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Doppelte Ratlosigkeit

Was Bund und Länder zur Omikron-Eindämmung beschlossen haben, reicht nicht. Und der Stunt von RKI-Chef Wieler hat nicht geholfen. Ein Kommentar.

EINIGE FEIERN RKI-CHEF Lothar Wieler im Netz gerade als besonders mutig. Endlich einer, der sich traut, Klartext zu reden und sich gegen die Politik zu stemmen. Der Hashtag "#DankeWieler" trendete gestern Abend. Zuvor hatte das Robert-Koch-Institut unter anderem über seinen Twitter-Account sofortige "maximale Kontaktbeschränkungen" und "maximale infektionspräventive Maßnahmen" gefordert, inklusive der zumindest vorübergehenden Schließung von Restaurants, Kitas, Schulen und Hochschulen.

 

Die Regierungschefs, die sich wenig später zur Corona-Schaltkonferenz zusammenfanden, reagierten teilweise verärgert. Bayerns CSU-Ministerpräsident Markus Söder zeigte sich "höchst irritiert" über die Kommunikation von Bundesregierung und RKI, der BILD-Journalist Filipp Piatov berichtete auf Twitter, Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (beide SPD) hätten sich in der Konferenz vom RKI distanziert. "Für beide zähle der Expertenrat" – der erst einen Tag zuvor sein Votum abgegeben hatte. 

 

Ist der Ärger über das RKI berechtigt? Was ist von seinem Vorstoß zu halten? Und ist Wieler nun zu loben oder zu kritisieren – besonders vor dem Hintergrund der getroffenen Bund-Länder-Beschlüsse? Ein paar Gedanken und Anmerkungen dazu.

 

 

Der Vorstoß des RKI ist mutig und in Teilen richtig

 

Es war vor den Bund-Länder-Beschlüssen absehbar, dass sich Bundeskanzler und Ministerpräsidenten nicht auf eine Verschärfung der Maßnahmen schon vor Weihnachten würden einigen können. Obwohl der Corona-Expertenrat in seiner am Sonntag mit 19 zu 0 Stimmen beschlossenen Stellungnahme angesichts von Omikron "Handlungsbedarf bereits für die kommenden Tage" festgestellt und "in dieser hochdynamischen Lage... entschlossenes und nachhaltiges politisches Handeln" gefordert hatte.

 

Entsprechend unverständlich war es im Vorfeld der Schaltkonferenz, dass die Regierungschefs einerseits rhetorisch den großen Ernst der Lage anerkannten, trotzdem aber mehrheitlich der Auffassung waren, dass man zu Weihnachten je nach Bundesland noch das Durchfeiern in Clubs und Tanzveranstaltungen erlauben sollte. Insofern war es tatsächlich mutig, dass das RKI dort hineingrätschte, um vielleicht doch noch ein Umdenken zu erreichen. Zumal einige seiner sonstigen Empfehlungen, die über die Bund-Länder-Beschlüsse hinausgehen, in der gegenwärtigen Lage mehr als gerechtfertigt erscheinen: 2G+ auch für Gottesdienste zum Beispiel, die Schließung von Restaurants oder die Testung auch von Geboosterten vor dem Kontakt mit Risikogruppen etwa in Altenheimen.

 

 

Erneut zeigt das RKI eine einseitige Haltung gegenüber den Belangen von Kindern und Jugendlichen

 

Das Robert-Koch-Institut kann nicht davon lassen. Immer wieder aufs Neue stellte es in den vergangenen Monaten die besonders hohen Inzidenzen von zumeist ungeimpften Kindern und Jugendlichen in den Vordergrund seiner Berichte, ohne ausreichend deren Hintergründe zu erläutern, und trug so dazu bei, dass sich eine aufgeregte öffentliche Debatte im Herbst auf die Schulen fokussierte und das wahre Gefährdungspotenzial für die Älteren, die Geimpften komplett unterbelichtet blieb. Obwohl die eigenen RKI-Zahlen belegen, dass im Schnitt weit weniger als zwei Prozent aller ins Krankenhaus eingewiesenen Corona-Infizierten Kinder zwischen 5 und 14 waren – und zuletzt zwei Drittel über 60.

 

Weshalb Schulschließungen fremdnützig vor allem zugunsten Erwachsener wären, die sich durch Impfen und Boostern sogar gegen Omikron recht gut selbst schützen könnten. Hinzu kommt, dass sich die meisten Epidemiologen, Virologen und Kindermediziner inzwischen einig sind, dass die Schließung von Kitas und Schulen wirklich nur das allerletzte und niemals isoliert zu betrachtende Mittel der Pandemiebekämpfung sein darf. Zumal die psychosozialen Folgen geschlossener Bildungseinrichtungen für viele Kinder und Jugendlichen so gravierend ausgefallen sind in diesem Jahr. Kein Wunder, dass der Expertenrat Schulschließungen deshalb nicht gefordert hat, im Gegenteil dazu aber den Satz in seine Stellungnahme schrieb: "Bei allen Entscheidungen müssen die Interessen besonders belasteter und vulnerabler Gruppen, wie beispielsweise Kinder, Jugendliche oder Pflegebedürftige höchste Priorität erhalten." 

 

Doch das RKI verlangt trotzdem gestern, die "Weihnachtsferien" zu "verlängern", einen Euphemismus für Schul- und Kita-Schließungen, und wollte, dass anschließend "Distanz-, Hybrid-, oder Wechselunterricht" geprüft wird. Auch Drinnen-Sport sollte laut RKI untersagt werden, was wiederum vor allem die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen treffen würde. Von einer täglichen Testpflicht am Arbeitsplatz für geimpfte Erwachsene oder der Schließung des Einzelhandels oder von Hotels war dagegen nichts zu lesen in der RKI-Positionierung.

 

 

Die Kommunikation seiner Forderungen ist dem RKI komplett verunglückt

 

Lothar Wieler ist Mitglied im Corona-Expertenrat und hat dessen Votum mit beschlossen. Einen direkten inhaltlichen Widerspruch zum RKI-Papier gibt es nur deshalb nicht, weil der Expertenrat seine politische Beratungsfunktion korrekt ausgeübt und die Abwägung konkreter Einzelmaßnahmen, ihres Nutzens und Schadens, der Politik überlassen hat.

 

Strategisch ist der Widerspruch dadurch umso größer: Während das neue ausschlaggebende Expertengremium seine Rolle begrenzt, macht das RKI mit Wieler einen Tag später einen allumfassenden Alleingang – und desavouiert so nicht nur die Regierungschefs von Bund und Ländern oder den neuen Gesundheitsminister Lauterbach, was die Sache ja sogar wert sein könnte – sondern den neuen Rat gleich dazu. Am meisten aber desavouiert das RKI sich durch sein Dazwischenplatzen in letzter Minute selbst. Weil es die Regierungschefs offenbar nicht vorgewarnt hatte, sondern diese teilweise zuerst über Twitter davon erfuhren. Weil Wielers Vorgehen unter Ratskollegen als Egotrip wahrgenommen wird. Weil es sinnvolle Verschärfungen mit dem Thema Schulschließung überlagert, das politisch und wissenschaftlich zurzeit in keiner Weise konsensfähig ist.

 

Dass die Regierungschefs ihre gestrigen Beschlüsse möglicherweise schon sehr bald werden nachschärfen müssen, ist zu erwarten. Doch die Art und Weise, wie das RKI ihnen vorgegriffen hat, könnte sich am Ende sogar kontraproduktiv auf deren Entschlossenheit auswirken. 

 

 

Drei Schlussfolgerungen am Ende

 

Dass das RKI unabhängiger und mutiger gegenüber der Politik agieren muss, habe ich oft gefordert. Das bedeutet aber auch: strategisch geschickt, vom Ende her gedacht und wissenschaftlich ausgewogen. All das hat das Institut gestern – erneut – nicht geschafft. Was die Umsetzung seiner Forderungen, siehe oben, sogar unwahrscheinlicher macht.

 

Wieler gehört seit längerem abgelöst, um dem RKI eine Chance für einen Neuanfang zu geben. Das hat er gestern noch einmal bestätigt, und das ist für mich Schlussfolgerung eins. Wie dieser Neuanfang aus meiner Sicht aussehen sollte, habe ich vor einigen Wochen beschrieben. 

 

Schlussfolgerung zwei lautet: Mut in der Corona-Krise zu beweisen, ist nicht immer gleichbedeutend mit der Forderung oder Umsetzung maximaler Maßnahmen. Im Gegenteil: Wenn ich sofort alle denkbaren Einschränkungen beschließe, schütze ich mich vor dem gegebenenfalls später kommenden Vorwurf, nicht ALLES gegen hohe Ansteckungs-, Krankheits- und Todeszahlen getan zu haben. So spekulativ der dann auch sein mag. 

 

Wirklich mutig ist in einer Situation wie jetzt, trotz des öffentlichen Drucks von allen Seiten die epidemiologische Wirkung und den gesellschaftlichen Schaden jeder Einschränkung abzuwägen. Und im Zweifel nur einen Teil zu beschließen, den aber umso konsequenter durchzusetzen. Maßnahmen müssen zielgenau sein, sie müssen die erwünschte Wirkung maximieren und den unvermeidbaren Schaden minimieren. Dazu allerdings braucht es ein besseres Wissen über Wirkungen und Schäden. Die, auch das ist eines der großen Defizite des RKI, dieses nie in wissenschaftlich ausreichender Qualität geliefert noch Strategien vorgeschlagen hat, wie sie zu ermitteln sind. 

 

Womit ich bei Schlussfolgerung drei angekommen bin: Mit den von Bund und Ländern gestern beschlossenen Maßnahmen wird sich die wahrscheinlich nahe Omikron-Welle vermutlich nicht brechen lassen. Da wird mehr kommen müssen. Doch wenn Gesundheitsminister Lauterbach nach der Regierungschef-Schalte betonte, es dürfe nach Weihnachten keine "rote Linien" geben, wird in dieser Plattitüde die Ratlosigkeit von Politik deutlich. Und sie ist durch die RKI-Intervention nicht kleiner geworden, sondern größer. 



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Kommentare: 3
  • #1

    DB (Mittwoch, 22 Dezember 2021 10:48)

    Lieber Herr Wiarda,
    danke für Ihre großartige Berichterstattung und Analysen. Ich beschränke meinen Medienkonsum zum C-Thema zwischenzeitlich ausschließlich auf Ihren Blog, da ich die unausgewogene und im Dauerpanikmodus gehaltene Berichterstattung auf den anderen Kanälen nicht mehr ertrage. Wenn nur alle so einen kühlen Kopf wie Sie behalten würden, kämen wir besser durch die kommenden Wochen und Monate. Machen Sie so weiter!
    Und schöne Weihnachtsfeiertage und einen guten Rutsch!

  • #2

    Gerhard Mühsam (Mittwoch, 22 Dezember 2021 15:15)

    @DB: Dito.

  • #3

    Gerd Faulhaber (Mittwoch, 22 Dezember 2021 17:21)

    Lieber Herr Wiarda,
    den wunderbaren Worten meines Vorredners (DB) schließe ich mich voll an. Besser kann man es nicht auf den Punkt bringen.
    Herzliche Grüße und erholsame Weihnachtstage.