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Ein erfolgreiches Wintersemester kommt nicht von allein

Die Rückkehr zur Präsenzlehre wird nur gelingen, wenn die
drei Grundpfeiler der Pandemiebekämpfung für den Herbst beachtet werden. Das Konzept dahinter heißt: "Impfen-PLUS". Ein Gastbeitrag von Matthias F. Schneider.

Ein Präsenzsemester unter Corona-Bedingungen: Wie könnte es konkret ablaufen? Foto: Kevin Casper.

DAS IMPFEN GEGEN DAS VIRUS ist ein Rennen, und dieses Rennen ist noch lange nicht gewonnen. Wir müssen weiter daran arbeiten, dem Impffortschritt einen Vorteil zu verschaffen, indem wir dem Virus möglichst viele Beine stellen.

 

"Impfen PLUS Maßnahmen" ist die Strategie, und sie hat drei Pfeiler: 1. Impfen, 2. Hygiene (inklusive Masken, Luftfilter und Kontaktvermeidung) und 3. Testen sowie Rückverfolgung und Isolierung.

 

Das ganze Konzept funktioniert gut und einfach, solange man die Zahlen niedrig hält. Abwarten ist keine Strategie, und die Pandemie als beendet zu erklären, ist einer der sichersten Wege dafür zu sorgen, dass sie uns noch lange plagt. Das gilt auch in Bezug auf die Hochschulen und deren Planungen für das Wintersemester. Fest steht jedenfalls: Leichtsinnige Öffnungen fordern abrupte Schließungen. Ein erfolgreiches Wintersemester verlangt, dass wir die drei genannten Pfeiler von "Impfen PLUS Maßnahmen" umsetzen, und zwar so:

 

1. Impfen. Da die Situation im Herbst/Winter nur schwer vorhersagbar ist, aber die vierte Welle, die vor allem die Jugend erfassen könnte, bereits begonnen hat, sollten wir jetzt handeln. Und zwar, indem wir zum einen unsere Studierenden zum Impfen motivieren, wie das bereits vielerorts am Campus geschieht. Und indem wir zum anderen parallel dazu flexibel einsetzbare Maßnahmen gestalten.

 

Schon im Sommer 2020 lief die Welle in der Altersgruppe der 15- bis 30-Jährigen los und verbreitete sich von dort. Abwarten heißt, Experimente über Langzeitfolgen neuer Varianten an Jugendlichen und Kindern durchzuführen und weitere Schließungen zu riskieren. Long- bzw. Post-COVID ist jedenfalls eine echte Erkrankung mit unangenehmen Folgen auch für die Wirtschaft, nicht zuletzt weil sie die Altersgruppe der 18 bis 29-Jährigen im niedrigen zweistelligen Prozentbereich betrifft (siehe Toolbox #10 der NO-COVID Gruppe).

 

Zusätzliche Maßnahmen sichern dann nicht nur den Impferfolg, sondern schützen auch vor der Gefahr sogenannter Durchbrüche bei Geimpften, die bei der sich gerade durchsetzenden Delta- oder Lambda-Variante auf jeden Fall vorkommen (etwa zwei Infizierte unter 10.000 Geimpften gegenüber 16 unter 10.000 Ungeimpften). 


Matthias F. Schneider ist Professor für medizinische und biologische Physik an der Technischen Universität Dortmund, gehört zu den Gründern der No-COVID-Initative und ist Mitglied der multinationalen Covid-Action-Group (CAG). Im Podcast der Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen spricht er über "Grüne Zonen – Präsenzunterricht in der Pandemie". 

Foto: privat.



Auch wenn glücklicherweise nur ein deutlich kleinerer Anteil Infizierter (vermutlich 25 mal weniger) ins Krankenhaus kommt, scheint die Impfung kaum davor zu schützen, im Falle einer Infektion das Virus weiter zu übertragen (zumindest für den Fall der gerade dominierenden Deltavariante). Eine starke Zunahme der Infektionen (sowohl von Geimpften wie Ungeimpften) kann daher den Impferfolg – zumindest zum Teil – zerstören. Deshalb ist eine Niedriginzidenzstrategie auch für alle diejenigen, die nicht geimpft werden können (zum Beispiel derzeit die zehn Millionen 0- bis 12-Jährigen) oder aus gesundheitlichen oder Altersgründen einen reduzierte Impfschutz genießen, der einzige Weg zurück zur Normalität.  

 

2. Hygiene: Masken, Kontaktreduzierung, Raumluftkontrolle. Zu den Hygienekonzepten als zweiten Pfeiler gehören Mund-Nase-Schutz oder besser die FFP-2/3 Maske. Keine andere Maßnahme ist so effizient: Tragen zwei Gesprächspartner bei der Unterhaltung eine FFP-2-Maske, sind sie ähnlich gut geschützt wie nach einer Impfung. An Masken in gefüllten Innenräumen sollte man also erst gar nicht rütteln, auch wenn jemand genesen, geimpft oder getestet ist. Zumindest solange die Abnahme des Impfschutzes mit der Zeit und gegen neue Varianten nicht geklärt ist. 

 

Dazu kommt eine Kohortierung, also das Arbeiten in möglichst kleinen Gruppen. Der Hintergrund ist einfach: Hat man unter 100 Studierenden in einem Raum eine infizierte Person, kann diese maximal 99 weitere anstecken. Unterteilt man die 100 in zehn 10er-Gruppen, kann die eine infizierte Person maximal noch neun weiter Kommiliton*innen in ihrer Gruppe anstecken. Aus Sicht der Gemeinschaft hat sich das Risiko für Ansteckungen also um eine Faktor 11 reduziert. Entzerrt man zusätzlich die Veranstaltungen zeitlich, werden die diffusiven Kontakte auf dem Weg zur Uni und auf dem Campus (oder Schule) weiter reduziert.

 

Zusätzlicher Schutz kann durch schlaue Raumluftkonzepte erreicht werden, etwa mit Luftfiltern, die das gesamte Raumluftvolumen mehrmals pro Stunde auswechseln (siehe das neue Positionspapier der DFG-Gruppe). Prinzip und Praktikabilität der oft empfohlenen Kontrolle durch Stoßlüften sollte noch einmal gründlich überdacht werden.

 

3. Testen, Rückverfolgung und Isolation. Allerdings sagen Masken und Ventilation einem nichts darüber, in welchem Risikobereich man sich befindet. Daher ist die dritte Maßnahme eine kluge Teststrategie. Solange noch Quellen von Infektionen zu erwarten sind, befindet man sich ohne Tests im Blindflug. Testen heißt Augen aufmachen und beobachten. Das gilt auf dem Campus genauso wie am Flughafen. Findet man einen positiven Fall, muss man sofort nicht nur isolieren, sondern quasi gierig die Quelle aufsuchen, also die (retrograde) Rückverfolgung beginnen. Hintergrund ist die Physik der Ausbreitung, die uns lehrt, dass rund zehn Prozent der Infizierten 80 bis 90 Prozent der Ansteckungen verursachen. Aus Sicht der Rückverfolger muss das Auffinden eines positiven Falles insofern als Volltreffer betrachtet werden. Er zeichnet einen möglichen Weg zu einem Superspreader auf, die nicht leicht zu finden sind.

 

Verlässt man sich allein auf Pfeiler 1, das Impfen, erreicht man bei einer (eher optimistischen) Durchimpfung von 80 Prozent und einem R0-Wert von 6 bis 8 für die Delta-Variante einen effektiven R-Wert von etwa 1.7 bis 3.7 (siehe Abbildung). Woraus folgt: Impfen allein wird die Pandemie selbst im günstigsten Fall (hoher Impfschutz und kleines R0) nicht beenden können. Man benötigt die Kombination der  drei Pfeiler, um eine weitere Reduktion (im Mittel um etwa 60 Prozent) zu ermöglichen und Reff unter 1 zu halten. Diese Strategie hat weitere positive Auswirkungen: Es besteht eine geringere Gefahr für weitere Lockdowns, für Impf-Durchbrüche, und auch die Langzeitfolgen (Long-COVID) fallen geringer aus. Während man Reff stabil unter 1 hält, werden Booster-Impfungen vorbereitet.  


Die Kombination macht den Effekt. Durch die Hintereinanderschaltung mehrerer Strategien (Impfen, Hygiene, Testen), die alle in sich das Risiko einer Infektion reduzieren, potenzieren sich die Effekte. Das Restrisiko sollte möglichst klein gehalten werden, nach Möglichkeit gegen Null gehen, mindestens aber so klein sein, dass Reff mit Sicherheit unter 1 liegt. Die Zahlenwerte in der rechten Spalte sind zwar typisch, aber trotzdem mit Vorsicht zu behandeln. Sie müssen für den konkreten Fall explizit ermittelt werden. Der Unterschied im Filterfaktor, zum Beispiel. zwischen einer lausig sitzenden Stoffmaske und einer gut sitzenden FFP-2 Maske, ist enorm und erreicht leicht einen Faktor 10 und mehr.


Umsetzung an der TU Dortmund

 

Auf einem Campus ist das alles einigermaßen einfach umzusetzen. An der TU Dortmund haben wir deshalb im März 2021 begonnen, mehrere PCR-Teststraße aufzubauen, in der im Sommersemester etwa 1500 bis 2000 Menschen pro Woche gepoolt getestet wurden. Und das Konzept ist so konstruiert, dass es leicht skaliert werden kann. Im Moment können wir schon etwa 10.000 Menschen pro Woche testen.  Parallel dazu erproben wir jetzt alternative und zusätzliche Methoden für das Wintersemester, ein schnelleres PCR-Verfahren (Quick-PCR) zum Beispiel und PCR-Tests an Oberflächen im Anschluss an Veranstaltungen (Exit Tests). Das Ziel ist, je nach Inzidenz mehr tesen zu können und so die Maschen enger knüpfen zu können. Ähnlich verfährt man bei der Kohortierung: Man beginnt, dem Vorsorgeprinzip folgend, zunächst mit recht kleinen Gruppen und passt deren Größe, wenn das Infektionsgeschehen im Landkreis es erlaubt, an. 

 

Die Rückverfolgung wird an der TU Dortmund unkompliziert gehandhabt. Die Universität hat für den Fall eines positiven Tests ein Team, das sofort mit der Rückverfolgung und entsprechender Aufklärung beginnt und eng mit dem Gesundheitsamt zusammenarbeitet. Diese Zusammenarbeit funktioniert ausgezeichnet, was wichtig ist, denn: Jeder verlorene Tag in der Rückverfolgung heißt neue Infektionen, was einen Teufelskreis startet, denn mehr Infektionen verlangen mehr Rückverfolgung. Jeder Tag belastet also das System zusätzlich, verlangsamt die Prozesse, und die Zahlen steigen schneller. Verluste in der Geschwindigkeit der Rückverfolgung müssen mühsam durch steigende Testhäufigkeiten oder Kontaktbeschränkungen und ähnliches kompensiert werden, um die Ausbreitung etwa ähnlich stark einzudämmen. Einige Publikationen haben sich dieses Problems genauer angenommen, worauf wir uns auch in Dortmund stützen (siehe Toolbox #3 der No-COVID Gruppe). 

 

Was muss man tun? 

 

Einfach anfangen, eigentlich ganz simple. An der TU Dortmund hat der Rektor den Mut bewiesen, sich auf die Vorschläge der Wissenschaft einzulassen. Die Methoden sind keine Raketenwissenschaft, und die Konzepte sind längst veröffentlicht. Die dahinter liegenden Ziele muss man allerdings gut kommunizieren – auch wie man diese erreichen möchte und was man dafür dem Einzelnen leider abverlangen muss. Und man darf natürlich nicht vergessen, was man selbst (als Universität) dazu beitragen kann. Die Strategie darf nicht nur aus reinen Forderungen bestehen, sondern man muss zugleich etwas bieten. 

 

Neben der erwähnten Etablierung eines vernünftigen Testkonzepts, zu dem unbedingt der PCR-Test gehört, muss man zum Beispiel deutlich signalisieren, dass es um alle geht. Das heißt: Man fordert nicht nur dazu auf, ins Testzelt zu marschieren. Sondern man lässt diejenigen, die das Virus erwischt hat, klar spüren, dass sie durch ihre Isolation der Gesellschaft und speziell auch der Community am Campus einen Gefallen tun, den die Universität zu schätzen weiß. Einige Signale, die wir in Dortmund dazu setzten, sind neben einer Hotline zum Beispiel ein Fahr- bzw. Einkaufsdienst für positiv Getestete und für Ungeimpfte unkompliziertere Wege zur Impfung.  

 

Nichts ist schlimmer als abwarten 

 

Dem Virus muss man proaktiv begegnen. Wer abwartet, wird von ihm kontrolliert. Wir können als Universität zwar nicht direkt das Geschehen um uns herum bestimmen. Wir können aber versuchen, unsere eigenen Möglichkeiten auszuschöpfen. Zum einen sollten wir unser Klientel (also vor allem unsere Studierenden) mitnehmen, aufklären, abholen und motivieren, sich impfen zu lassen. 

 

Indem wir es ihnen möglichst unkompliziert machen: An der TU konnten wir bereits eine Impfaktion auf dem Campus anbieten. Weitere Aktionen werden je nach Bedarf durchgeführt. Außerdem zeigen wir kontinuierlich Impfmöglichkeiten in der Umgebung auf: Laut einer Umfrage waren Ende Juli bereits 92 Prozent unserer Student*innen mindestens einmal geimpft, was zumindest teilweise auch der guten Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen Universität und Studierenden geschuldet sein dürfte.

 

Hygienekonzepte dürften in den Universitäten in ausreichend guter Qualität vorhanden sein. Implementieren muss man aber auch die Stellschraube Testen, um auf Veränderungen im Infektionsgeschehen schnell, lokal differenziert und konsequent reagieren zu können (siehe Toolbox #5 der No-COVID Gruppe). 

 

Mit diesen drei Pfeilern (Impfen, Hygiene, Testen) sollte es gelingen, ein vernünftiges Wintersemester durchführen zu können – und zwar nachhaltig. Denn nichts ist schlimmer als Planlosigkeit und On-OFF-Lehrbetrieb.

 

In Dortmund hat unser Konzept auch positive Wirkung auf die Stadt. So arbeitet die TU Dortmund nicht nur mit dem Gesundheitsamt und dem Klinikum, sondern auch mit dem Oberbürgermeister, den Grundschulen und weiterführenden Schulen zusammen und steht für Fragen und Diskussionen stets zur Verfügung. Die Kinderuni erklärt den 7 bis-12-Jährigen, was eine Pandemie eigentlich ist, und in der Anne-Frank-Gesamtschule fand vor den Sommerferien eine Informationsveranstaltung statt, in der Schüler aller Jahrgangstufen Wissenschaftler offen alle Fragen rund um das Thema Pandemie stellen konnten. 

 

Das große Potential der Universität besteht zum einen darin, Wissen zu vermitteln und zu schaffen. Zum anderen besteht es in den vielen vielen engagierten Mitarbeiter und Studierenden, die leicht für einen guten Zweck zu motivieren sind. Sie sind eine Art Superwaffe im Kampf gegen die Pandemie. Nutzen Sie diese Superwaffe, damit wir das Rennen gegen das Virus gewinnen und ein planbares Wintersemester 2021/22 erleben dürfen. Ein Wintersemester, das robust ist gegen weitere Varianten und zur Nachahmung über die Universitäten hinaus empfohlen werden kann. 

 

Nachtrag am 16. August: Dieser Beitrag ist inzwischen auch auf Englisch erschienen. Sie finden ihn hier





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Kommentare: 2
  • #1

    Detlef Müller-Böling (Mittwoch, 04 August 2021 12:47)

    Besten Dank für diesen beeindruckenden Beitrag, der aufzeigt, wie selbstverantwortlich handelnde Universitäten den Kampf gegen die Pandemie in die Hand nehmen können und damit auch Vorbildfunktion für andere Teile der Gesellschaft übernehmen. Welch ein Unterschied zu den bemitleidenswerten Schulen, die solche Möglichkeiten nicht haben!

  • #2

    Peter Burger (Mittwoch, 04 August 2021 22:35)

    DANKE!

    Es erfreut mich zu hören, dass es doch Hochschulen gibt, die so agieren wie es wissenschaftliche Einrichtungen tun sollten, nämlich auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse und Analyse!

    Auch freut mich zu hören, dass die TU Dortmund ihre selbst eigenen Studierenden geimpft hat. Dies erklärt sicher die hohe Impfquote von 92% unter den Studierenden (N.B. Wieviel Prozent der Studierenden haben an der Umfrage teilgenommen?)

    Auf der anderen Seite finde ich es äußerst irritierend, dass die offiziell verfügbaren Impfquoten nur für die Altersgruppen von 12-17, 18-59 und 59+ Jahre verfügbar sind. Gäbe es diese Daten analog zu den verfügbaren Infektionsdaten, die in Altersgruppen von je 5 Jahren zusammengefasst sind, so könnte man aus der Impfquote für die 20-24 Jährigen schon eine Idee bekommen, wieviel der Studierenden geimpft sind. (Die Studienanfängerquote ist ja bekannt und beträgt 55+ %.)