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"Wir brauchen einen Bildungsgipfel"

Heute präsentieren Deutschlands führende Bildungsforscher den neuen Nationalen Bildungsbericht. Er ist die erste bildungspolitische Gesamtschau seit Beginn der Corona-Pandemie. Autoren-Sprecher Kai Maaz über die wichtigsten Befunde, den dramatischen Personalmangel, eklatante Bildungsungerechtigkeiten – und die Strategieschwäche der Bildungspolitik.

Kai Maaz ist Sozialpädagoge, Erziehungswissenschaftler und Bildungsforscher und Geschäftsführender Direktor des DIPF Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation. Foto: Kay Stelter.

Herr Maaz, im Juni 2020, als der letzte nationale Bildungsbericht vorgestellt wurde, sagte die damalige KMK-Präsidentin Stefanie Hubig: "Schule wird nach Corona nicht mehr so sein wie davor." Bestätigt der Bildungsbericht 2022 Hubigs Prognose?

 

Das können wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen. Mit dem aktuellen Bildungsbericht können wir, und das auch nur begrenzt, Einblicke in das Geschehen während der Pandemie geben. Von den bloßen Daten und Statistiken her sehen wir aber klare Hinweise für Veränderungen im System, allerdings eher im Bildungsverhalten und Bildungserwerb während und am Ende der Schulzeit. Und weniger bei der Gestaltung von Schule. Insofern bezweifle ich, dass die Einsicht, dass die Schule nach Corona eine andere sein sollte, schon in den meisten Köpfen angekommen ist. Alle haben sich danach gesehnt, so schnell wie möglich wieder den Normalbetrieb ausrufen zu können. Eigentlich hätten wir innehalten und fragen müssen: Was brauchen die Schulen jetzt? Wann fangen wir an, über die pädagogischen Konzepte zu reden, um mit den vielfältigen negativen Folgen der Pandemie umgehen zu können? Wann schaffen wir die länderübergreifenden Strukturen, um die Potenziale der Digitalisierung wirklich für alle Schüler und in allen Klassenräumen nutzbar zu machen? 

 

Die Schule ist nicht mehr wie vor Corona, aber die föderale Bildungspolitik sehr wohl?

 

Das wäre mir als Kritik zu einseitig. Unser Bildungssystem hat gezeigt, dass es auf exogene Schocks wie die Pandemie reagieren kann. Es hat sich viel getan, auch politisch: Die Länder koordinieren sich heute untereinander und mit dem Bund viel intensiver als vor 2020. Was immer noch fehlt, ist ein Konsens, gemeinsam definierte Ziele und ein Plan, wo wir bildungspolitisch als Bundesrepublik hinwollen. >>


Der Bildungsbericht und seine Macher

Der Bildungsbericht wird verfasst von der Autorengruppe Bildungsberichterstattung, die das DIPF | Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation federführend verantwortet. Sprecher der Gruppe ist der DIPF-Direktor Kai Maaz.

 

Für den Bildungsbericht werden keine eigenen Studien erstellt, sondern vorhandene Untersuchungen und Statistiken zusammengetragen und ihre Ergebnisse kombiniert – weshalb einem manche Aussagen auch bereits bekannt vorkommen dürften. Das Besondere ist der Gesamtüberblick, der entsteht. 

 

Für jedes Bildungsfeld im Bericht gibt es eigene Zuständige, die die Daten zusammenstellen und analysieren, darunter führende Bildungsforscher wie Susan Seeber vom Soziologischen Forschungsinstitut an der 

Universität Göttingen, Thomas Rauschenbach vom Deutschen Jugendinstitut und Sandra Buchholz vom Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung. 

 

Weitere beteiligte Institutionen sind das Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen (DIE), das Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) und die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder.

 

Seit 2006 erscheint der Bildungsbericht alle zwei Jahre, nunmehr zum neunten Mal. Er hat allerdings einen über 40 Jahre alten Vorläufer: 1979 veröffentlichte die "Arbeitsgruppe Bildungsbericht" am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung erstmals ihren Überblick "Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland" – damals in seiner empirischen Ausrichtung eine echte Sensation. 



>> Direkt vor der Pandemie lautete eine zentrale Erkenntnis, dass der Trend zu immer höheren Bildungsabschlüssen zum Erliegen kam. Hat Corona noch zusätzlich gebremst?

 

Der Bildungsstand der Gesamtgesellschaft befindet sich auf einem hohen Niveau. Zum Beispiel beginnt fast die Hälfte der jungen Menschen ein Studium, das ist sehr viel. Da ist es auch nicht schlimm, wenn der Akademisierungsgrad nicht weiter steigt. Im Gegensatz übrigens zum Anteil der Bevölkerung mit Hochschulabschluss, der erhöht sich zeitverzögert noch weiter und ist allein zwischen 2010 und 2020 um fünf Prozentpunkte auf 26 Prozent geklettert. Währenddessen sind wir weit weg von einer Überakademisierung, soll heißen: Fast alle Hochschulabsolventen finden ihrer Qualifikation angemessene Jobs. Äußerst positiv ist übrigens, dass am anderen Ende die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss zurückgegangen ist auf zuletzt 5,9 Prozent. 

 

Und das ausgerechnet in der Corona-Zeit!

 

Vielleicht ist gerade das nicht so erstaunlich. Eine Erklärung könnte sein, dass die Prüfungen vereinfacht wurden. Oder dass mehr junge Leute ein Jahr länger in der Schule blieben. Erfreulich ist, dass ein weiterer Trend, den wir 2020 beobachtet haben, sich seitdem ebenfalls fortgesetzt hat. Das Bildungssystem wird durchlässiger und gibt den Menschen zweite und dritte Chancen. Mit dem Ergebnis, dass von jungen Menschen ohne Schulabschluss ein paar Jahre später nur noch 1,5 Prozent übrig sind. Weil im beruflichen Bildungssystem substanziell allgemeinbildende Schulabschlüsse nachgeholt werden können. 

 

"Wir haben einen Sockel äußerst kompetenzschwacher Schülerinnen und Schüler, und das seit langem." 

 

Da betrachten Sie aber nur die Jugendlichen, die es in eine Berufsausbildung schaffen. Im neuen Bildungsbericht steht parallel die geradezu erschütternde Zahl, dass 46 Prozent der Jugendlichen mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit im sogenannten Übergangssystem geparkt werden, oft ohne Perspektive auf eine Lehrstelle oder weitere Qualifikation. Fast die Hälfte!  

 

Möglicherweise machen sie dort ja noch einen Schulabschluss. Aber keine Frage, der Anteil ist viel zu hoch. Das dürfen wir bei der insgesamt positiven Geschichte, dass sich der Bildungsstand der Bevölkerung weiter erhöht, nicht vergessen. Darauf haben wir im Bildungsbericht vor zwei Jahren hingewiesen, darauf weisen wir jetzt wieder hin: Wir haben in Deutschland einen Sockel äußerst kompetenzschwacher Schülerinnen und Schüler, und das seit langem. Anfang der 2000er Jahre, nach der ersten Pisa-Studie, haben wir sie als Risikogruppe bezeichnet. Insofern warne ich davor, jetzt so zu tun, als handle es sich um eine neue, erst durch Corona ausgelöste Schieflage. 

 

Befürchten Sie eine solche Deutung als Reaktion auf den Bildungsbericht?

 

Die Gefahr besteht. Aus bildungspolitischer Sicht wäre das ja auch ein recht bequemes Erklärungsmuster. Die Wahrheit ist aber seit langem: Wir müssen die bildungsbenachteiligten Schülerinnen viel stärker in den Fokus der Bildungspolitik nehmen, das ist bislang nie im nötigen Ausmaß geschehen. 

 

Sie sprechen von einem "Sockel". Ist die Formulierung nicht zu harmlos, wenn dieser Sockel doch seit mindestens einem Vierteljahrhundert stets ein Fünftel oder gar ein Viertel jedes Schülerjahrgangs umfasst hat? Junge Menschen, die unzureichend lesen und schreiben und nur einfachste Rechenoperationen ausführen können? 

 

Ein Viertel ist sicher übertrieben, aber auch bei einem Fünftel gilt: Das kann mich als Bildungsforscher, der sich stark mit Ungleichheitsfragen beschäftigt, nicht kalt lassen. Wir müssen uns fragen: Was sind die gesellschaftlichen Mechanismen, die verhindern, dass wir diesen Sockel nachhaltig verkleinern? Hatten wir über all die Jahre die falschen bildungspolitischen Lösungsansätze? Ein Teil der Antwort könnte sein, dass wir mit den großen Bund-Länder-Initiativen an der falschen Stelle angesetzt haben: nämlich zu spät in der Bildungslaufbahn. Die jungen Leute werden nicht erst in der Schule abgehängt, die Ungleichheit beginnt im Kleinkind- und Kitaalter. Und genau da fehlt uns die systematische Förderung. Hinzu kommt: Wir wissen und diagnostizieren viel, aber das hat zu selten Konsequenzen.

 

"Was passiert mit den Jugendlichen, die die Mindeststandards nicht schaffen? Im ungünstigen Falle nichts, es wird einfach weitergemacht wie zuvor."

 

Wie meinen Sie das?

 

Wir messen, wie viele Jugendliche an welchen Schulen die Bildungs-Mindeststandards erreichen in Mathematik oder in Deutsch, aber was passiert mit denen, die es nicht schaffen? Im ungünstigen Falle nichts, es wird einfach weitergemacht wie zuvor. Mit der durch die Lernpsychologie klar beschriebenen Folge, dass die Lücken mit der Zeit immer größer werden, weil einmal nicht erworbene basale Kompetenzen den Erwerb weiterer Kompetenzen verhindern. Irgendwann brechen die betroffenen Kinder und Jugendlichen dann ganz aus dem System Schule aus. 

 

Hier müssten sich Corona und die Pandemie-Maßnahmen dann doch deutlich ausgewirkt haben, und zwar zusätzlich verschärfend. Was lässt sich dazu schon sagen?

 

 

Erste Befunde und Lernstandserhebungen, die uns insbesondere aus dem Ausland vorliegen, deuten darauf hin, dass es so ist, wie Sie sagen. Kinder aus sozial weniger begünstigten Familien haben der Distanzunterricht und andere Einschränkungen besonders stark getroffen, außerdem diejenigen Schüler, die schon vor Corona zu den leistungsschwächeren gehörten. Wenn es uns nicht gelingt, mit entsprechenden Lernangeboten gegenzusteuern, kommt es zu der Kumulation von Defiziten, die ich gerade beschrieben habe. >>

 



>> Macht das Corona-Aufholprogramm die richtigen Angebote?

 

Ich bin Mitglied der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz, und als SWK hatten wir die Politik schon im vergangenen Jahr aufgefordert, das vorhandene Geld möglichst stark zu priorisieren. Zwei Milliarden Euro, davon eine Milliarde für die Schulen, das hörte sich erstmal viel an, aber runtergebrochen auf die einzelnen Schüler ist das nur substanziell, wenn Sie die Maßnahmen auf diejenigen Kinder und Jugendlichen konzentrieren, die es am dringendsten brauchen. Deren Förderung sollte dann wiederum vor allem auf die Grundfertigkeiten in Deutsch oder Mathematik fokussiert werden. Leider ist das in der Form nicht geschehen. Ich sage ganz deutlich: Selbst wenn wir künftig jedes Jahr eine Milliarde zur Kompensation von Pandemiefolgen ins System stecken, aber keine wirkliche Strategie dahintersteckt, ist das gut gemeint, wird aber nicht die Wirkung erzielen, die man sich erhofft. 

 

Aber es geht doch nicht nur um schulische Kompetenzen!

 

In der Tat nicht. Aber auch wenn ich an all die Kinder denke, die durch die Pandemie emotional, psychisch oder sozial aus der Bahn geworfen wurden, die erreiche ich nicht über außerschulische Nachhilfe oder sonstige Aufrufe, denen muss ich niedrigschwellige Angebote machen. Da geht es um intensive Beziehungsarbeit, um überhaupt irgendwann wieder mit dem kognitiven Lernen beginnen zu können. Und auch an der Stelle frage ich mich: Waren und sind das im Corona-Aufholprogramm wirklich immer die richtigen Maßnahmen, die da installiert wurden?

 

"Die Forschung liefert seit Jahren recht genau zutreffende Daten und Prognosen, dennoch kann ich bis heute weder für den Kita- noch für den Schulbereich klare bildungspolitischen Strategien erkennen, wie man dem Personalmangel langfristig begegnen will."

 

Beziehungsarbeit braucht, um in Kitas oder Schulen geleistet zu werden, vor allem fachkundiges Personal. Der Bildungsbericht zeigt dessen enormen Mangel in allen Bildungsbereichen. Lernlücken, abgehängte Risikoschüler und soziale Disparitäten auf der einen Seite, hunderttausende fehlende Erzieher:innen und Lehrkräfte auf der anderen: eine toxische Mischung?   

 

In den Kitas arbeiten heute 75 Prozent mehr Fachkräfte als vor zehn Jahren, auch die Zahl der Kitas ist stark gestiegen, das ist alles beachtlich. Aber es befinden sich eben auch knapp eine Millionen Kinder mehr in Betreuung, weil es, wie erfreulich, wieder mehr Geburten gab. So dass die Betreuungsschlüssel sich nicht wesentlich verbessert haben und nach wie vor nur etwa ein Drittel der unter 3-Jährigen eine Krippe besucht. In den Schulen ist die Lage noch schwieriger. Hier ist die Zahl der Pädagogen sogar gesunken, obwohl die Zahl der Schüler wieder im Steigen begriffen ist. Und weiter hochgehen wird. Während sich abzeichnet, dass weiterhin viele Lehrer in Pension gehen und zu wenige nachrücken. 

 

Und nun?

 

Was mich wirklich sorgt: Die Bildungsforschung liefert seit Jahren recht genau zutreffende Daten und Prognosen, dennoch kann ich bis heute weder für den Kita- noch für den Schulbereich klare bildungspolitischen Strategien erkennen, wie man dem Mangel langfristig begegnen will. Es fehlt teilweise sogar die Bereitschaft zur Diskussion, wie groß der Bedarf in den nächsten zehn oder 20 Jahren tatsächlich sein wird. Erst recht, wenn wir die noch gar nicht richtig eingepreisten zusätzlichen Personalbedarfe für den Ganztag-Ausbau bedenken.

 

Als Autorengruppe des Nationalen Bildungsberichts fallen Sie an der Stelle aber auch mit erstaunlicher Zurückhaltung auf. So zitieren Sie in der Kurz-Zusammenfassung lediglich die amtliche KMK-Schätzung, dass bis 2030 rund 30.000 Lehrkräfte fehlen sollen. Laut Ihrem Bildungsforscher-Kollegen Klaus Klemm könnten es über 80.000 werden.

 

Im Bericht nennen wir Klemms Prognose genauso, diskutieren sie aber nicht und bewerten die unterschiedlichen Prognosen nicht, das ist richtig. Dafür ist der Bildungsbericht nicht das richtige Format. Wir sind von Mindestbedarfen ausgegangen und haben im Haupttext deutlich gemacht, dass der Bedarf durchaus weitaus größer ausfallen könnte als die 30.000 und dass das ein großes Problem ist. 

 

Was empfehlen Sie denn der Politik im Kampf gegen den Mangel?

 

Die Situation ist inzwischen so schwierig, dass es utopisch wäre, eine Lösung allein durch mehr Werbung fürs Lehramtstudium oder eine Erzieherausbildung zu erwarten. Denn parallel werben Industrie- und Handelskammern mindestens genauso engagiert um die jungen Leute, weil dort die Fachkräfte genauso rar sind. Wir werden also auf absehbare Zeit nicht rauskommen aus dem Dilemma, und gleichzeitig müssen wir gegen die wachsenden sozialen Disparitäten im Bildungssystem angehen. Wie soll das gehen? Ich habe Antworten auf die Frage, aber keine einfachen.

 

"Wir müssen die sehr hohe Teilzeit-Quote senken.
Nur etwas mehr als die Hälfte der Lehrer arbeitet überhaupt noch die volle Stundenzahl."

 

Nämlich? 

 

Zum einen müssen wir sehen, wie wir die sehr hohe Teilzeit-Quote unter Lehrkräften und in fast allen pädagogischen Berufen senken. Nur etwas mehr als die Hälfte der Lehrer, 54 Prozent, arbeitet überhaupt noch die volle Stundenzahl.

 

Die meisten Lehrkräfte sind Beamte. In vielen Fällen kann, aber muss ihnen Teilzeit nicht erlaubt werden. Wären eine restriktivere Genehmigungspraxis oder eine höhere Mindeststundenzahl nicht die logische Folge für alle Regionen und Fächer, in denen die Personalnot am größten ist?

 

Ich bezweifle, dass das helfen würde. Nötig sind Anreizstrukturen und Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, einen Vollzeitjob mit dem persönlichen Lebensentwurf in Einklang zu bringen. Gerade in den MINT-Fächern unterrichten Leute, die jederzeit den Schuldienst verlassen und sich eine lukrative Alternative in irgendeinem Unternehmen suchen können. Wie wäre es zum Beispiel, die digitalen Möglichkeiten zu nutzen, um auch mal Unterricht von zu Hause aus zu ermöglichen? Gerade hat der Bund die Ausschreibung für neue digitale Kompetenzzentren veröffentlicht, könnten die dafür nicht geeignete didaktische Konzepte entwickeln? Sinnvoll wäre es außerdem, für bestimmte Fächer, Informatik zum Beispiel, grundsätzlich Lehrkräfte zuzulassen, die nur ein Fach unterrichten. Das würde für viele äußerst qualifizierte Leute den Zugang erleichtern. 

 

Was halten Sie von Überlegungen, die Stundentafel in den Schulen zu kürzen, damit zumindest die verbleibenden Unterrichtsstunden zuverlässig gegeben werden können?

 

Ich halte das für nachdenkenswert. Ich habe in den letzten Jahren mehrfach angeregt, dass wir schauen müssen, wie wir die Lehrinhalte in den einzelnen Fächern quantitativ ausdünnen können, ohne dass Wesentliches dabei verloren geht. Was müssen wir zum Beispiel in den Grundschulklassen von Anfang an verstärkt unterrichten, was können wir auf später verschieben? Als Soziologe kann ich diese Frage nur in den Raum stellen, beantworten müssen sie die Fachdidaktiker. Leider haben wir die Zeit seit Pandemie-Beginn nicht genutzt, die nötigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Stattdessen halten wir am alten Kanon, an den alten Curricula fest. 

 

Wieviel Freiraum hätten die Schulen, jetzt Neues auszuprobieren, ohne auf die bildungspolitischen Ansagen von oben zu warten? 

 

Der Spielraum ist je nach Bundesland ziemlich groß. In Berlin zum Beispiel könnten die Schulen dank des Rahmenlehrplans selbst Schwerpunkte setzen und umgekehrt bestimmte Lerneinheiten zurückfahren. Sie machen es aber kaum. Wir brauchen mehr Mut zum Ausprobieren.

 

"Es ist schon eklatant, dass wir im neuen Bildungsbericht ähnliche Befunde präsentieren wie in der ersten Pisastudie 2001. Oder dass wir über die Digitalisierung nicht viel anders diskutieren als vor der Pandemie."

 

Bräuchten wir für diesen Mut nicht zunächst die gemeinsam definierten Ziele, von denen Sie am Anfang sprachen – und den von Ihnen geforderten "Plan, wo wir bildungspolitisch als Bundesrepublik hinwollen"?

 

Genau das gehört zu den Forderungen im Bildungsbericht: Wir müssen über die bildungspolitischen Ziele für die nächsten zehn oder 20 Jahre reden, wir müssen den Weg und die Zwischenschritte dorthin definieren, die Strategien und Instrumente. Und dann müssen wir sie, alle Projekte und Programme, systematisch nacheinander evaluieren. Das fordert ein enges Zusammenspiel zwischen Bildungspraxis, Bildungsforschung und Politik. Um daraus zu lernen und die Nachfolge-Initiativen entsprechend noch besser zu machen. Ich kann nachvollziehen, dass die Politik in den vergangenen Jahren Anderes zu tun hatte, aber dieser langfristige Blick, der fehlt mir gerade sehr. Es ist schon eklatant, dass wir im neuen Bildungsbericht an vielen Stellen ähnliche Befunde präsentieren wie in der ersten Pisastudie 2001. Oder auch dass wir nach der Pandemie über die Digitalisierung nicht viel anders diskutieren als vorher. 

 

2008 gab es in Dresden einen Bildungsgipfel von Bund und Ländern mit viel Aufbruchstimmung, mutigen langfristigen Zielen wie der Halbierung der Schulabbrecherquoten oder einer stark steigenden Bildungsfinanzierung. Doch die Dynamik verpuffte, Bund und Länder wollten sich auch an ihren Ankündigungen nie messen lassen.

 

Etwa die Halbierung der Abbrecherquote war auch ein wunderbares Ziel. Aber man hat damals nur das Ziel formuliert, ohne die dazu nötigen Konzepte zu entwickeln. Vielleicht braucht es jetzt einen neuen Bildungsgipfel dafür.

 

Den die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag versprochen hat, um sich zwischen Bund, Ländern und Kommunen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft über "neue Formen der Zusammenarbeit und gemeinsame ambitionierte Bildungsziele" zu verständigen. Doch dazu gab es bislang keinen Ton aus dem BMBF.

 

Vielleicht führt ja der Nationale Bildungsbericht und seine Erkenntnisse dazu, dass das Thema auf der politischen Agenda demnächst nach oben rutscht.

 

Warum aber sollte sich die Bildungspolitik der Länder auf eine so grundsätzliche Diskussion ihrer Funktionsweisen einlassen? Das Ergebnis wäre doch erwartbar: Der Bildungsföderalismus verhindert in seinen derzeitigen Abläufen ein reibungsloses Zusammenspiel zwischen den Akteuren.

 

Aber genau das kann doch nach der Erfahrung der Corona-Pandemie nicht mehr das Ergebnis sein. Wir müssen sie jetzt als Anlass nehmen, um zu sagen: Wir sind in der Lage, die Dinge besser zu machen.  



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