· 

Es ist nicht fair, alle Schulen gleich zu behandeln

Wenn die Politik mehr Bildungsgerechtigkeit schaffen möchte, muss sie sich an ein Tabu trauen: die Finanzierung unseres Bildungssystems per Gießkanne.

Foto: Pixabay/Beeki

ES WÄRE DIE womöglich wichtigste Veränderung für unser Bildungssystem. Ganz sicher aber wäre es auch eine der umstrittensten. Es geht um den Mut zur Ungleichbehandlung.

 

Die Idee ist nicht neu. Der Bildungsökonom Ludger Wößmann beschreibt sie wie folgt: "Wieviel Geld eine Schule erhält, könnte doch auch davon abhängen, welchen sozialen Hintergrund ihre Schüler haben." Übersetzt bedeutet das: Ein Gymnasium im gutbürgerlichen Stadtteil bekäme weniger Euro für Lehrerstellen und Ausstattung als die Oberschule im Hochhausviertel. "Im derzeitigen System, in dem die öffentliche Schulfinanzierung per Gießkanne erfolgt, profitieren vor allem die Schüler, die ohnehin schon bessergestellt sind", sagt Wößmann, der am Münchner ifo-Institut forscht. 

 

Der im Hintergrund arbeitende Mechanismus ist schnell erklärt: Sind die Lehrergehälter identisch, ziehen Bewerber im Zweifel die Schule im sozial stabileren Stadtteil vor. Bei der Ausstattung läuft es ähnlich: Bekommen beide Schulen das gleiche Budget für Technik, Möbel oder Sportgeräte, haben die Schüler im vermeintlichen Brennpunkt-Viertel wahrscheinlich weniger. Denn bundesweit sind es vor allem die gutbürgerlichen Gymnasien, an denen Eltern finanzstarke Fördervereine etabliert haben.  

 

Hier und da traut sich die Politik bereits, Schluss zu machen mit der Gleichbehandlung, die in Wirklichkeit zum Gegenteil führt. Aber nur in Form vereinzelter Adhoc-Maßnahmen, vereinzelt und nicht systematisch.

 

Berlin ist da ein gutes Beispiel. Seit 2014 existiert dort ein Bonusprogramm für Schulen "in belasteten Sozialräumen". Schulen, an denen mindestens 50 Prozent der Eltern von der Zuzahlung zu Lernmitteln befreit sind, erhalten jährlich bis zu 100.000 Euro extra. Mit dem Geld können zum Beispiel auf Honorarbasis zusätzliche Sozialarbeiter oder Lerncoaches angestellt werden, auch AGs und Projekte werden damit finanziert.

 

Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass 100.000 Euro nicht einmal zwei Lehrerstellen ausmachen. Und feste Lehrerstellen werden mit dem Geld gar nicht finanziert.

 

Eine zweite beachtenswerte Initiative stammte ebenfalls aus Berlin.  Im vergangenen Jahr verkündete die rot-rot-grüne Koalition, sie wolle Lehrern an Brennpunktschulen eine Gehaltszulage zahlen. Von 300 Euro pro Monat war die Rede. Ein starkes Signal – auch wenn sicherlich keine Lehrkraft, die weg will, sich wegen 300 Euro umentscheiden würde. Aber, wie ich in einem Kommentar im Dezember 2017 schrieb: "Jene, die jeden Tag das Beste geben, aus Überzeugung, aus Leidenschaft, die trotzdem oft zu kämpfen haben, für die sind die 300 Euro ein Einstieg. Und zwar in die lange überfällige Anerkennung für jene Schulen, an denen sich der soziale Zusammenhalt unserer Gesellschaft entscheidet."

 

Zwischendurch sah es dann so aus, als würde die gute Idee zur Karikatur ihrer selbst werden, als der Senat auf Wunsch von Lehrerverbänden erwog, die 300 Euro  in eine Reduktion des Unterrichtsdeputats umzumünzen. Was den absurden Effekt gehabt hätte, dass an Brennpunktschulen noch weniger Stunden von ausgebildeten Vollpädagogen gehalten worden wären. Zum Glück besann man sich angesichts des Lehrermangels eines Besseren. 

 

Und jetzt ist es wieder Berlin, wo möglicherweise mit einem Tabu gebrochen wird. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rand Saleh, einst Initiator des Bonusprogramms, schrieb neulich zusammen mit der bildungspolitischen Sprecherin seiner Fraktion, Maja Lasic, im Tagesspiegel: "Seit Jahren gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen dem Anteil der sozial benachteiligten Schüler und dem Prozentanteil der Quereinsteigenden." 

 

An Brennpunktschulen liegt ihr Anteil mitunter doppelt so hoch wie im Berliner Landesdurchschnitt. Dieser Effekt, warnen Saleh und Lasic, drohe sich zu verstärken, wenn – wie befürchtet – im kommenden Schuljahr mehrere hundert Fachkräfte fehlen. "Die Sorge der Problemkieze ist, dass sich die unbesetzten Stellen vor allem im Wedding, Neukölln, Marzahn oder Spandau wiederfinden und dass sich die Brennpunktschulen glücklich schätzen können, wenn sie überhaupt Quereinsteiger bekommen." 

 

Eine, siehe oben, realistische Einschätzung. Bemerkenswert ist die Schlussfolgerung, die die beiden SPD-Politiker zogen: (Finanzielle) Anreize würden künftig nicht mehr reichen, um Lehrer zum Beispiel aus Zehlendorf nach Marzahn zu locken. "Wir müssen mehr Bildungsgerechtigkeit wagen – und dafür braucht es mehr staatliche Steuerung. Denn von allein geschieht sonst nichts, das zeigt die Vergangenheit."

 

Was genau den beiden vorschwebt, bleibt in dem Betrag wolkig, sie sprechen von "aktiver Ressourcensteuerung". Aber eigentlich kann nur eines gemeint sein: Sie wollen Lehrer auch gegen ihren Willen in sozial schwächere Stadtteile stecken. 

 

Kurzfristig ist das womöglich die einzig richtige Lösung. Langfristig müssen solche Adhoc-Maßnahmen freilich einer durchdachten Strategie der Ungleichbehandlung weichen. Mit dem Ergebnis, dass die Lehrer irgendwann von selbst und freiwillig in die sozial schwächeren Stadtteile wechseln.

 

Davor schreckt die Politik noch zurück. Aus einem einfachen Grund: Schon die Notmaßnahmen dürften richtig Ärger geben. Man kann sich den Proteststurm bürgerlicher Eltern vorstellen, wenn an ihrer Schule eine Lehrerstelle unbesetzt bleibt, obwohl es Interessenten gibt – die jedoch nach Marzahn oder Neukölln geschickt werden. Wie einsichtig werden diese Eltern in Zehlendorf oder Dahlem wohl sein, wenn man ihnen vorrechnet, dass der Lehrermangel anderswo trotzdem noch bei weitem drängender ist als bei ihnen?

 

Die SPD-Politiker Saleh und Lasic wollen aus der Not heraus also das tun, was auch anderswo nicht ausbleiben darf: Konflikte mit jenen riskieren, die von der bisherigen vermeintlichen Gleichbehandlung profitieren. In einem ZEIT-Interview beschrieb Bundesfamilienministerin Franziska Giffey kürzlich recht eindrücklich das Spannungsfeld, in dem sich die Politik dabei bewegt. Sie finde den Fokus auf schwierige Stadtteile ja richtig, sagte Giffey, aber das dürfe nicht dazu führen, dass die Kitas und Schulen in den besseren Stadtteilen vor sich hin rotteten und es den engagierten Eltern überlassen bleibe, dort für Ordnung zu sorgen." Sonst heiße es schnell, für die Durchschnittsfamilie tue die Politik nie etwas. "Das führt zu Unfrieden. Man muss sehen, dass man die Balance hält."

 

Realistisch gesehen hat Giffey Recht. Moralisch gesehen kann man ihre Einsicht indes so nicht stehen lassen, bedeutet sie doch zugespitzt: Wenn man versucht, die alltägliche Bildungsbeteiligung der Kinder aus sozial schwächeren Familien anzugehen, führt das zu gesellschaftlicher Unruhe, weil die Bildungsbürger protestieren. Also lieber nicht zu energisch vorgehen, denn von den bereits Benachteiligten droht der Politik weniger Ärger.

 

Wie gesagt: So wichtig der Mut zur Ungleichbehandlung für unser Bildungssystem wäre, so umstritten ist er auch. Ohnehin bleibt abzuwarten, ob Saleh und Lasic sich durchsetzen. Denn wie weit das alltägliche Regierungshandeln in Berlin derzeit von den Vorschlägen der beiden entfernt ist, zeigt eine Entscheidung ihrer Parteifreundin, der Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD): Sie verkündete laut ZEIT am 11. Juni, dass wegen des Lehrermangels Schulstunden gestrichen werden sollen. Und zwar die für Sprachförderung, Integration und Inklusion. Man kann sich denken, in welchen Vierteln die Schulen liegen, die von den Kürzungen besonders betroffen sein werden. 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0