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"Ich bin tief erschüttert"

Die Untersuchungskommission hat ihren Bericht im Fall Wittchen vorgelegt. Demnach sollen sich die Vorwürfe massiver Datenmanipulationen und weiterer wissenschaftlicher Verfehlungen gegen den bekannten Psychologieprofessor bestätigt haben. Welche Konsequenzen zieht die TU Dresden – für Hans-Ulrich Wittchen und für sich selbst? Rektorin Ursula M. Staudinger im Interview.

Ursula M. Staudinger. Fotos: TU Dresden / Robert Lohse.

Frau Staudinger, fast zwei Jahre lang hat eine Kommission unter dem Vorsitz des Hamburger Juristen Hans-Heinrich Trute die erstmals im Frühjahr 2019 erhobenen Vorwürfe gegen Hans-Ulrich Wittchen untersucht. Der Psychologieprofessor soll umfangreiche Studiendaten manipuliert haben und später versucht haben, die mutmaßlichen Vergehen zu verschleiern und ihre Aufklärung zu behindern. Wittchen gehörte über viele Jahre zu den ausgewiesendsten Vertretern seines Fachs und zu den einflussreichsten Wissenschaftlern der TU Dresden. Jetzt liegt das Untersuchungsergebnis der Kommission vor. Als wie dramatisch schätzen Sie es ein?

 

Ich bin tief erschüttert. Dasselbe gilt für alle Mitglieder meines Rektorats. Wir haben auf der Basis des Untersuchungsberichtes, der selbst nicht rechtsfähig ist, unseren Rechtsanwalt mit der Prüfung rechtlicher Schritte beauftragt, und zwar dienst-, zivil- und strafrechtlich. 

 

Welche Punkte im Bericht haben Sie besonders erschüttert?

 

Nicht einzelne Punkte, sondern die bemerkenswerte, außergewöhnliche, ja unerhörte Konstellation von Verfehlungen. Von den anfänglichen Täuschungen und Datenmanipulationen über die offensichtlichen Bemühungen, diese vor der drohenden Untersuchung zu vertuschen, bis hin zu Bemühungen, die Arbeit der Kommission zu verkomplizieren und zu verlangsamen, wo immer es ging. Ich bin froh, dass die Kommission sich nicht hat beirren lassen und auch durch das Hinzuziehen externer Experten für statistische Methoden zu dem eindeutigen Ergebnis kommen konnte, dass die Daten einiger Kliniken tatsächlich dupliziert wurden, um einen größeren Datensatz in der Untersuchung vorzugaukeln.

 

Sie spielen auf den Kernvorwurf der Kommission an. Wittchen sollte mit seinem Team im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) die Personalausstattung in den deutschen psychiatrischen Kliniken untersuchen und außerdem die Arbeitsbelastung der Mitarbeiter – um auf diese Weise eine empirische Grundlage zu schaffen für die künftige Personalausstattung der Kliniken. Doch sollen anders als in der Studienendfassung angegeben nicht 93, sondern lediglich 73 Kliniken tatsächlich besucht worden sein. Beim Rest sei es unter anderem zu den von Ihnen angesprochenen Datenmanipulationen gekommen, berichtet die Kommission. Wittchen habe auch Mitarbeiter dazu gedrängt. Er soll aber auch Recherchen der ZEIT zufolge Gelder aus dem Forschungsprojekt zweckentfremdet haben. So soll er einen zweifelhaften Arbeitsvertrag mit seiner eigenen Tochter geschlossen haben, die Projektmitarbeiter nach eigenen Angaben nie zu sehen bekommen hätten, die aber dennoch insgesamt mehr als 40.000 Euro erhalten haben soll. Können Sie diesen Vorwurf bestätigen?

 

Wir haben leider eine komplizierte Gemengelage. Die Studie wurde unter dem Dach der GWT durchgeführt, der "Gesellschaft für Wissens- und Technologietransfer", die wiederum eine Tochtergesellschaft der TU Dresden AG ist. Als Universität liegen uns deshalb die betreffenden Belege und die Abrechnungen nicht direkt vor. Ich habe jedoch direkt nach Vorliegen des Berichtes den GWT-Geschäftsführer gebeten, umgehend diesen ja auch im Bericht der Untersuchungskommission genannten Auffälligkeiten nachzugehen und sie lückenlos aufzuklären.

 

Laut ZEIT soll Wittchen auch private Reisen über das Projekt abgerechnet haben unter dem falschen Vorwand, an Konferenzen und Workshops teilgenommen zu haben. Zudem habe er private Essen als Arbeitsessen abgerechnet. Stimmt das?

 

Auch hierzu liegen die Abrechnungsunterlagen bei der GWT. Ich gehe davon aus, dass dort, während wir sprechen, die Nachforschungen dazu anlaufen.



Die Kommission berichtet auch von mindestens einem bestätigten Fall manipulierter E-Mails und Teilnahme- und Einwilligungserklärungen. Dieser Fall sei so eklatant und schwerwiegend, dass es naheliege, "auch eine strafrechtliche Verantwortlichkeit zu überprüfen". Werden Sie als Konsequenz noch einmal systematisch alle Unterschriften auf den eingereichten Teilnahme- und Einwilligungserklärungen der Studienteilnehmer auf ihre Echtheit untersuchen lassen?  

 

Genau dieser Hinweis, der auf den Tatbestand der Urkundenfälschung hindeutet, war es ja, der uns bereits dazu veranlasst hat, besagte strafrechtliche Prüfung einzuleiten. Was die Überprüfung der betreffenden Dokumente angeht, so liegen diese wiederum bei der GWT. Ich kann aber bestätigen, dass die GWT schon, als die Untersuchungskommission eingesetzt wurde, Prüfungsunternehmen beauftragt hat. Und ich gehe davon aus, dass zu dessen Aufgaben auch die Überprüfung aller Unterschriften gehörte. 

 

"Wissenschaftliche Redlichkeit kennt kein Alter und keine Prominenz. Und an der TU Dresden führt kein Weg daran vorbei, alles, was geschehen ist, sorgfältig aufzuarbeiten und zu dokumentieren."

 

Wie konnten mutmaßliche Regelverstöße dieser Größenordnung überhaupt so lange unerkannt bleiben? Die ZEIT verweist darauf, dass Wittchen, einer der meistzitierten Forscher seines Fachs, zum Beispiel Mitglied im Kern-Arbeitsteam der Bewerbung Dresdens als Exzellenzuniversität 2012 gewesen sei. Hat die TU ihm wegen seines großen Einflusses zu lange in Ruhe gelassen?

 

Ich habe das Amt als Rektorin im August 2020 angetreten und sehe mich daher nicht in der Lage, über Dinge zu urteilen oder zu sprechen, die vor diesem Zeitpunkt liegen. Ich möchte aber betonen: Wissenschaftliche Redlichkeit kennt kein Alter und keine Prominenz. Entweder man hat sie oder man hat sie nicht. Und an der TU Dresden führt kein Weg daran vorbei, alles, was geschehen ist, sorgfältig aufzuarbeiten und zu dokumentieren. Wir müssen zeigen, dass Exzellenz beides bedeutet: herausragende wissenschaftliche Arbeit und als ihre Grundlage ein Wertekanon, der nicht nur auf dem Papier stehen darf, sondern von allen Mitgliedern der Universität täglich gelebt werden soll. Als Rektorat wollen wir Hüter dieses Verständnisses von Exzellenz sein.  

 

Gehört dazu aber nicht auch eine Antwort auf die Frage, ob die alle Verantwortlichen an der Universität früh und entschlossen genug gehandelt haben? 

 

Ich habe keinen Hinweis darauf, dass die Universität nicht unmittelbar gehandelt hat, als die ersten Beschwerden ruchbar wurden, zunächst über die Fakultät und dann über die Ombudsperson der Universität. Es wurde schnell erkannt, dass die Vorwürfe gravierend und stichhaltig waren. Dass Rektorat unter der Führung meines Vorgängers hat dann sehr zeitnah die Untersuchungskommission eingesetzt.

 

Sie sagen: Die Universität habe schnell reagiert. Die Untersuchungskommission listet freilich Berichte auf, denen zufolge es im Projektverlauf wiederholt zu "Brüllen und Tränen" gekommen sei, von Wutausbrüchen Wittchens und Beleidigungen ist die Rede. Mitarbeiter seien verängstigt gewesen. Hätte da nicht früher etwas auffallen müssen? 

 

Ich kann nur sagen: Unser Rektorat, ich als Rektorin, wir tolerieren an der TU Dresden keinerlei Form von Mobbing, Belästigung, Diskriminierung oder einer feindseligen Arbeitsatmosphäre. Und wir ziehen unsere Schlussfolgerungen aus dem Fall. Dazu gehört auch ein neues Projekt zur Führungskultur, das bereits angelaufen ist.

 

Bitte erläutern Sie zunächst die Konsequenzen für Herrn Wittchen.

 

Über die rechtlichen Konsequenzen kann ich noch nichts sagen, da wir diese wie gesagt gerade prüfen. Was die akademischen Konsequenzen angeht, übertragen wir gerade alle laufenden Promotionsverfahren, bei denen der beschuldigte Kollege als Betreuer fungierte, an neue Betreuungspersonen. Wir wollen sicherstellen, dass die Promovierenden nicht die Leidtragenden sind. Sie sollen alle Unterstützung erhalten, die sie brauchen. Auf meine Bitte hin hat die universitäre Ombudsperson zusätzlich allen Mitarbeitenden in der Fakultät niedrigeschwellige Gesprächsangebote gemacht. Und schließlich sind wir dabei, eine eigene Hochschulambulanz für die Ausbildung von Psychotherapeuten in Verantwortung der TU Dresden aufzubauen. Bislang war diese leider ausgelagert. 

 

Weiß Herr Wittchen eigentlich, dass Sie heute zu seinem Fall Auskunft geben, und haben Sie ihn eingeladen, ebenfalls der Presse Rede und Antwort zu stehen?

 

Wir hatten keinen Kontakt mit Herrn Wittchen. Ich gehe davon aus, dass Herr Wittchen selbst das Gespräch mit der Presse sucht, wenn er dies wünscht. Mein Fokus liegt auf der TU Dresden und dass wir als Rektorat signalisieren, dass wir unseren Mitarbeitern vertrauen, die jeden Tag wissenschaftlich redlich an neuen Erkenntnissen und bester Forschung arbeiten. 

 

"Compliance ist ein Begriff, den wir aus DAX-Unternehmen kennen, wo er – aus traurigem Anlass – zum Alltag geworden ist. Mir scheint, in diese Richtung bewegen wir uns jetzt auch in der Wissenschaft." 

 

Welche Konsequenzen ziehen Sie aus dem Fall Wittchen für die TU Dresden als Ganzes und für ihren Umgang mit künftigen Fällen dieser Dimension?

 

Schon das ehemalige Rektorat hatte an der TU Dresden ein Compliance-System aufgebaut, das werden wir jetzt schärfen und weiter ausbauen. Wir wollen es transparenter gestalten und leichter zugänglich. Compliance ist für die Wissenschaft ja noch ein recht neuer Begriff, den wir bislang stärker aus DAX-Unternehmen kennen, wo er – ebenfalls aus traurigem Anlass – zum Alltag geworden ist. Mir scheint, in diese Richtung bewegen wir uns jetzt auch in der Wissenschaft. 

 

Was meinen Sie damit konkret?

 

Unser Compliance-System hat drei Säulen. Die erste ist die gute wissenschaftliche Praxis. Hier haben wir unsere diesbezügliche Satzung gerade überarbeitet, der Senat hat sie im Dezember verabschiedet. Zu den wesentlichen Neuerungen gehört, dass wir ein Trainingssystem etablieren werden. Jedes Mitglied unserer Universität, das forscht, wird künftig einmal im Jahr an einer Schulung teilnehmen müssen.

 

Das wird bestimmt Begeisterung auslösen.

 

Ich gebe zu, als ich Vergleichbares zum ersten Mal als neu berufene Professorin an der Columbia University, einer Ivy-League-Einrichtung, kennengelernt habe, war ich ebenfalls skeptisch. Da hieß es: Entweder machst du dieses Online-Training und beantwortest die Testfragen, oder wir stellen deinen Mail-Account ab. Das hat bei mir doch Widerwillen ausgelöst. Bis ich bemerkt habe, wie hilfreich das Training war, um anhand konkreter Fallbeispiele die Grenzen der Redlichkeit vor Augen geführt zu bekommen. Als kleine Erinnerungsstütze, worum es eigentlich geht bei guter wissenschaftlicher Praxis. Im Alltag schleifen sich viele Dinge leicht ab. Jetzt ist es mir als Rektorin ein Anliegen, auch in Dresden Vergleichbares einzuführen. Sie wissen, wie lange manchmal Veränderungen an großen Universitäten dauern. Wir müssen das schnell in die Fläche bekommen. Doch umfasst die Säule „"gute wissenschaftliche Praxis" noch mehr.

 

Nämlich?

 

Bei Promotionsverfahren werden künftig immer zwei Personen gleichberechtigt die Betreuung übernehmen. Außerdem werden wir noch in diesem Jahr ein elektronisches Beschwerdesystem einführen, das die Schwelle für Betroffene noch niedriger ansetzt, weil die ersten Meldungen möglichen wissenschaftlichen Fehlverhaltens komplett anonym erfolgen können, um dann nach einer Vorprüfung durch die Ombudsperson eventuell weiter bearbeitet zu werden. 

 

Sie sprachen noch von zwei weiteren Säulen des Compliance-Systems.

 

Die zweite ist der Umgang mit finanziellen Vergehen. Die Universität hat bereits eine zentrale Antikorruptionsbeauftragte. Wir werden das System jetzt aber auf die Fakultäten ausweiten, weil dort potenzielle Unregelmäßigkeiten zuerst auffallen und bereits in diesem frühen Stadium klare Prüfprozesse laufen müssen. Und die dritte Säule haben wir bereits etabliert: eine Anlaufstelle und eigene Beschwerdeperson für Mitarbeiter, die Diskriminierung, Mobbing oder Gewalt erfahren. Und damit es möglichst gar nicht erst zu den schlimmsten Eskalationen kommt, gibt es seit Herbst sogenannte Konfliktlotsen, die bereits in einem ganz frühen Stadium für Moderation und Mediation zur Verfügung stehen.  

 

Viele sinnvoll klingende Maßnahmen, aber Hand aufs Herz: Die sind nicht alle eine Konsequenz aus dem Fall Wittchen.

 

Die Überarbeitung der Satzung zur guten wissenschaftlichen Praxis hat in der Tat sowohl mit den DFG Richtlinien zu tun als auch damit, dass ich unter dem Eindruck der Aufmerksamkeit, die Compliance-Fragen in den USA erhalten, auch in Dresden für Veränderungen geworben habe. Aber der aktuelle Fall zeigt jetzt deutlich, dass die von uns eingeschlagene Richtung stimmt und dass es richtig ist, unsere Bemühungen weiter zu verstärken. 

 

Wird der Untersuchungsbericht der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt?

 

Der Kommissionsvorsitzende Herr Trute hat mit den Kommissionsmitgliedern und allen Beteiligten abgestimmt, dass der Bericht auf Wunsch an Interessierte geschickt werden kann. Natürlich in einer Version unter Wahrung der Persönlichkeitsrechte. 

 

Herr Wittchen ist Psychologe, Sie sind Psychologin. Wie sehr trifft es Sie persönlich, wenn ein Vertreter Ihres eigenen Fachs solche Verfehlungen begangen haben soll?

 

Wer Science oder Nature liest, findet Berichte über ähnliche Verfehlungen aus den unterschiedlichsten Fächern. Insofern handelt es sich für mich nicht um eine Frage bestimmter Disziplinen, sondern des grundsätzlichen Berufsethos. Womit ich in meiner Identität und meinem Selbstverständnis als Wissenschaftlerin berührt bin, ganz besonders aber in meiner Verantwortung als Rektorin. Meine Verantwortung vor der Wissenschaft und den 8000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Universität besteht darin, Sorge zu tragen, dass sich ein Fall vergleichbaren wissenschaftlichen Fehlverhaltens möglichst nicht mehr wiederholen kann. Und zugleich zu verhindern, dass als Reaktion auf den aktuellen Fall jetzt alle TUD-Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Sippenhaft genommen werden. Das würde ihrer großartigen Arbeit nicht gerecht werden.