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Der ehrliche Arbeiter

Ein ostdeutscher Erstakademiker vom Land, bis vor kurzem Präsident der Ernst-Abbe-Hochschule Jena – und nun als parteiloser Wissenschaftler Staatssekretär in der Thüringer Landesregierung: Das ist Steffen Teichert. Das Porträt eines Mannes, der von sich sagt, er habe sein Leben lang nichts geplant.
Ganzkörperportrait von Steffen Teichert auf einer modernen Treppe.

Steffen Teichert an seiner neuen Wirkungsstätte im Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur. Foto: Charles Yunck, www.charlesyunck.de.

EIN PAAR MONATE nach dem Mauerfall saß Steffen Teichert in einer Hamburger Altbauküche und schnitt Radieschen. Eine ganze Schüssel voll. Er war Mitte 20, Praktikant am Deutschen Elek- tronen-Synchrotron (DESY), untergekommen bei einem Akademikerpaar in Eppendorf, das es nicht fassen konnte. „Die beiden haben sich totgelacht, dass man sich eine Stunde hinsetzt, um Radieschen fein zu schnippeln“, erinnert er sich. „Das schien ihnen so absurd, wie es mir absurd erschien, als vierköpfige Familie auf mehr als 85 Quadratmetern zu wohnen.“

Teichert, geboren und aufgewachsen ganz im Süden der DDR, in einem Dorf hoch oben im Erzgebirge, lachte mit. Aber die Szene blieb. Radieschen, das war auch: Herkunft. Mentalität. Weltbild. 35 Jahre später verbindet ihn mit dem Eppendorfer Ehepaar eine lebenslange Freundschaft, und wenn Teichert zurückblickt, sagt er: "Ich hatte keinen Karriereentwurf. Den hatte es für mich nie gegeben." Ein ostdeutscher Erstakademiker vom Lande, dessen Studienabschluss als Diplomphysiker mit der Wende zusammenfiel. Dessen Vater wollte, dass er Werkzeugmacher wird, "das war für ihn das Höchste". Der, wie Teichert über sich selbst sagt, "nur versehentlich" studierte, weil seine Lehrer ihm die Erweiterte Oberschule empfahlen und er nicht wusste, was das bedeutete. "Ich habe mein Leben lang nichts geplant", sagt Teichert. "Ich habe mich immer von den Chancen überraschen lassen – die kamen dann auch."

Als Teichert dann zum ersten Mal auf der Regierungsbank saß, 
dachte er: "Was hast du denn jetzt wieder gemacht?"

Die womöglich größte kam vor zwei Monaten. Seit 2017 im Amt, befand sich Teichert in seiner zweiten Amtszeit als Präsident der Ernst-Abbe-Hochschule Jena (EAH), als Thüringens Ministerpräsident Mario Voigt (CDU) ihn kontaktierte: Ob er nicht Staatssekretär im Kultusministerium werden wolle. Als Teichert dann zum ersten Mal auf der Regierungsbank saß, dachte er: "Was hast du denn jetzt wieder gemacht?"

Als parteiloser Wissenschaftler Mitglied einer Regierung ohne Mehrheit aus CDU, SPD, BSW. Mit der AfD als stärkster Opposition und Björn Höcke als Oppositionsführer. Mitten in der Haushaltskrise, in der Sparen das höchste Gebot ist. Und dann auch noch als Entwicklungsingenieur und Materialforscher zuständig für Kultur.

Was ihn optimistisch macht? "Die hätten auch jemand Rundgelutschtes nehmen können, irgendeinen Jungen, Hippen aus Wirtschaft oder Kultur. Stattdessen haben sie gesagt: Wir nehmen den Teichert, der hat zwar Ecken und Kanten und auch schon etwas Patina, dafür ist er gut drin in den Themen." Das, sagt Teichert, zeige die Ernsthaftigkeit der Regierung von Mario Voigt.

Nebenher zeigt es, dass der neue Staatssekretär, so uneitel-bodenständig er sich gibt, mit dieser Uneitelkeit gerne kokettiert. "Herr Teichert kommt aus Sachsen und vom Land – das lässt er bei Bedarf durchscheinen", sagt einer, der ihn aus vielen gemeinsamen Sitzungen kennt. Teichert, ein kräftiger, etwas untersetzter Mann mit kurzem Vollbart und sparsamen Gesten, ist davon überzeugt, dass es mehr "Typen" brauche in der Politik, um der Ansehenskrise der Demokratie entgegenzuwirken.

Mehr Typen wie ihn? "Wenn ich mal meine Memoiren schreiben sollte, wird drüberstehen: Ein Leben an der A4, Dresden, Freiberg, Chemnitz, Jena – und jetzt Erfurt." Sagt er in seinem breiten sächsischen Singsang, begleitet von der Bemerkung, das sei das beste Hochdeutsch, was er anbieten könne.


Steffen Teichert, 61, studierte Physik in Dresden, Chemnitz und Kiew. Nach seiner Promotion arbeitete er als Entwicklungsingenieur, Manager und Berater in der Halbleiterindustrie. 2009 wechselte er ans Fraunhofer-Center Nanoelektronische Technologien in Dresden, wenig später an die Ernst-Abbe-Hochschule Jena, wo er eine Professur für Physikalische Werkstoffdiagnostik und Physik übernahm. 2013 wurde er Dekan, 2017 Rektor. Inzwischen in seiner zweiten Amtszeit und mit dem Titel "Präsident" versehen, berief ihn Thüringens Ministerpräsident Mario Voigt (CDU) zum Staatssekretär für Wissenschaft und Kultur. Teichert ist parteilos, verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. 
Foto: Charles Yunck.

Steffen Teichert lächelnd im Gespraech, am Tisch sitzend, mit Kaffeetasse.

Im Laufe seines Lebens hat er sich Stück für Stück westwärts bewegt: ein Jahr Studium in Dresden, dann, bereits verheiratet, der Wechsel an die TU Chemnitz, dort Promotion im zweiten Anlauf, nachdem sein Professor aus DDR-Zeiten die Uni verlassen musste. Und die erste wissenschaftliche Mitarbeiterstelle: "Ich hatte immer noch keine Ahnung, was aus mir werden sollte", sagt Teichert. "Aber die 4.000 Mark Monatsgehalt, die waren toll." Und die Gelegenheit für seine Frau und ihn, endlich Kinder zu bekommen: "Nach der Wende hatten wir erstmal Luft geholt – wie so viele."

Von der Uni dann in die Industrie, zuerst zu einem Mittelständler in Freiberg. Er startete mitten in der Dot-com-Krise, zunächst in der Entwicklungsabteilung, später war er viel im Ausland bei den Kunden vor Ort unterwegs. Die nächste Station war ein Halbleiterkonzern in Dresden, der in der Finanzkrise 2009 insolvent ging. Das sei der Job seines Lebens gewesen, "ich wäre da in 100 Jahren nicht freiwillig gegangen – bis diese geschliffene Mail kam, die ich dreimal lesen musste, und ich kapierte: Das war’s. Du bist – zusammen mit allen anderen – raus". Was damals in der Halbleiterindustrie kaputtging, sagt Teichert kopfschüttelnd, das versuche man jetzt händeringend wieder aufzubauen.

Er war 45, hatte zwei Kinder im Schulalter und ein nicht abbezahltes Haus. Wieder kam eine Gelegenheit: Fraunhofer heuerte ihn an, kurz darauf wurde er Professor fürPhysikalische Werkstoffdiagnostik und Physik an der EAH Jena. Einer Hochschule für angewandte Wissenschaft. Wieder ein Stück die A4 runter. Diesmal war es seine bewusste Entscheidung. "Vorher hatte ich mich oft in Bahnen schieben lassen, hier entschied ich ganz bewusst."

Vielleicht auch weil er nach Sicherheit strebte? "Sagen wir so: In der Industrie habe ich erlebt, wie brutal Märkte sind. Mit einem Mal hatte ich eine Urkunde, auf der stand 'Professur auf Lebenszeit'." Die Hochschule biete Profs enorme Sicherheit – aber auch eine gewisse Trägheit. "Wie oft habe ich zu Kollegen gesagt: Wenn Ihr einen schlechten Tag habt, schaut Euch Eure Ernennungsurkunde an. Ihr müsst Euch keine existenziellen Sorgen machen. Das ist ein riesiges Privileg."

Rektor? "Hatte ich zunächst nicht auf dem Schirm. 
Aber ich war neugierig und hatte ein paar Ideen."

Er wurde Dekan, gewann Lehr- und Forschungspreise. Und Rektor? "Hatte ich zunächst nicht auf dem Schirm. Aber ich war neugierig und hatte ein paar Ideen." Er habe keinerlei Erfahrung in der Hochschulleitung gehabt. "Vielleicht war das mein Vorteil – sonst hätte ich es mir nicht zugetraut." Seine Amtsführung als EAH-Präsident: solide, versiert. Manchmal sei es ihm allerdings schwergefallen, sich auf Anhieb in sein Gegenüber zu versetzen, erzählen sie an seiner Hochschule. Und dass die EAH immer ein Stück im Schatten der benachbarten Friedrich-Schiller-Universität gestanden habe, sei Teichert zugute gekommen, sagt einer: Solange man keine großen Fehler macht, segelt es sich ganz angenehm im Windschatten. 

"In der Rektorenrunde war Steffen Teichert der Gesprächspartner, mit dem man am besten diskutieren konnte, wenn es um die strategische Neuausrichtung der Wissenschaft ging“, sagt Walter Bauer-Wabnegg, noch so ein Wanderer zwischen den Welten: Heute Präsident der Universität Erfurt, bekleidete er zwischen 2004 und 2009 exakt den Staatssekretär-Job, den Teichert jetzt hat. "Der wird das gut machen", sagt Bauer-Wabnegg. Aber das werde auch "ein hartes Stück Arbeit", die vielen Abendtermine für die Kultur – und die Verhandlungen mit den Hochschulen um deren künftige Finanzierung.

Gerade haben sich Ministerium und Hochschule geeinigt, die Ende 2025 auslaufende Rahmenvereinbarung um zwölf Monate zu verlängern – um miteinander Zeit zu gewinnen. Anderswo verhängt die Politik einseitig Spardiktate. "Wir müssen uns aber auch in Thüringen ehrlich machen, was wir brauchen und was wir uns leisten können", sagt Teichert. Im Freistaat gebe es zehn staatliche Hochschulen, aber nur rund 44.000 Studierende, Tendenz fallend. "Gleichzeitig fehlen uns im Landeshaushalt über eine Milliarde Euro."

Klingt noch wolkig? "Kommen Sie in einem Jahr wieder, dann kann ich Ihnen mehr sagen", verspricht Teichert. Die Vertrautheit als früherer Kollege könne in den anstehenden Gesprächen helfen. Sein Leitspruch: "Das Dümmste, was man von sich selbst denken kann, ist, man sei der Klügste im Raum." Mit einem Mal wird er grundsätzlich: Er sei erst ein paar Wochen dabei, aber sein Eindruck sei, dass in der Landesregierung viele kluge Leute unterwegs seien, "die wissen, was auf dem Spiel steht", wenn die Brombeer-Koalition nicht liefere. "Wenn Sie Björn Höcke im Parlament live erleben, da läuft es einem eiskalt den Rücken runter. Rhetorisch stark, aber ohne jede Empathie." Teichert, man spürt es, glaubt immer noch daran: Dass sich die Demokratie bewahren lässt mit sauberer, ehrlicher Arbeit, verrichtet von Entscheidungsträgern, die Ahnung haben und zugleich nah dran sind am Menschen und ihre Sprache sprechen.

Teichert denke konkret, pragmatisch, "geizt gelegentlich mit Worten", sagt Paul Staab, studentisches Mitglied im Verwaltungsrat des Studierendenwerks Thüringen und im Verbandsrat des Deutschen Studierendenwerks – wo Teichert ebenfalls jeweils Mitglied war. Seine hemdsärmelige, pragmatische Herangehensweise sei in der Wissenschaftsgemeinschaft eher die Ausnahme – "aber eine erfrischende", so Staab.

Was denkt einer wie Teichert, der im Sechs-Bett-Zimmer wohnte, wenn Studierende über zu hohe Wohnheimmieten klagen? "Man muss da total aufpassen, nicht in ein Lamento über das angebliche Anspruchsdenken von heute zu verfallen", sagt er. "Ich habe immer Glück gehabt, für mich ging es immer weiter, immer aufwärts. Heute wird den jungen Leuten ständig aufs Brot geschmiert, dass die beste Zeit für dieses Land womöglich schon vorbei ist. Das ist eine Katastrophe, wir Alten sind doch diejenigen, die dafür verantwortlich sind, wo wir heute stehen." 

Im Verwaltungsrat des Studierendenwerks Thüringen saß Teichert qua Amt, Mitglied im DSW-Verbandsrat wurde er dann aus Überzeugung, wie er sagt. Jetzt, als Staatssekretär in Erfurt, weit im Westen der A4, ist Schluss mit dem Ehrenamt. Und noch weiter, sagt Teichert, würde er auch nicht gehen – schließlich muss er, der immer noch in Jena lebt, am Wochenende zurück ins Erzgebirge – "in mein Basislager".

Dieser Artikel erschien zuerst im DSW-Journal, Ausgabe 2-3/2025. 

Kommentare

#1 -

Sara Binay | Mo., 14.07.2025 - 11:02

Vielen Dank für das Porträt. Ich freue mich, dass eine erfahrene Person aus dem HAW-Kontext in diese Position in Thüringen gerufen worden ist. 

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