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Langer Abschied, jetzt ganz schnell

Seit einem Jahr bröckelte die deutsche "X"-Wissenschaftscommunity vor sich hin. Doch jetzt geht es Schlag auf Schlag: Unzählige Hochschulen und Forschungsinstitute verlassen die Plattform. Mit dem am Dienstag verkündeten Weggang der DFG dürfte die Entwicklung unumkehrbar sein.

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Artikelbild: Langer Abschied, jetzt ganz schnell

Bild: Niek Verlaan / Pixabay.

ES IST ZIEMLICH GENAU EIN JAHR HER, dass eine Reihe einflussreicher Stiftungen in einer konzertierten Aktion ihren Rückzug von "X", dem früheren Twitter, verkündeten. "Wir treten ein für eine demokratische Gesellschaft, für Menschenwürde, faktenbasierte Information und konstruktiven Dialog. Da dies aus unserer Sicht hier nicht mehr möglich ist, werden wir unseren Account bis auf weiteres stilllegen." So lautete etwa der bis heute letzte Post der Volkswagen-Stiftung, Deutschlands größtem privaten Forschungsförderer.

Weitere Stiftungen, Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen folgten, doch der große Rückzug blieb Anfang Februar 2024 aus. Womöglich dachten doch viele Akteure wie ich, der in einem Blogbeitrag unter der Überschrift "Zeit zum Kämpfen, nicht zum Weichen" schrieb: "So frustrierend die Kommunikation auf 'X' mitunter geworden ist und so nachvollziehbar die Erschöpfung angesichts des ätzenden Trommelfeuers menschlicher und maschineller Hassproduzenten, so wichtig ist es, die institutionellen Stimmen von Aufklärung und Wissenschaft gerade dort nicht verstummen zu lassen, wo sie am stärksten bekämpft werden."

Andere hielten dagegen. Etwa Amrei Bahr von "#IchbinHanna", die bekräftigte, warum auch ihre Initiative "X" verließ, und kommentierte: "Wer jetzt einwendet, man solle X nicht den rechtsextremen Demokratiefeind_innen überlassen (…), verkennt, dass der Kampf gegen problematische Strömungen auf einer sie privilegierenden Plattform ein Kampf gegen Windmühlen ist: Dies ist kein partizipativer Kontext, in dem wir die Regeln mitbestimmen können." Es sei eine algorithmusbasierte Plattform, und Algorithmen seien nun mal stärker als die Kollektive, die auf sie träfen.

Seitdem bröckelte die "X"- Wissenschaftscommunity vor sich hin

Seitdem bröckelte die deutsche Wissenschaftscommunity auf "X" vor sich hin, große Teile blieben aber doch noch dort, was das Netzwerk bei aller Kritik relevant hielt. Weiterhin fand man manche Neuigkeit zuerst hier, und es entsponnen sich, obgleich seltener, immer noch wissenschaftspolitische Debatten, die in ihrer Konstruktivität einen Kontrapunkt setzten zum vorherrschenden Ton auf (nicht nur) dieser Plattform. Nur dass man sie, Stichwort Algorithmen, deutlich seltener in seinem Feed präsentiert bekam.

Doch Ende des vergangenen Jahres kam etwas ins Rollen. Und diesmal könnte es sich tatsächlich um das Ende von "X" als Forum für die deutsche Wissenschaft handeln.

Zu den Schlüsselpersonen des "WissXit" gehörten erneut Amrei Bahr und Achim Zolke, Pressesprecher von Bahrs früherer Hochschule, der Heinrich-Heine-Universität (HHU) Düsseldorf. In einem vielbeachteten Meinungsbeitrag bei Table.Research begründeten sie kurz vor Weihnachten, warum sie ein Verbleib auf "X" nicht nur für kontraproduktiv, sondern gar für gefährlich hielten. "Jene, die systematisch Hass, Hetze und Falschmeldungen streuen, brauchen die Seriosität der Wissenschaft auf X, um ihre Inhalte überhaupt platzieren zu können." Und: "Hass und Verschwörungserzählungen brauchen ein Gegenüber, das sie attackieren können."

Die HHU schmiedete unterdessen mit ihren Mitstreitern an einem möglichst großen Bündnis von Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen, die auf einen Schlag "X" den Rücken kehren sollten. Immer wieder ermunterte Zolke seine Kommunikationskollegen anderswo in der Wissenschaft zum Mitmachen, bot Rat und Unterstützung an.

Elon Musk lieferte die besten Argumente für einen "WissXit" höchstpersönlich

Wobei "X"-Inhaber Elon Musk persönlich mit seinen wiederholten Einmischungen in den deutschen Wahlkampf, inklusive dem Verbreiten rechter Narrative und Falschbehauptungen, den "WissXit"-Befürwortern die besten Argumente lieferte. Zuletzt, und für viele womöglich entscheidend, durch seinen "X"-Talk mit AfD-Chefin Alice Weidel. Seitdem melden sich auch Institutionen außerhalb der Wissenschaft massenweise ihren "X"-Ausstieg, zuletzt zum Beispiel Bundesverteidigungsministerium und Bundeswehr.

Am 10. Januar, vergangenen Freitag, war es soweit: Mehr als 60 deutschsprachige Hochschulen, Universitäten und weitere Forschungsinstitutionen verkündeten gemeinsam, ihre X-Aktivitäten einzustellen, darunter neben der HHU weitere große Universitäten wie Frankfurt, Heidelberg, Münster, Dresden oder die Berliner Humboldt-Universität.

"Der Rückzug ist Folge der fehlenden Vereinbarkeit der aktuellen Ausrichtung der Plattform mit den Grundwerten der beteiligten Institutionen: Weltoffenheit, wissenschaftliche Integrität, Transparenz und demokratischer Diskurs", hieß es in einer gemeinsamen Erklärung, die die beteiligten Einrichtungen verschickten.

Es war der erwünschte Paukenschlag, und ja, wahrscheinlich auch der Beginn einer sich selbstverstärkenden Dynamik. Genau das also, was den Stiftungen vergangenes Jahr noch nicht gelungen war. Persönlich konnte ich das in den vergangenen Tagen an der Vielzahl von Institutionen und Einzelpersonen aus Wissenschaft und Hochschulen ermessen, die plötzlich auf "Bluesky" auftauchten. Das hatte es in der Massierung zuvor nicht gegeben. Es fühlte sich fast wie ein kollektiver Umzug an.

Dem jetzt das größte Wissenschaftsdickschiff folgte: Am Dienstag erklärte die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ihren Rückzug von "X". Wissenschaft lebe von Freiheit, Weltoffenheit und Toleranz in einer demokratischen Gesellschaft und könne selbst in vielfacher Weise zu diesen beitragen, sagte DFG-Präsidentin Katja Becker zur Begründung. "Ihre verbindende Kraft ist umso wichtiger, je mehr das pluralistische Miteinander Anfechtungen ausgesetzt ist. Aus diesem Grunde waren wir lange davon überzeugt, dass es gut und richtig ist, auch auf der Plattform X, vormals Twitter, aktiv zu sein: Um unseren wie auch anderen Zielgruppen den Wert einer freien, erkenntnisgeleiteten und faktenorientierten Wissenschaft zu zeigen und um auch auf diese Weise zu einer offenen und vielfältigen Meinungsbildung beizutragen." Dies sei bereits nach der Übernahme von Twitter durch Elon Musk zunehmend schwieriger geworden, da die Plattform in den vergangenen Monaten zu einem immer wissenschaftsferneren Umfeld geworden sei. "Zusammen mit den jüngsten tages- und parteipolitischen Äußerungen auf X ist nun für uns die rote Linie überschritten. Sie sind auch Angriffe auf die Werte, für welche die DFG steht und für die sie sich intensiv engagiert."

Auch die Geschäftsstelle der Leibniz-Gemeinschaft gab am Dienstag bekannt, dass sie Musks Plattform den Rücken kehrt. Weitere Institutionen dürften, im Stunden- oder Tagestakt, folgen.

Ich bin noch nicht bereit für meinen "WissXit"

Nicht immer hieß "verlassen" in der Vergangenheit freilich "verlassen". Ein großer Teil der Institutionen und Einzelpersonen behält ihren Account, kennzeichnet ihn als "stillgelegt", postet und antwortet nicht mehr. Die Gründe für diesen Halb-Abschied mögen vielfältig sein: Um die vergangenen Interaktionen zu erhalten. Um weiter lesen zu können, falls doch noch wichtige Inhalte auf "X" erscheinen. Und ja: Vielleicht haben einige auch die Hoffnung, dass die Plattform ein Leben nach Elon Musk und der Kaperung durch rechtes Gedankengut hat.

Was heißen die Vorgänge für mich als Wissenschaftsjournalist und Blogger persönlich? Mir geht es womöglich wie so vielen gerade. Mit dem Massenexodus ergibt es auch für mich immer weniger Sinn, noch bei "X" zu bleiben. Meine Argumentation aus dem Februar 2024 behält zwar ihre Gültigkeit, und doch: Mit den vielen, die gehen, schrumpft die Zahl der Gründe, selbst weiterzumachen. Und je mehr sich die Twitter-Reinkarnation "Bluesky" zur auch zahlenmäßig ernstzunehmenden Alternative entwickelt, desto mehr Argumente gibt es, nur noch dort zu posten.

Gleichzeitig kann und möchte ich nicht jene verurteilen, die trotz Musk noch den Austausch bei "X" pflegen. Mit allen, die ein demokratischer Mindestkonsens verbindet, auch mit völlig Andersdenkenden. Trotz der eingebrochenen Reichweiten. Sie sind für mich Lichter der Aufklärung in der zunehmenden diskursiven Dunkelheit – die ja, siehe den Kniefall Mark Zuckerbergs vor Trump, auch andere Plattformen zu ergreifen droht.

Bei allem Respekt vor denen, die gehen: Zu meinem persönlichen "WissXit" bin ich noch nicht bereit.

Dieser Artikel wurde am 15. Januar aktualisiert.

Kommentare

#1 -

Dominik Waßenhoven | Di., 14.01.2025 - 16:46
Ein weiterer wichtiger Grund gerade für Institutionen, den Account auf X nicht zu löschen, sondern ihn nur stillzulegen, ist, dass jemand den (dann freien) Account übernehmen könnte. Man verliert also nicht nur die alten Posts und Threads, wenn man seinen Account vollständig löscht, sondern läuft auch Gefahr, dass unter dem eigenen Namen Desinformation verbreitet wird.

#3 -

Daniel Kleskowski | Mi., 15.01.2025 - 10:41
So erfreulich der Weggang wissenschaftliche Institutionen und WissenschaftlerInnen von X auch ist: es ist fragwürdig, ob Threads oder Bluesky mit ihren zweifelhaften bis zwielichtigen Eigentümerstrukturen eine dauerhafte Alternative sein kann oder sollte.
Mit Mastodon im föderierten Fediverse steht eine ernstzunehmende Social-Media-Alternative bereit, die durch die dezentrale Struktur nicht dem Willen einzelner mächtiger Player unterworfen ist und daher eher dem pluralistischen Weltbild der Wissenschaft entspricht.

#4 -

emob | Mi., 15.01.2025 - 13:51
Ehrlich gesagt finde ich den Schritt jetzt wenig beeindruckend. Gerade wenn man bedenkt wie wenig bei den meisten institutionellen Kanälen an Reichweite verloren geht. Die Reichweite und das Interesse, das institutionelle Accounts dort erreichen ist winzig, auch wenn sich Hochschulleitungen dort gerne mal Wunderdinge erhoffen.
Vor zwei Jahren wäre es ein Zeichen gewesen, nun ist das Kind schon lange in den Brunnen gefallen.

#6 -

Michael Felten | Di., 21.01.2025 - 00:25
Die pädagogische und bildungstheoretische Debatte ist durch den Weggang zahlreicher potenter Einzelakteure (nicht Institutionen) zwar verarmt. Flammt aber m.W. andernorts auch nur bedingt wieder auf. Vielleicht muss man vorerst zweigleisig fahren. Ich denke, dass jede Plattform "Lichter der Aufklärung" gut gebrauchen kann. Von daher freut mich Ihr Verbleib auf X. Und auch diese nachdenkliche Selbstbehauptung.

#7 -

emob | Mi., 29.01.2025 - 11:42
Darüber werden wir vermutlich nicht einig, aber ich halte das für Augenwischerei, letztlich ist das Anschreien verschiedener Parteien auf Sozialen Medien alles Engagement und damit Umsatz. Man finanziert also damit die Leute, die an den Reglern sitzen, welche Inhalte gepusht werden. Den Propagandainhalte verleihen die "Lichter der Aufklärung" nur das Feigenblatt der Rationalität und Legitimität.

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