Direkt zum Inhalt

Die vorerst letzte Chance, es richtig zu machen

Es war richtig, dass Merkel und die Ministerpräsidenten ihr nächstes Corona-Krisentreffen vorverlegt haben. Denn angesichts absehbar sinkender Infektionszahlen ist es erstmal die letzte Gelegenheit zur Verschärfung. Rechtfertigen lässt sich diese aber nur, wenn die Regierungschefs gleichzeitig ein langfristiges Pandemiekonzept beschließen – inklusive der Aussicht auf Lockerungen.

Bild
Artikelbild: Die vorerst letzte Chance, es richtig zu machen

Bild: congerdesign / Pixabay.

WARUM DIE REGIERUNGSCHEFS von Bund und Ländern ihr nächstes Corona-Krisentreffen um eine Woche auf den morgigen Dienstag vorverlegt haben? Aus drei Gründen: Weil die erstmals in Großbritannien entdeckte Virusmutation "b.1.1.7" und weitere Varianten unter anderem aus Südafrika ihnen zu Recht Sorge bereiten. Weil ihnen zweitens vor diesem Hintergrund die Halbherzigkeit ihrer eigenen Beschlüsse vom 5. Januar bewusst geworden ist. Und schließlich – und das mag als Grund überraschen: weil die bislang getroffenen Maßnahmen offenbar trotzdem ziemlich gut wirken. Merkel & Co wissen: Warten sie noch eine Woche, könnte sich das gesellschaftliche Klima angesichts spürbar gesunkener Infektionszahlen so weit gedreht haben, dass weitere Verschärfungen nicht mehr vermittelbar wären.

Es ist möglich, dass die britische Virusvariante längst auch in Deutschland weit verbreitet ist. Dass dies die Erklärung dafür ist, warum sich die gemeldeten Neuinfektionen im Teil-Lockdown erst abflachten, um dann plötzlich wieder in einen steilen Anstieg überzugehen. Wäre die Mutation mit ihrer offenbar um 30 bis 50 Prozent höheren Reproduktionsrate auch hierzulande bereits fester Teil des Infektionsgeschehens, wäre es umso bemerkenswerter, dass dessen Dynamik vermutlich schon seit Weihnachten mit zunehmendem Tempo nachlässt. Und es würde dafür sprechen, dass der seit Mitte Dezember geltende härtere Shutdown entgegen der landläufigen Meinung tatsächlich erfolgreich verläuft.

Doch weil Deutschland anders als Großbritannien bislang kaum sequenziert, weil es hierzulande noch dazu und im Gegensatz zum Vereinigten Königreich keine regelmäßigen repräsentativen Samples zum Infektionsgeschehen gibt, bleiben an der Stelle nur Mutmaßungen und der Blindflug der offiziellen Meldezahlen.

Dass dies so ist, gehört übrigens zu den schmerzhaftesten Versäumnissen der deutschen Corona-Politik. Dazu demnächst mehr. >>


Kostenfreien Newsletter abonnieren

>> In jedem Fall wird spät, aber doch jeden Tag deutlicher absehbar, dass die 7-Tages-Inzidenzen (die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner und Woche) weiter stark zurückgehen werden. Auch werden bereits jetzt erheblich weniger Corona-Kranke auf die Intensivstationen verlegt, und die düstere Verstorbenenstatistik beginnt sich ein wenig aufzuhellen.

Die im Dezember gemachten Fehler korrigieren

Indem die Regierungschefs ihre Sitzung vorverlegen, indem sie entscheiden, bevor sich die gesellschaftliche Stimmung dreht, halten sie sich also die letzte Gelegenheit offen, ihre seit Mitte Dezember gemachten Fehler zu korrigieren. Damals haben sie die Eindämmungsmaßnahmen einseitig zulasten von Kindern und Jugendlichen verschärft, zugleich aber versäumt, die Erwachsenen ähnlich in die Pflicht zu nehmen.

Auch Anfang Januar sind sie noch vor einer Homeoffice-Pflicht für alle, wo es möglich ist, zurückgeschreckt. Sie haben die Gottesdienste weiterlaufen lassen. Sie haben mit viel Mediengetöse eine "15-Kilometer-Leine" eingeführt, die absehbar nicht wirkt, weil sie erstens kaum durchsetzbar ist und zweitens kaum noch irgendwo in Kraft treten wird, wenn in den meisten Kreisen die als Geltungsuntergrenze festgelegte 200-Inzidenz unterschritten wird.

Und – womöglich am schlimmsten – sie haben die Alten- und Pflegeheime weiter nicht mutig genügend geschützt, indem sie für alle Besucher überall eine Testpflicht verordnet haben. Dass zudem die Impfungen so stockend losgegangen sind, dass längst noch nicht alle Heimbewohner von ihnen erfasst wurden, geschweige denn alle Über-80-Jährige insgesamt und auch nicht alle Pflegekräfte (von denen leider zu wenige sich freiwillig impfen lassen wollen), ist dramatisch und kann nur als Versagen der deutschen und europäischen Corona-Politik gedeutet werden.

Dies soll aber nicht nur ein Text über die Verfehlungen der Regierungschefs sein. Es ist wohlfeil für einen Beobachter, immer nur zu sagen, was schlecht gelaufen ist und was nicht geht. Die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten haben es jetzt in der Hand. Sie sollten wegen des Risikos der Virusmutationen an den richtigen Stellen nachschärfen. Aber ganz wichtig: ohne Aktionismus und ohne Hektik. Und wenn sie wollen, dass ihre Beschlüsse gesellschaftliche Akzeptanz entfalten, müssen sie zugleich eine Perspektive für die nächsten Monate aufzeigen. Ab wann wo welche Lockerungen gelten werden.

Welche Nachschärfungen sinnvoll erscheinen und welche nicht

Zunächst zu den Nachschärfungen: Eine Pflicht zur Nutzung von FFP2-Masken im öffentlichen Raum ist noch genauso sinnvoll, wie sie schon vor Monaten gewesen wäre. Doch scheint nun endlich auch das Angebot so groß zu sein, dass die Politik sich zu diesem Schritt traut. Allerdings muss sie, damit hier keine auch pandemisch gefährliche soziale Spaltung entsteht, die Finanzierung für alle Bevölkerungsgruppen sicherstellen. Das ist immer noch wesentlich günstiger für die öffentlichen Finanzen als fortgesetzt hohe Infektionszahlen. Genauso übrigens wie ein endlich mutiger Ausbau von Schnelltests, die dringende Voraussetzung sind, um sobald wie möglich zu den ersten Lockerungen zu kommen und als erstes die Bildungseinrichtungen wiederzubeleben.

Über die Sinnhaftigkeit, ja die Verpflichtung der Politik, endlich die Arbeitgeber stärker in die Pflicht zu nehmen – indem sie begründen müssen, warum welche Arbeitnehmer nicht zu Hause arbeiten dürfen – hätte eigentlich schon im Dezember nicht mehr diskutiert werden dürfen. Und jetzt noch weniger.

Was nicht ginge, ja absolut daneben wäre: Auf diese und weitere sinnvolle Maßnahmen zu verzichten, weil man vor allem den Konflikt mit den Arbeitgebern scheut – und stattdessen erneut die Kinder, Jugendlichen und Familien zu belasten, etwa indem der Umfang der (Not-)Betreuung an Kitas und Schulen begrenzt wird.

Sinnvoll, allerdings wohl begrenzt in ihrer Wirkung, wäre eine klare und einfach verständliche nächtliche Ausgangssperre für alle – mit nur sehr wenigen unverzichtbaren Ausnahmen. Immerhin wäre sie anders als eine weitere Kontaktbeschränkung praktisch durchsetzbar, was ihrer Akzeptanz helfen würde.

Andere Pseudo-Maßnahmen wie die Einstellung des öffentlichen Personennahverkehrs scheinen zum Glück bereits vom Tisch zu sein. Es bleibt also die Hoffnung, dass die neuen Beschlüsse von Mut und Weitsicht geprägt sind und nicht von der Angst, bloß nicht tatenlos auszusehen.

Die Gegenleistung für härtere Maßnahmen ist ein langfristiges Pandemiekonzept

Es ist die vorerst letzte Gelegenheit für die Regierungschefs zur Verschärfung, und auch deren Akzeptanz wird, eben weil die Infektionszahlen glücklicherweise sinken und immer mehr Menschen es merken werden, eine Gegenleistung der Politik erfordern. Ein langfristiges Pandemiekonzept. Konkret: Die Politik muss genau ausformulieren, wie es nach den jetzigen Maßnahmen weitergeht. Sie muss endlich einen in sich stimmigen gesellschaftlichen Stufenplan liefern.

Ein solcher Stufenplan würde beschreiben, ab welchen Inzidenzen es zu Lockerungen kommt, er würde Prioritäten für die Öffnung gesellschaftlicher Bereiche setzen und in beide Richtungen gelten. Unterhalb bestimmter Schwellenwerte weniger Maßnahmen, oberhalb mehr Einschränkungen.

Ihn zu beschließen, wäre eine politischer Kraftakt. Doch er würde Politik und Gesellschaft gleichermaßen nützen. Der Politik, weil sie sich nicht atemlos von einer Krisenrunde zur nächsten hangeln würde. Weil ein Automatismus der Lockerungen und Verschärfungen ihr Luft geben würde, um längerfristig zu agieren und zu planen – vor allem einen Aufbruch beim Impfen und Testen. Und das Durchsetzen der bestehenden Maßnahmen.

Und die Gesellschaft wiederum verlöre ein Stückweit ihr Gefühl der Ohnmacht. Die meisten Menschen bemühen sich wirklich, sich einzuschränken – doch als Belohnung erhalten sie gefühlt immer neue Einschränkungen. Wüssten sie nun, ab welchen Inzidenzen sie welche Bereiche ihres Lebens zurückerhalten, wäre das nicht nur ein Anreiz zum Durchhalten. Es würde es ihnen auch leichter machen, die Beschlüsse der Politik zu akzeptieren. Und indem die Politik eindeutig sagt, wann Kitas und Schulen, wann der Einzelhandel, die Restaurants oder die Kultur dran sind, würden auch viele der immer neuen und oft fruchtlosen Debatten über diese Frage entfallen.

Merkel und die Ministerpräsidenten haben es in der Hand. Nach all dem Flickwerk wäre es jetzt Zeit für den großen Wurf, die Kombination von ruhig überlegter Verschärfung und mutig formulierter Perspektive. Klingt unrealistisch? Noch unrealistischer ist, noch Wochen um Wochen so wie bisher weiterzuwursteln.


Möchten Sie diesen Blog unterstützen?

Ein Stufenplan für die Pandemie

Die Menschen brauchen inmitten der Corona-Maßnahmen eine Perspektive, und die Politik muss herauskommen aus dem Krisen-Treffenmodus. Ein Vorschlag für ein langfristiges Pandemiekonzept – und einen Stufenplan für alle Lebensbereiche. (18. Januar 2021)

Kommentare

Neuen Kommentar hinzufügen

Ihr E-Mail Adresse (wird nicht veröffentlicht, aber für Rückfragen erforderlich)
Ich bin kein Roboter
Geben Sie die Zeichen ein, die im Bild gezeigt werden.
Diese Sicherheitsfrage überprüft, ob Sie ein menschlicher Besucher sind und verhindert automatisches Spamming.

Vorherige Beiträge in dieser Kategorie


  • Ein Stufenplan für die Pandemie

Ein Stufenplan für die Pandemie

Die Menschen brauchen inmitten der Corona-Maßnahmen eine Perspektive, und die Politik muss herauskommen aus dem Modus immer neuer Krisentreffen. Ein Vorschlag für ein langfristiges Pandemiekonzept – und einen Stufenplan für alle Lebensbereiche.


  • allgemeines Artikelbild - Der Wiarda Blog

Bitte nicht die Panik zum Ratgeber machen

Alle Corona-Maßnahmen verpuffen? Wenn man die vorhandenen Zahlen genauer anschaut, sieht man: Die Trendwende war vermutlich längst da. Es gibt neben all der Sorge also auch ein bisschen Grund zur Hoffnung.


  • Die allzu einfache Geschichte vom Versagen der Kultusminister

Die allzu einfache Geschichte vom Versagen der Kultusminister

Die Kitas und Schulen sollten in der zweiten Welle offenbleiben: Im Sommer hatten das fast alle Spitzenpolitiker versprochen. Doch im Gegensatz zu ihren Regierungschefs wollten die Kultusminister nicht wortbrüchig werden – und werden genau dafür jetzt gebasht. Eine Analyse am Tag der KMK-Präsidentschaftsübergabe.


Nachfolgende Beiträge in dieser Kategorie


  • allgemeines Artikelbild - Der Wiarda Blog

Ohne Fokus, ohne Perspektive

Die Regierungschefs beschließen mehr Adhoc-Maßnahmen, offenbaren dabei erneut eine zweifelhafte Prioritätensetzung – und bleiben die langfristige Perspektive schuldig.


  • allgemeines Artikelbild - Der Wiarda Blog

Der Digitalpakt wächst weiter, doch das Geld fließt nur zögerlich

Nach der letzten Länderunterschrift startet endlich auch das 500-Millionen-Programm für Lehrerlaptops. Ebenfalls seit Jahresbeginn am Start: ein Programm für Schulen in sozial schwierigen Wohnvierteln.


  • allgemeines Artikelbild - Der Wiarda Blog

Könnte es so gehen?

Schleswig-Holstein legt einen Corona-Stufenplan für alle gesellschaftlichen Bereiche vor. Eine besondere Rolle darin spielen Kitas und Schulen. Der Ministerpräsident sieht das Konzept auch als ein Diskussionsangebot an den Rest der Republik.