Direkt zum Inhalt

Welche Chancen hat das Startchancen-Programm?

Sie könnte zur bildungspolitischen Zeitenwende werden: die milliardenschwere Investitionsinitiative, mit der die Ampel-Parteien die Schulen sozial benachteiligter Kinder nach vorn bringen wollen. Doch noch fehlt es an rechtlichen Grundlagen, an Geld und an klaren Kriterien. Ein Gastbeitrag von Ernst Dieter Rossmann.

Bild
Artikelbild: Welche Chancen hat das Startchancen-Programm?

Foto: ambermb / Pixabay.

BILDUNGSPOLITISCH IST ES DIE STÄRKSTE ANSAGE aus dem Koalitionsvertrag der als "Fortschrittskoalition" gestarteten Ampel, mit einem neuen Programm "Startchancen" sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen bessere Bildungschancen zu ermöglichen. 4000 Schulen, an denen ihr Anteil besonders hoch ist, sollen besonders gefördert werden. Darüber hinaus sollen 4000 Schulen, die sich in benachteiligten Regionen und Quartieren befinden, vom Bund dauerhaft zusätzliche Stellen für die schulische Sozialarbeit erhalten. Das sind immerhin zehn Prozent aller deutschen Schulen.

Endlich will der Bund selbst nachhaltig und gezielt Verantwortung übernehmen, um eine der zentralen Schieflagen im deutschen Bildungssystem anzugehen, auf die noch jeder (übrigens vom Bund finanzierte) Nationale Bildungsbericht hingewiesen hat: Bei der Verteilung von Bildungschancen ist in Deutschland die Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen abhängig von ihrer sozialen Lage auch im internationalen Vergleich massiv.

Chapeau zur guten Absicht, kann man da nur sagen – und Augen auf bei der praktischen Umsetzung! Denn bei allem guten Willen zu einem Kooperationsgebot gibt es noch immer eine offene Stelle im Grundgesetz, die rechtzeitig geklärt werden muss.


Bild
Artikelbild: Welche Chancen hat das Startchancen-Programm?

Ernst Dieter Rossmann, 70, war 23 Jahre lang SPD-Bundestagsabgeordneter und zuletzt Vorsitzender des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung.

Foto: DBT/Werner Schüring.


Schon die rot-grüne Bundesregierung vor 20 Jahren hatte mit einem Vier-Milliarden-Programm für den Ausbau von Ganztagsschulen einen wegweisenden Vorstoß zur Erneuerung des Schulwesens geleistet. Allerdings nur investiv und nur solange, bis das auf Betreiben der Länder 2006 eingeführte unselige Kooperationsverbot dem bis auf Weiteres einen Riegel vorgeschoben hat.

Diese Fehlentwicklung Schritt für Schritt zu korrigieren war ein hartes


Stück Arbeit. Immerhin heißt es jetzt in Artikel 104 c des Grundgesetzes im Abschnitt Finanzwesen, dass der Bund den Ländern Finanzhilfen für "gesamtstaatlich bedeutsame Investitionen sowie besondere mit diesen unmittelbar verbundene unbefristete Ausgaben der Länder und Gemeinden (…) zur Steigerung der Leistungsfähigkeit der kommunalen Bildungsinfrastruktur" geben kann.

Eine gute bildungspolitische Absicht darf sich nicht erneut in den Fallstricken des Föderalismus verfangen

Wenn der Ampel-Koalitionsvertrag nun davon spricht, dass es ein Investitionsprogramm für moderne, klimagerechte, barrierefreie Schulen mit einer zeitgemäßen Lernumgebung und Kreativlaboren geben soll, ist das noch durch die jetzige Formulierung im Grundgesetz abgedeckt. Mit dem Chancenbudget zur freien Verfügung, um Schule, Unterricht und Lernangebote weiterzuentwickeln und außerschulische Kooperationen zu fördern, wird es da schon schwieriger.

Zwar hat es schon in früheren Jahren eine Personalkostenförderung von Schulsozialarbeit gegeben, doch war diese im Zusammenhang mit dem Bundesteilhabegesetz befristet und wurde nicht über den Bildungsbereich administriert. Eine Klärung der Verfassungsfrage tut insofern not, bevor erneut – wie schon beim Digitalpakt Schule – die gute Absicht sich über Monate und Jahre in den Fallstricken der Bund-Länder-Kommunal-Beziehungen verfängt.

Auch die finanzielle Seite wird ehrlich anzusprechen und transparent zu gestalten sein. Alle Arbeitsgruppen, die über den Koalitionsvertrag zu verhandeln hatten, mussten eine weitere vertrauliche Seite abliefern, auf der die Kosten für jede Maßnahme beziffert worden sein soll. Für das Programm "Startchancen" sollen dort je nach Quelle zwischen 1 bis 1,25 Milliarden Euro pro Jahr angegeben sein, was bei 4000 Schulen auf mindestens 250.000 Euro pro Schule und Jahr hinauslaufen würde.

Bisher stehen für die "Startchancen" kein einziger Euro im Bundeshaushalt

Allerdings: Bisher steht für das Vorhaben noch kein einziger Euro im Bundeshaushalt. Nach dem erklärten und beschlossenen Willen des mächtigsten aller Ausschüsse, des Haushaltsausschusses, soll sich das im Bundeshaushalt 2023 ändern. Auch soll das Bundesbildungsministerim bis Spätsommer dieses Jahres erste Konzepte zur Umsetzung vorlegen.

In der dringenden Erwartung, dass die bei Abschluss der Ampel-Koalition so großen bildungs- und finanzpolitischen Ambitionen nicht der "Zeitenwende"-Sparrunde zum Opfer fallen: Das im November 2021 beabsichtigte Fördervolumen für das "Startchancen"-Programm würde deutlich hinausgehen über die von der vorigen Koalition auf den Weg gebrachten Initiative von Bund und Ländern zur Unterstützung von Schulen in sozial schwierigen Lagen. Die sieht für die erste Phase von 2021 bis 2025 passgenaue Lösungen für 200 Schulen vor, und zwar im Wert von insgesamt 125 Millionen Euro, die je zur Hälfte durch Bund und Länder finanziert werden.

Das "Startchancen"-Programm soll nicht nur 20-mal so viele Schulen erreichen, pro Schule und Jahr soll noch dazu mindestens die doppelte Summe zur Verfügung stehen, und allein der Bund würde dafür aufkommen. Mit den Milliarden würden dann, so jedenfalls die Ankündigung im Koalitionsvertrag, Dauerstellen entstehen.

Wichtig wird sein, dass es eine ausreichende Synchronisation mit den Programmen gibt, die einige Bundesländer zum Teil bereits vor oder parallel zur Bundesinitiative mit eigenen Mitteln gestartet haben. Eine inhaltliche Vernetzung ist hier genauso notwendig wie die Verpflichtung der Länder, dass sie ihre eigenen Programme und deren Fördersummen nicht reduzieren, wenn es demnächst ein Bundesprogramm gibt. Denn mehr geht immer, und was jetzt geplant ist, ist noch lange nicht genug.

Schon die Abwicklung des Digitalpakts über den Königsteiner Schlüssel war skandalös

Zugleich ist es hohe Zeit, auf Bundesebene Klarheit über die Kriterien zu schaffen, nach denen die 4000 bzw. die insgesamt 8000 Schulen ausgewählt werden sollen. Der berühmt-berüchtigte Königsteiner Schlüssel von 1949 wird es nicht sein können, denn dessen Merkmale von Bevölkerungszahl und Finanzkraft der Länder bilden ganz gewiss nicht die geografische Verteilung sozialer Benachteiligung ab.

Schon die Abwicklung des Digitalpakts darüber ist skandalös. Weil sich die Länder in der vergangenen Legislaturperiode auf nichts Anderes einigen konnten, als dem Status quo namens Matthäus-Prinzip zu folgen, hat die Verteilung der Mittel keinen Unterschied danach gemacht, ob in einem Bundesland fünf oder sechs Prozent der Kinder und Jugendlichen in Armut leben, wie in Baden-Württemberg oder ob es 27 und 32 Prozent sind wie in Berlin und Bremen.

Die Armut von Kindern und Jugendlichen ist in Deutschland nicht gleich verteilt. Und Ungleiches muss entschieden ungleich behandelt werden, damit daraus mehr Gerechtigkeit und Chancengleichheit werden kann. Das ist die Lehre und die Mahnung für das "Startchancen"-Programm.

Ein neues Verständnis von Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit

Für dessen konkrete Umsetzung wird es deshalb extrem wichtig werden, eine plausible und operationale Bestimmung vorzunehmen, was die Kriterien sein sollen, die für eine Schule mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler gelten. Hierfür gibt es zum Glück mittlerweile umfangreiche Studien und Vorarbeiten über Sozialindizes für Schulen, die in einigen Bundesländern angewandt werden und auf die aufgebaut werden kann. Eine Übersicht der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2019 weist für die Bundesländer Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein entsprechende Konzepte und Programme aus. Überlegungen und Initiativen in anderen Bundesländern mögen seitdem dazu gekommen sein.

Die große Chance liegt darin, dass mit einem Programm, dass der Bund alleine verantwortet, ein neues Verständnis von Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit in der Förderung von Schulen jetzt auch in anderen Bundesländern befördert und unterstützt wird. Und dass es gleichzeitig durch die alleinige Finanzverantwortung des Bundes zu einem bundesweit geltenden gleichen Maßstab kommen kann. Wenn die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz einen Sinn haben soll, sollte sie dafür einen sachkundigen Vorschlag präsentieren.

Welch ein Fortschritt wäre möglich, 16 Jahre nach dem Hochamt des Konkurrenzföderalismus. Diese Gelegenheit sollte im Interesse der Kinder und Jugendlichen und der Schulen beherzt ergriffen werden.

Neuen Kommentar hinzufügen

Ihr E-Mail Adresse (wird nicht veröffentlicht, aber für Rückfragen erforderlich)
Ich bin kein Roboter
Geben Sie die Zeichen ein, die im Bild gezeigt werden.
Diese Sicherheitsfrage überprüft, ob Sie ein menschlicher Besucher sind und verhindert automatisches Spamming.

Vorherige Beiträge in dieser Kategorie


  • Artikelbild: Was vom Aufbruch übrigbleibt

Was vom Aufbruch übrigbleibt

Wie die rot-rot-grüne Koalition in Berlin eine ehrgeizige Personalreform in der Wissenschaft anstieß und jetzt vor den Schwierigkeiten ihrer Umsetzung zu erstarren droht. Ein Gastbeitrag von Larissa Klinzing.


  • Artikelbild: Großer Aufwand für wenige Vertragsmonate

Großer Aufwand für wenige Vertragsmonate

Die Erkenntnisse der offiziellen Evaluation des WissZeitVG sind wichtig. Das gilt allerdings auch für die Fragen, die sie auslässt. Ein Gastbeitrag von Lisa Janotta und Tilman Reitz.


  • Artikelbild: Jenseits des akademischen Tellerrands

Jenseits des akademischen Tellerrands

Alle reden von Transfer in der Forschung. Wie aber geht eigentlich Transfer in der Lehre? Ein Gastbeitrag von Albert Kümmel-Schnur, Johanna Vogt, Karin Bürkert, Matthias Möller und Sibylle Mühleisen.


Nachfolgende Beiträge in dieser Kategorie


  • Gender-Bias in der Wissenschaft: Warum scheiden so viele Frauen vorzeitig aus Führungspositionen aus?

Gender-Bias in der Wissenschaft: Warum scheiden so viele Frauen vorzeitig aus Führungspositionen aus?

Zwölf Thesen über Ursachen und Schlussfolgerungen von Ulrike Beisiegel und Norbert Sack. Ulrike Beisiegel war von 2011 bis 2019 Präsidentin der Universität Göttingen.Norbert Sack ist Gründer der Leadership Advisors for Academia, Berlin, einer Personalberatung für oberste Führungskräfte in akademischen Einrichtungen. Fotos: privat.


  • Ausreden für Plagiate immer kurioser

Ausreden für Plagiate immer kurioser

Die Mainzer Soziologin Marina Hennig kämpft gerichtlich um ihren Doktortitel, eine Untersuchungskommission hatte ihn ihr bereits aberkannt. Auch in ihrer Habilitationsschrift finden sich umfangreiche Plagiate. Wie rechtfertigt sie ihr Handeln? Ein Gastbeitrag über ein wissenschaftliches Lehrstück von Jochen Zenthöfer. Jochen Zenthöfer, 45, ist Wissenschaftspublizist.


  • Artikelbild: Neue Brücken für Menschen und Ideen

Neue Brücken für Menschen und Ideen

Die Internationalisierung, wie wir sie kennen, mag vorbei sein. Welch eine Chance, den akademischen Austausch neu zu denken. Ein Gastbeitrag von Angela Ittel und Ulrike Hillemann-Delaney. Angela Ittel (links) ist Präsidentin der Technischen Universität Braunschweig. Ulrike Hillemann-Delaney ist Leiterin Internationales der TU Berlin. Fotos: Kristina Rottig/Jacek Ruta Photography.