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Die Wissenschaft hat sich zu wenig den Bedürfnissen der Gesellschaft gestellt – das ist vorbei

Wissenschaftsministerin Petra Olschowski über den Gang der ETH Zürich nach Deutschland, den Umbau der Lehrerbildung, die Zukunft der Kultusministerkonferenz – und die Frage, ob Baden-Württemberg das neue Ruhrgebiet ist.

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Artikelbild: Die Wissenschaft hat sich zu wenig den Bedürfnissen der Gesellschaft gestellt – das ist vorbei

Petra Olschowski (Grüne) war 2010 bis 2016 Rektorin der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart und 2016 bis 2022 Staatssekretärin. Seit September 2022 ist sie baden-württembergische Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst. Foto: Lena Lux Fotografie & Bildjournalismus.

Frau Olschowski, die ETH Zürich hat neulich verkündet, dass sie eine Filiale in Baden-Württemberg eröffnen wird – in Heilbronn, als Nachbarin der TU München. Auch für Sie eine Überraschung?

Die Dieter-Schwarz-Stiftung, die den Bildungscampus Heilbronn stark mit vorantreibt, kann ohne Rücksprache mit dem Land Entscheidungen treffen, hat uns aber einige Tage vor der Bekanntgabe der Pläne informiert. Nach unserem Landeshochschulrecht muss das Wissenschaftsministerium der Ansiedlung zustimmen. Das prüfen wir jetzt. Grundsätzlich ist es erst mal ein starkes Zeichen für den Wissenschaftsstandort Baden-Württemberg, wenn es eine international herausragende Universität wie die ETH Zürich hierherzieht und sie ein Lehr- und Forschungszentrum für digitale Transformation errichten will. Das starke Netzwerk in der KI-Forschung, das wir im Land auch mit dem Cyber Valley aufbauen, wird dadurch noch stärker.

Sind Sie nicht enttäuscht, dass die ETH lieber dem Ruf von Milliardär Dieter Schwarz folgt, anstatt für ihren Deutschland-Trip einen der Innovationscampi auszusuchen, von denen Ihr Ministerium inzwischen fünf mit staatlichen Mitteln fördert, darunter das Cyber Valley in Tübingen?

Die ETH Zürich ist schon lange ein wichtiger Partner für das Cyber Valley, in das wir seit 2016 als Land investieren. Das Konzept vom Bildungscampus Heilbronn und unserer Innovationscampus-Modelle folgen der sehr ähnlichen Idee einer Verdichtung von Expertise, der Idee des möglichst frühen Transfers von Forschungserkenntnissen in die Wirtschaft. Im Cyber Valley sind das neben den Universitäten Stuttgart und Tübingen die Max-Planck-Gesellschaft und Unternehmen wie Amazon, Daimler oder Bosch. Dass die Dieter-Schwarz-Stiftung den Kooperationspartner ETH jetzt über die Grenze holt, eröffnet natürlich nochmal zusätzliche Perspektiven für die Zusammenarbeit.

 

"Ich kenne mich gut aus mit der Geschichte des Strukturwandels im Ruhrgebiet."

 

Fest steht: Baden-Württemberg braucht solche Nachrichten dringend. Das einst erfolgsverwöhnte Vorzeigeland steckt mit seiner Automobilindustrie in einer ähnlich tiefen Strukturkrise wie das Ruhrgebiet mit seiner Kohle- und Stahlindustrie in den 60er Jahren. 

Ich kenne mich gut aus mit der Geschichte des Strukturwandels im Ruhrgebiet. Meine Mutter kommt aus Dortmund, mein Opa hat untertage gearbeitet. Ich erinnere mich an die Debatten am Abendbrottisch, wie mein Opa und seine Kollegen weiter auf die Kohle gesetzt haben, obwohl längst absehbar war, dass es so nicht weitergeht. Schau ich mir die Situation heute in Baden-Württemberg an, gibt es Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Erstens: Wir werden uns eben nicht von der Automobilindustrie lösen müssen, wie Nordrhein-Westfalen sich von der Kohle lösen musste. Zweitens: Viele Dinge werden sich trotzdem grundsätzlich ändern. Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat schon 2017 einen Strategiedialog zur Transformation der Automobilindustrie eingerichtet, bei dem die Chefs der großen Auto- und Zulieferkonzerne regelmäßig zusammensitzen mit Gewerkschaften, Lobbygruppen, aber auch mit der Wissenschaft, mit den Landesministerien. Alle Beteiligten eint: Wir bleiben ein starker Automobilstandort, aber unsere Geschäftsmodelle wandeln sich, die Antriebsformen werden andere, der Schwerpunkt der Wertschöpfung verschiebt sich vermutlich Richtung Hochtechnologie.

Namentlich: die Künstliche Intelligenz in all ihren Ausprägungen. Tatsächlich hat Baden-Württemberg mit Aleph Alpha aus Heidelberg jetzt sogar einen von nur zwei europäischen Hoffnungsträgern, um ChatGPT Parolie zu bieten. Wiederum seit kurzem größter Geldgeber: die Schwarz-Gruppe und die Dieter-Schwarz-Stiftung. Deutschland war es dann auch, das neben Frankreich am meisten Druck gemacht hat, um eine Regulierung sogenannter Foundation Models im europäischen KI-Gesetz zu verhindern. Auf Initiative Baden-Württembergs?

Es trifft zu, dass wir uns als baden-württembergische Landesregierung dafür eingesetzt haben, bei dem Gesetzgebungsverfahren die Interessen von Innovation und Forschung zu berücksichtigen. Wir müssen ein europäisches KI-Modell hinbekommen, das nicht alle Freiheiten lässt, das die Möglichkeiten von Überwachung etwa am Arbeitsplatz in den Blick nimmt, zugleich aber nicht den Weg der Überregulierung geht. Wir reden die ganze Zeit darüber, dass wir als Gesellschaft risikofreudiger werden müssen. Dann sollten wir auch danach handeln. Wir wissen heute nicht, wie der wissenschaftliche Fortschritt in fünf oder in zehn Jahren aussieht. Darum dürfen wir jetzt nicht alle technologischen Entwicklungspfade blockieren. Wir müssen in Zukunft vermutlich lernen, unsere Gesetzgebung den Erkenntnissen entsprechend laufend anzupassen und nicht zu meinen, ein Gesetz gilt für Jahrzehnte. Und wir sollten im Zweifel die Innovationskraft von Wissenschaft und Wirtschaft zulassen. Das gilt bei der KI, aber auch bei der grünen Gentechnik und anderswo.


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Kommentare

#1 -

Laubeiter | Di., 19.12.2023 - 12:41
Mir fehlt die Idee der Boston Consulting Group " articulating a clear purpose, ambition, and strategic direction". Die Ministerin spricht so, als würde ein arg schmales Budget den Zielen ihrer Politik Grenzen setzen. Wenn die Ministerin MWK BW wirklich meint, die TUM habe deshalb so tolle Möglichkeiten, weil sie mehr Geld habe, dann sagt das für mich, dass das MWK BW, das in absoluten Zahlen mehr für die Universitäten ausgibt und dessen Universitäten mehr Drittmittel einnehmen als die Staatsregierung Bayern, erstmal nur kleine Schritte machen möchte. Das kann für die Universitäten in BW gut sein, sie werden dann durch das MWK weniger gesteuert als die TUM von der Staatsregierung.

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