Ein zerfallendes System von Spezialwissenschaften
Immer mehr Publikationen, aber kaum mehr Disruptionen: Unser Wissenschaftssystem hypertrophiert wie ein überdüngtes Gewässer.
Ein Gastbeitrag von Hans-Hennig von Grünberg.
Der Physiker Hans-Hennig von Grünberg war zehn Jahre lang Präsident der Hochschule Niederrhein und ist seit 2021 Professor für Wissens- und Technologietransfer an der Universität Potsdam. Foto: privat.
IM JANUAR hat die Zeitschrift Nature einen Artikel veröffentlicht, der anschaulich klar macht, dass unser Wissenschaftssystem hypertrophiert wie ein überdüngtes Gewässer. Mit Hilfe des Web of Science haben die US-Wissenschaftler Michael Park, Erin Leahey und Russell Funk von der Universität Minnesota alle 25 Millionen wissenschaftlichen Artikel analysiert, die weltweit zwischen 1945 und 2010 erschienen sind. Ziel der Studie: herauszufinden, welche dieser Papiere eine disruptive Wirkung hatten oder haben und insofern, wie die Autoren es nennen, "truly consequential" waren. Gemeint sind also Artikel mit Wirkung, mit Konsequenzen – solche eben, die Impulse geben, die unser Wissen wirklich erweitern. Sie führen nicht immer zu Nobelpreisen, aber sie geben der Wissenschaft, der Technologie, der Gesellschaft eine neue, eine ganz unerwartete Richtung.
Um diese "truly consequential papers" herauszufiltern, nutzten die Wissenschaftler ein quantitatives Maß für die Disruptivität eines Artikels: den von ihnen zu diesem Zweck entwickelten "CD5 Index", der Zahlenwerte zwischen -1 und +1 annehmen und für jeden Artikel berechnet werden kann. Die Idee dahinter: Ein in seiner Wirkung disruptives Papier stellt seine Vorgängerpapiere (also die in der eigenen Referenzliste aufgeführten Papiere) so sehr in den Schatten, dass diese in der Folgezeit nicht mehr zitiert werden.
Einen CD5-Wert von +1 bekommen entsprechend all jene Papiere, die in nachfolgenden Arbeiten stets nur allein und nie zusammen mit wenigstens einem der Vorgängerpapiere zitiert werden. Andersherum: Papiere mit einem CD5 Wert von -1 werden ohne Ausnahme nur zusammen mit mindestens einem der Papiere zitiert, die sie selbst auch schon zitiert haben. Die Autoren der Studie nennen diesen Artikeltyp "consolidating".
Jeder Wert zwischen -1 und +1 ist möglich: Wurde ein Papier beispielsweise fünfzig Mal alleinstehend zitiert und die anderen fünfzig Male zusammen mit mindestens einem seiner Vorgängerpapiere, dann hat es einen CD5-Wert von Null, soll heißen: Die nachfolgenden Forscherinnen und Forscher waren hinsichtlich der Disruptivität des Papiers geteilter Meinung. Hat ein Papier einen CD5-Wert von deutlich kleiner als -0,25, hält es keine wirklich folgenreichen Ergebnisse mehr bereit. Hat es einen CD5-Wert von größer als +025, so stufte die Mehrheit der nachfolgenden Forscher das Papier in seiner Wirkung als eher disruptiv ein.
1,1 Millionen Artikel, aber nur 17.000 mit disruptiver Wirkung
So, und nun kommt es: Im Jahr 2010 wurden 1,1 Millionen wissenschaftliche Artikel weltweit publiziert. Von diesen Papieren hatten der Studie zufolge 1,56 Prozent eine eher disruptive Wirkung, also einen CD5-Wert von über 0,25 (genau: 17.247 Artikel). Im Jahr 1950 hingegen wurden insgesamt nur 52.571 Papiere publiziert, eine zwanzig Mal kleinere Zahl. Davon aber hatten 17 Prozent einen CD5-Wert über 0,25 (8.844 Papiere). Und das sind nicht etwa statistische Ausrutscher, sondern sie geben einen allgemeinen Trend zwischen 1945 und 2010 wieder: Seit den 50er Jahren hat der Anteil an disruptiven Papieren in allen Wissensbereichen kontinuierlich abgenommen.
Nun darf man nicht den Fehler machen zu glauben, dass konsolidierende Papiere (CD5<0) keinen Wert für das Wissenschaftssystem haben. Review-Artikel zum Beispiel sind wesentlich für das Funktionieren von Wissenschaft und haben sicherlich konsolidierenden Charakter. Aber es sind Papiere mit einer "zuarbeitenden" Funktion und daher nur wissenschaftsintern von Bedeutung – während es einzig die disruptiven Veröffentlichungen sind, um die es der Wissenschaft und der Gesellschaft wirklich geht.
Drücken wir die Prozent-Ergebnisse also noch einmal im Sinne dieser "Zuarbeit" aus: Während 83 konsolidierende Papiere im Jahr 1950 den Weg für 17 disruptive Artikel geebnet haben, brauchte es im Jahr 2010 die Vorarbeit von 98 solcher Artikel für ganze zwei disruptive Papiere. Oder in absoluten Zahlen dargestellt: Für die 17.247 disruptiven Papiere des Jahres 2010 brauchte es insgesamt 20 Mal mehr Publikationen als für das Erreichen der Zahl von 8.844 disruptiven Papieren im Jahr 1950. Warum nur? Ist heutzutage mehr Zuarbeit erforderlich, weil die Themen komplexer, die Methoden anspruchsvoller geworden sind? Oder ist das Ergebnis eine Folge der "publish-or-perish"-Kultur, handelt es sich also letztlich auch um Papiere, die nur um ihrer selbst willen geschrieben werden?
Immer kleiner werdende Nischen im Gesamtgefüge des Wissens
Die Erklärung von Michael Park und seinen Mitautoren ist hochinteressant: Wissenschaftler haben heute mit einer nicht mehr zu beherrschenden Fülle von Wissen fertig zu werden. In intuitiver Reaktion auf diese bedrückend große Wissenslast beschränken sie dann den Horizont ihrer Forschungsarbeit auf immer kleiner werdende Nischen im Gesamtgefüge des Wissens. Obzwar das Wissen also insgesamt immer größer wird, werden die Forschungsnischen immer schmaler.
Wenn aber der Wissensbereich, auf den sich eine Forschungsarbeit bezieht, immer nischenhafter wird, dann – so können die Autoren an einer ganzen Reihe von Beobachtungen nachweisen – nimmt die Wahrscheinlichkeit für wirklich disruptive Erkenntnisse deutlich ab.
Kurzum: Wir sind angekommen in einer hypertrophen Wissenschaft, wo eine immer weiter wachsende Zahl von Akteuren nur noch mit sich selbst und den immer kleinteiliger und somit immer unbedeutender werdenden Problemen ihrer Fachgesellschaften beschäftigt ist. Ein selbstreferenzielles, in ungekoppelte Nischen zerfallendes System von Spezialwissenschaften. Es produziert Ergebnisse, die der sie finanzierenden Gesellschaft weder Nutzen noch wirkliche Erkenntnisse bringen.
Eine besorgniserregende Entwicklung, gefährdet sie doch über kurz oder lang das gesellschaftliche Vertrauen in den Nutzen und die Wirkmächtigkeit von Wissenschaft – zumal in Zeiten, in denen von ihr substanzielle Beiträge für das Lösen großer Fragen erwartet wird.
Darum sollten wir auch in Deutschland endlich offen darüber sprechen, wie wir unser Wissenschaftssystem insgesamt auf mehr Anwendung, Transfer, Relevanz, Nutzen und Nützlichkeit von Wissenschaft trimmen können. Der Nature-Artikel schließt mit einer ganz ähnlichen Empfehlung: "Federal agencies may invest in the riskier and longer-term individual awards that support careers and not simply specific projects, giving scholars the gift of time needed to step outside the fray, inoculate themselves from the publish or perish culture, and produce truly consequential work."
Kommentare
#1 - Der letzte Absatz ist etwas seltsam verkürtzt, ich sehe da…
#2 - Der erste Absatz ist meine Meinung, das Zitat die Meinung…
#3 - Woher wissen die Federal Agencies bzw. „wir in…
Methodisch vielleicht noch eine Rückfrage: da zwischen 1950 und 2010 sowohl die Arbeitsweise (Vernetzung, Koproduktion) als auch die schlichte Anzahl an Wissenschaftler:innen und Forschungsgebiete/Subdisziplinen gestiegen sein dürfte, müsste man den CD5-Wert nicht auf die Gesamtzahl aller Publizierenden normieren?
#4 - Die Studie von Park et al. (2023) reiht sich leider in eine…
Die Frage ist doch: Warum gibt es trotz der vorliegenden Erkenntnisse (und eigener Nahbereichsempirie praktisch aller WissenschaftlerInnen) seit Jahren keinerlei Trendänderung in der Wissenschaft und in Wissenschaftspolitik/-management, sondern - im Gegenteil - eine Verschärfung der Trends: publish or perish, Publikationen um ihrer selbst willen, Hyperspezialisierung, Transferferne usw.?
#5 - Zu #3 und der Frage der Normierung. Man kann den CD5 Wert…
#6 - "Wir sind angekommen in einer hypertrophen Wissenschaft, wo…
Die Diagnose ist völlig richtig. Aber was für eine Therapie ist geboten? Im letzten Absatz wird angedeutet: "Fund people, not projects". Aber wie kommt man in 'schland von A nach B? Alle materiellen Anreize weisen in die andere Richtung, namentlich die Exzellenzverhinderungsinitiative -- und auch alle anderen Initiativen, die die Geldverbrennungsmaschine BMBF in den letzten 20 Jahren aufgelegt hat. Wie kommt man in
'schland endlich von der Erkenntnis zur Umsetzung?
#7 - Ad #4Wenn Sie nach einer Antwort suchen, empfehle ich den…
Wenn Sie nach einer Antwort suchen, empfehle ich den Film “The business of science“: mit wissenschaftlichen Publikationen werden fabelhafte Renditen erzielt!
#8 - Ad #7:Ich glaube nicht, dass die handvoll Verlage wie…
Ich glaube nicht, dass die handvoll Verlage wie Elsevier und Co. eine solch starke Lobby haben, dass sie sämtliche Wissenschaftssysteme weltweit anhand ihrer eigenen Renditeziele ausrichten können. Aber ja, das vollkommen absurde Geschäftsmodell mit Renditen von 20-30% für einen zu vernachlässigenden Wertbeitrag dieser Verlage zählt ebenfalls zu den Dingen, die vollkommen falsch laufen.
Der von Ihnen genannte Film ist online nicht auffindbar, haben sie eine genauere Quelle?
#9 - Die Diagnose ist sicher zutreffend. Mit Blick auf die…
Die Arbeitsbedingungen des wissenschaftlichen Nachwuchses sind im Fokus, explorative Förderformate werden aufgelegt, personenbezogene Förderungen schaffen Freiräume für Professuren...
#10 - Ich sehe strukturelle Ursachen für die zunehmende…
Gute Forschung sollte dann allerdings vernetzt sein mit anderen Wissensgebieten. Eine zunehmende Vernetzung des Wissens bedeutet, dass eine Arbeit, die für ihr Gebiet disruptiv ist, einen immer kleineren Anteil der Arbeiten, die sie zitiert, umstößt, weil immer mehr zitierte Arbeiten aus anderen Gebieten stammen, die gar keine Vorarbeiten sind und daher gar nicht umgestoßen werden sollen. Auch dies würde einen generellen Rückgang des CD5-Indexes verursachen, ohne dass es einen Rückgang der Disruptivität gäbe.
#11 - Das deutsche Wissenschaftssystem leistet mit der…
Natürlich wäre es toll, wenn diese Freiheit und vor allem die Ressourcen nicht auf die MPG beschränkt wären.
Es ist ja aber auch denkbar, dass disruptive Wissenschaft einfach mit der Zeit schwieriger wird, weil die tief hängenden Früchte alle schon gepflückt sind. Newtons Gravitionstheorie gibt es schon seit mehreren Jahrhunderten, Einsteins auch schon seit mehr als einem, aber die Gravitation als Quantentheorie aufzuschreiben, schafft einfach niemand. Das liegt sicher nicht an einer „hypertrophen“ Förderung (dann hätte jemand die Quantengravitation schon in den 50ern formulieren können müssen), sondern daran, dass es halt wirklich schwer ist herauszufinden, wie die Natur da funktioniert.
#12 - Was macht denn das deutsche Wissenschaftssystem heutzutage…
#13 - Auch disruptive Ideen müssen irgendwann in die…
#14 - "Wissenschaft wird hierzulande mittlerweile total…
Stimmt. Ein wichtiger Treiber dafür ist ein viel zu unkritischer Wissenschaftsjournalismus. Ein aktuelles Beispiel ist die hypertrophe Berichterstattung des TAGESSPIEGEL über die angeblich "100 wichtigsten Köpfe der Berliner Wissenschaft". Da werden Forschende aufmotzend und atemlos präsentiert wie Filmsternchen. Die Artikelserie ist hinter einer Bezahlschranke, aber Titel und Foto besagen schon einiges:
https://www.tagesspiegel.de/wissen/sie-betrachten-die-menschheit-im-ruckspiegel-die-100-wichtigsten-kopfe-der-berliner-wissenschaft-10585057.html
#15 - @Aspergillus: Sie beschreiben korrekt die Selbstwahrnehmung…
"... solche eben, die Impulse geben, die unser Wissen wirklich erweitern. Sie führen nicht immer zu Nobelpreisen, aber sie geben der Wissenschaft, der Technologie, der Gesellschaft eine neue, eine ganz unerwartete Richtung."
Das dürfte auf die allerwenigsten MPG-Direktoren zutreffen.
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