInnen aus den anderen 15 Bundesländern zur Videokonferenz verabredet war, sicherlich einiges zu erklären gehabt. Doch sie fehlte mehreren Teilnehmern zufolge in der Schalte. Während sich viele der anwesenden Kultusminister gefragt haben dürften, ob sie demnächst ähnliche Botschaften werden verkünden müssen – abhängig von dem, was ihre Regierungschefs nächste Woche gemeinsam beschließen werden. Falls sie etwas gemeinsam beschließen. Alternativ könnte das der Bund demnächst für sie tun.

 

Zunächst einmal aber wächst mit der Entscheidung Nordrhein-Westfalens  die Spaltung der lange in Hinblick auf Corona erstaunlich einheitlichen bundesdeutschen Schullandschaft weiter. Zu Unrecht wurde den Kultusministern über Monate Uneinigkeit vorgeworfen, dabei waren die Unterschiede bei der Schließung bzw. Öffnung der Schulen oft nur graduell und auf einzelne Klassenstufen bezogen. Das hat sich mit der dritten Welle geändert. Bayern, Baden-Württemberg oder jetzt auch NRW lassen die Schüler erstmal bis auf die Abschlussklassen komplett zu Hause hocken; andere Länder wie Berlin lassen zumindest auch die Grund- und Förderschüler kommen, Sachsen wiederum inzidenzunabhängig alle Klassenstufen. 

 

Kultusminister: So viel Präsenz wie möglich,
und Abiturprüfungen finden statt

 

Weil gleichzeitig die bislang geringen Differenzen zwischen den politischen Lagern in der KMK wüchsen, werde es immer schwieriger, die Linie für einen gemeinsamen Beschluss hinzubekommen, berichteten Teilnehmer nach der Sitzung. Was man dem Beschluss, den sie dann fassten, anmerkt – so allgemein, wenig kraftvoll und bereits aus früheren Beschlüssen bekannt sind seine Botschaften. Trotzdem war es den Kultusministern offenbar wichtig, bevor (und falls) sich die Regierungschefs nächste Woche beraten, nochmal das folgende zu betonen: 

 

o Kinder und Jugendliche trügen eine "große Last" in der Pandemie, die Kultusministerinnen und Kultusminister sähen es als  ihre "Aufgabe", ihnen "eine Stimme zu geben" und sich dafür einzusetzen, "ihnen – soweit es geht – ihre Lebenswelt zurückzugeben". Schule als Ort des Lernens und des sozialen Miteinanders sei neben der Familie "ein unersetzlicher Bestandteil der Lebenskontexte junger Menschen", weshalb Schulen "so weit wie möglich prioritär offen zu halten" seien. 

 

o Was bedeute: Begleitet durch eine "umfassende Test- und Impfstrategie so viel Präsenzunterricht wie möglich"  – im modifizierten Regelbetrieb oder im Wechselmodell, wobei an den weiterführenden Schulen die Abschlussklassen des Schuljahrs 2021/22 zu priorisieren seien.  

 

o Die Testmöglichkeiten sollten so ausgebaut werden, "dass allen Schülerinnen und Schülern sowie den Lehrkräften und sonstigen an Schule Beschäftigten zweimal wöchentlich die Möglichkeit für einen Selbsttest angeboten werden kann". Darüber hinaus müssten auch künftig die Hygieneregeln strikt eingehalten werden, und die Kultusminister forderten erneut,  "dass allen Beschäftigten an Schulen, die im unmittelbaren Kontakt zu Schülerinnen und Schülern stehen, ein frühest­möglicher Impftermin angeboten wird". Auf eine bundesweite Testpflicht zum jetzigen Zeitpunkt, berichten Teilnehmer, habe man sich nicht einigen können – perspektivisch werde diese aber wohl kommen. 

 

o Auch zur (fast schon sommerlochartig anmutenden) Debatte um die GEW-Forderung, die Abiturprüfungen notfalls abzusagen, positionierte sich die KMK so, wie viele Kultusminister es für sich allein bereits getan hatten: Die Schüler der Abschlussklassen (die tatsächlich als einzelne in den vielen Ländern komplett durchgehend Unterricht hatten) hätten sich trotz der Pandemiesituation gut vorbereiten können, auch seien die nötigen Vorbereitungen für Prüfungen unter Hygiene- und Abstandsbedingungen getroffen. Deshalb: "Die Kultusministerinnen und Kultusminister werden daher die Abschlussprüfungen im Schuljahr 2020/2021 durchführen lassen."

 

o Zum angekündigten Lern-Sonderprogramm forderte die KMK die Bundesregierung auf, "die hierzu bundesseitig notwendige Finanzierung sicherzustellen". 

 

Der Beschluss, den die Kultusministerkonferenz heute fasste, ist mehr als der kleinste gemeinsame Nenner, denn das Plädoyer für Präsenzunterricht ist stark. Doch endet die Gemeinsamkeit schon bei der Frage, ob und inwieweit man dieses Plädoyer an konkrete Inzidenzwerte koppeln sollte. Und die Unsicherheit über das, was ihre Chefs oder der Bund demnächst für sie beschließen könnten – und was das für die Schulpolitik bedeutet, ist groß unter den Kultusministern. Die heutige Schulschließungs-Nachricht durch Yvonne Gebauer, deren einst so öffnungsfreundlicher Ministerpräsident gerade einen 180-Grad-Schwenk hingelegt hat, zeigt ihnen, wie schnell das gehen kann. 




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Kommentare: 3
  • #1

    Wolpers (Donnerstag, 08 April 2021 22:46)

    Wer verstehen will, warum die Politik in Deutschland nicht in die Zukunft investiert -- weder in neue Technologien noch in Bildung -- muss sich nur eine Zahl anschauen: Fast die Hälfte der Wähler ist über 60 Jahre alt.

  • #2

    Working Mum (Donnerstag, 08 April 2021 23:16)

    Hinsichtlich der Ungerechtigkeit, mit der die Lasten der Pandemiebekämpfung verteilt werden, tritt meinerseits keine Gewöhnung ein. Sie macht mich immer noch fassungslos.
    An der Schule, die unser Kind besucht, sind die Lehrkräfte geimpft, die Schnelltests stehen über ein Modellprojekt der Kommune in ausreichender Menge zur Verfügung, um alle Schülerinnen und Schüler zweimal wöchentlich zu testen. Die Klassen sind geteilt, alle tragen durchgängig Maske, natürlich wird gelüftet. Was muss denn noch passieren? Ich würde mich im Klassenzimmer sicherer fühlen als bei meiner Arbeitsstelle, bei der mit Ausnahme der Masken keine weiteren Sicherheitsvorkehrungen greifen. Während die Kolleginnen und Kollegen vermehrt aufs Homeoffice verzichten, weil ihnen zu Hause die Decke auf den Kopf fällt.

  • #3

    Christian Reintjes (Mittwoch, 14 April 2021 04:48)

    Im Kontext dieses Blog-Beitrages möchte ich auf folgende Studie hinweisen:
    https://www.waxmann.com/?eID=texte&pdf=4362_1_OA.pdf&typ=zusatztext