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Bildungspolitische Ignoranz

Dass beruflich Qualifizierte offiziell nicht als Studienberechtigte gezählt werden, ist mehr als nur ein blinder Fleck in der Statistik.

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Artikelbild: Bildungspolitische Ignoranz

Illustration: Mohamed Hassan / Pixabay.

DAS CENTRUM FÜR HOCHSCHULENTWICKLUNG (CHE) hat ausgerechnet, wie viele Menschen in Deutschland tatsächlich studienberechtigt sind. Und das Ergebnis ist nicht nur eine Zahl, es ist eine Aufforderung. An die Bildungspolitik, an die Schulen und Universitäten, an uns alle.

Nicht etwa 47 Prozent, wie das Statistische Bundesamt angibt, sondern an die 80 Prozent der Menschen in Deutschland dürfen sich dem CHE zufolge an einer Hochschule einschreiben. Ein enormer Unterschied, der die einst so elitäre Studienberechtigung (1950 hatten sie etwa fünf Prozent) zum Normalfall machen würde.

Wie aber kommen die CHE-Hochschulforscherinnen Sigrun Nickel und Anna-Lena Thiele überhaupt auf ihre Zahl? Die Antwort ist so simpel, dass es überrascht, dass die 80 Prozent nicht längst bildungspolitisches Alltagswissen sind.

Zu den 47 Prozent, die 2020 ihr Abi oder Fachabi gemacht haben, muss man zum Beispiel all jene rechnen, die ohne Abi eine Ausbildung machen, einen Meister draufsatteln und dadurch ebenfalls, oft ganz ohne Auflagen, studienberechtigt sind. Oder die nach ihrer Ausbildung mehrere Jahre arbeiten und sich dann um einen Studienplatz bewerben können. Die Forscherinnen geben ihren Anteil insgesamt mit weiteren gut 30 Prozent an.

Die Differenz ist mehr als "ein blinder Fleck in der offiziellen Statistik" der Studienberechtigten, als die das CHE sie bezeichnet. Es ist eine bildungspolitische Ignoranz, die gesellschaftliche Folgen hat. Zum Beispiel die, dass es in Deutschland keinerlei Debatten darüber gibt, dass weitere 30 Prozent eines Altersjahrgangs das Recht zum Studieren haben, sie aber nur rund drei Prozent der Erstsemester stellen. Viele von ihnen werden nicht studieren wollen. Viele aber werden gar nicht wissen, dass sie es könnten, weil es ihnen keiner sagt und weil in der Öffentlichkeit keiner darüber redet.

Die Antwort liegt in der Verklärung des Gymnasiums

Solange die Zahl nicht offiziell erhoben wird, müssen auch die Hochschulen sich nicht allzu sehr mit der Frage konfrontieren, wie es ihnen gelingt, mehr beruflich Qualifizierte für ein Studium zu gewinnen – und dann erfolgreich zum Abschluss zu führen. Obwohl alle Sonntagsreden vom lebensbegleitenden Lernen, von mehr Bildungsgerechtigkeit und von der Durchlässigkeit unseres Bildungssystems genau das bedeuten würden.

Woher die Ignoranz kommt? Die Antwort liegt vermutlich in der Verklärung, die "das Gymnasium" als vorakademische Bildungsinstitution und das gymnasiale Abitur als "Allgemeine Hochschulreife" bis heute erfahren. Die übrigens auch der Grund ist, dass die Emotionen in bildungsbürgerlichen Kreisen stets hochfliegen, sobald über G8 versus G9 diskutiert wird, über eine mögliche Verlängerung der Grundschule – oder gar über eine Gleichbehandlung des Gymnasiums mit anderen Oberschulformen (bei den Gehältern der Lehrkräfte zum Beispiel). Daran hat auch nichts geändert, dass die Hochschulreife seit Jahrzehnten anderswo erworben werden kann, auch an beruflichen Schulen.

Vielleicht würde eine neue, ehrlichere Studienberechtigten-Statistik das schaffen. Auf jeden Fall wäre sie, wie das CHE schreibt, ein erster Schritt, das Lagerdenken zwischen beruflicher und akademischer Bildung zu überwinden. Und sie würde uns allen bewusst machen: Die Bildungskarrieren von heute könnten viel bunter sein. Wenn wir es nur wollen.

Dieser Kommentar erschien heute zuerst im Newsletter ZEIT Wissen Drei.

Kommentare

#1 -

na ja | Mo., 14.03.2022 - 10:08
Im Text heisst es "Es ist eine bildungspolitische Ignoranz, die gesellschaftliche Folgen hat. Zum Beispiel die, dass es in Deutschland keinerlei Debatten darüber gibt, dass weitere 30 Prozent eines Altersjahrgangs das Recht zum Studieren haben, sie aber rund drei Prozent der Erstsemester stellen."

Hmm. Die gesellschaftliche Folge besteht also darin, dass es keine Debatte gibt? Na, das wird die Gesellschaft wohl überleben.

Warum, um Himmels willen, sollte jemand, der einen Meister hat und einen Handwerksbetrieb leitet, unbedingt noch studieren? Was genau verpasst er da? Vielleicht sollte man die Handwerksmeister einmal fragen, warum sie nicht studieren, bevor man diesen Umstand fuer negativ hält.

#2 -

Klaus Diepold | Mo., 14.03.2022 - 10:37
Ein ergänzender Aspekt mag sein, dass selbst in den Hochschulen das Wissen über diese Form des Studienzugangs nicht allgemein bekannt ist. Die Bedürnisse dieser Studienanfänger werden im Rahmen der Einstiegsphase für ein Studium kaum Berücksichtigung finden.

Ich frage mich, wie sich das für einen Menschen anfühlt, wenn er/sie im erlernten Beruf die höchsten Weihen erhalten hat, z.B. in Form eines Meisters, um sich dann im Rahmen eines Bachelorstudiums wieder ganz hinten anzustellen und als "Ersti" anzufangen.

Umgekehrt ist es auch ein interessantes Gedankenspiel, sich vorzustellen dass ein promovierte:r Wissenschaftler:in in einer gewerblichen Ausbildung als "Lehrling" anfangen müsste.

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