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Eine schnelle Stimme der Vernunft

Die Leopoldina zeigt, wie Forscher aktuelle gesellschaftliche Debatten mit prägen können. Dafür muss die Wissenschaft bereit sein, neue Wege zu gehen.

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Artikelbild: Eine schnelle Stimme der Vernunft

Blick auf die Leopoldina in Halle, SaaleFoto: Rotesdiadem / wiki - CC BY-SA 3.0

DIE PRESSEKONFERENZ war perfekt getimt. "Wie gefährlich wird das neue Coronavirus?", fragten Leopoldina und das Science Media Center mitten in die täglichen Meldungen neuer Infektions-Höchststände und Quarantäne-Maßnahmen hinein. Doch anstatt die Hysterie anzuheizen, lieferten die Experten den Journalisten die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse, fundierte Analysen und vor allem: die dringend nötige Versachlichung. Kein Wunder. Auf dem Podium saßen einige der besten forschenden Mediziner Deutschlands.

Die 1652 gegründete Leopoldina, seit 2008 zur Nationalen Akademie der Wissenschaften erhoben, ist ein exklusiver Club herausragender Forscher, doch wie das mit altehrwürdigen Institutionen so ist, die großartige Tradition ist manchmal Fluch und Segen zugleich. Segen, weil die schlausten Köpfe zusammenkommen, um die Politik und Gesellschaft zu wichtigen gesellschaftlichen Zukunftsthemen zu beraten, unabhängig und empiriebasiert.

Fluch, weil die Akademie als überaltert kritisiert wird, immer noch überwiegend männliche Mitglieder hat und ihre Seriösität in der Vergangenheit manchmal mit einer gewissen Schwerfälligkeit erkauft hat. Anders formuliert: Manche brillante, abgewogene und interdisziplinäre Stellungnahme zu vormals heiß diskutierten Themen kam mit einer so großen Verzögerung, dass sie nicht mehr die öffentliche Aufmerksamkeit erzielte, die sie inhaltlich verdient gehabt hätte.

Einfluss nehmen, wenn es brennt

Der langjährige Leopoldina-Präsident Jörg Hacker hatte die Probleme erkannt und den Wandel eingeleitet: hin zu einer größeren Vielfalt der Akademie-Mitglieder, hin zu mehr sogenannten Adhoc-Stellungnahmen – kürzere, schneller verfasste Positionspapiere der jeweils eingesetzten Wissenschaftler-Arbeitsgruppe. Hackers Nachfolger, der Paläoklimatologe Gerald Haug, will den Wandel nun beschleunigen. "Entscheidend ist, dass man zum richtigen Zeitpunkt Einfluss nimmt", sagte er der Süddeutschen Zeitung. "Wenn es brennt und die Politik die Stimme der Wissenschaft braucht."

Das heißt: häufiger Adhoc-Stellungnahmen. Doch auch die haben ihre Grenzen. Zum Beispiel veröffentlichte die Leopoldina ihr richtungsweisendes Gutachten zum Stickoxid-Risiko für ihre Verhältnisse bereits enorm kurzfristig – aber doch mehr als zwei Monate nach dem Höhepunkt der durch einen zweifelhaften Aufruf von 112 Lungenärzten los getretenen Debatte.

Die Corona-Pressekonferenz, eine Premiere in der Zusammenarbeit mit dem Science Media Center, war der Versuch, wenn es darauf ankommt, noch schneller zu sein. Alles in allem vielleicht doch ein zu großes Zugeständnis an den von Social-Media-Happen und Eilmeldungen geprägten Zeitgeist?

Wohl eher der Griff der Wissenschaft nach der medialen Deutungshoheit. Wissenschaftliche Gutachten können und sollen solche Briefings nicht ersetzen, doch das enormes Medienecho zeigt, wie agil Wissenschaft sein kann.

Ein selbstbewusster (und dabei keineswegs selbstloser!) Ausdruck der Erkenntnis, dass sich Wissenschaft, die ihre öffentliche Finanzierung sichern will, der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie nicht entziehen kann. Gerald Haug, so scheint es, hat das erkannt. Dem Standing der Leopoldina und der Wissenschaft insgesamt kann das nur nützen.

Dieser Kommentar erschien heute zuerst im ZEIT-Newsletter Wissen3.

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