Gut, dass es die SWK gibt
Die Ständige Wissenschaftlichen Kommission hat mit ihren Vorschlägen zum akuten Lehrkräftemangel viel Aufregung ausgelöst. Wünschenswert wäre allerdings, dass mehr Kritiker ihre Zeit in die inhaltliche Debatte als in die Herabwürdigung des Gremiums stecken.
SIE HATTEN JA ERWARTET, dass es ungemütlich werden würde. Einige ihrer Vorschläge, hatte Felicitas Thiel im Podcast "WiardaWundertSich" vorab prophezeit, würden "nicht auf sehr viel Gegenliebe stoßen", und Olaf Köller ergänzte: Die Lehrerverbände müssten sich bei Widerspruch in der jetzigen Mangellage fragen lassen: "Was ist die Alternative?"
Mit so einem Entrüstungssturm werden die beiden Vorsitzenden der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz dann aber doch nicht gerechnet haben, der über sie hereinbrach, nachdem die SWK am Freitagmittag ihre "Empfehlungen zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel" präsentiert hatte.
Besonders empört ging es wieder einmal bei Twitter zu. "Beschämend und praxisfremd" sei, was den "Experten" (in Anführungszeichen!) da einfalle, schrieb ein Kommentator, Selbstbeschreibung "Redakteur und Dozent in Leipzig". "Ich habe eine andere Empfehlung: Expertenkommission durch Personen ersetzen, die Schulalltag kennen." Ein Berliner Gewerkschafter verwies darauf, dass die Lehrerverbände seit Jahren vor dem massiven Lehrkräftemangel gewarnt und viele konstruktive Vorschläge gemacht hätten, "die das jetzige Desaster verhindert hätten. Sie müssen sich gar nichts fragen lassen."
Hat ChatGPT die besseren Vorschläge?
Andere beauftragten den KI-Textgenerator ChatGPT, eigene Empfehlungen zu formulieren, und weite Teile der Online-Community waren sich anschließend einig: Die Ratschläge der Künstlichen Intelligenz seien hilfreicher als die Ausarbeitungen der SWK. Nach dem Motto: Schlauer als die 16 Wissenschaftler zu sein, ist nicht schwierig. Auch der Bildungsdirektor der Bertelsmann-Stiftung, Dirk Zorn, formulierte äußerst scharf: "Diese Art von Empfehlungen/Beratung hat mit Wissenschaft fast nichts zu tun, aber viel mit einer legitimatorischen Entlastungsfunktion für Politik."
All das nur ein kleiner Ausschnitt der nicht unter die Gürtellinie gehenden Reaktionen, denn von den anderen gab es auch reichlich. Doch schon erstere zeigten deutlich, dass da in der Rezeption der SWK-Empfehlungen ganz gehörig etwas schiefgelaufen war. Und das keineswegs nur in den sozialen Medien, wie etwa die Reaktion der linken Bildungspolitikerin Nicole Gohlke belegt. Der Bericht lese sich wie "eine PowerPoint-Präsentation einer Unternehmensberatung", kommentierte sie per Pressemitteilung."Da können sich McKinsey und Co noch eine Scheibe abschneiden."
Eine Einordnung in neun Punkten.
Erstens: Man kann, man sollte sich mit den Vorschlägen der Kommission kritisch auseinandersetzen. Aber bitte inhaltlich. Was in vielen Fällen stattdessen geschah, war eine persönliche Delegitimierung von Forschern – inklusive der Absprache ihrer Wissenschaftlichkeit. So schwächt man nicht deren Argumente, sondern die Glaubwürdigkeit der eigenen Kritik daran.
Zweitens: Macht sich die SWK zum willfährigen Instrument der Kultusminister? Diese häufig geäußerte Kritik erinnert an ähnlich gelagerte Vorwürfe an Virologen in der Pandemiezeit. Unabhängig von der tatsächlichen Qualität der wissenschaftlichen Politikberatung damals wie heute: Das war und ist eine Herabwürdigung unabhängig denkender Wissenschaftler, die sich neben ihrem eigentlichen Job in der Politikberatung engagieren. Und eine Herabwürdigung ihrer Expertise und Erfahrung gleich dazu. Ganz sicher haben es die SWK-Mitglieder nicht nötig, von der KMK Fleißpunkte einzusammeln. Ganz sicher haben sie sich gut überlegt, was sie da vorschlagen (was nicht heißt, dass alles davon richtig sein muss). Und im Unterschied zu manchem Adhoc-Gremium in der Coronakrise hat die SWK sogar noch eine Geschäftsordnung und klare, transparente Prozesse.
Hätte sich die SWK dem Auftrag verweigern sollen? Ein absurder Gedanke
Drittens: Hätte die SWK sich dem Auftrag verweigern sollen, wie manche meinen? Ein absurder Gedanke – handelt es sich doch beim akuten Fachkräftemangel um das größte Problem im Bildungswesen überhaupt zurzeit. Und sich als Wissenschaftler nur auf den langfristigen Umbau der Lehrerbildung zu konzentrieren, anstatt kurzfristige Schritte vorzuschlagen, wäre an der berechtigten gesellschaftlichen Erwartung an wissenschaftliche Politikberatung vorbeigegangen.
Viertens: Behandeln die Wissenschaftler die Kultusminister mit Samthandschuhen, weil sie in ihrem Empfehlungen die Analyse, wie es überhaupt zu einem so extremen Lehrkräftemangel kommen konnte, fast vollständig aussparen – und damit auch die Verantwortung der Politik in dem Zusammenhang? Hier schwingt wiederum der unterschwellige Vorwurf einer Kumpanei von Wissenschaft und Politik mit. Doch ist eine solche Darstellung schon deshalb schief, weil fast alle Mitglieder der Kommission zuvor viele Male in den unterschiedlichsten Zusammenhängen die Kultusminister für ihre verfehlten Prognosen und strategischen Versäumnisse kritisiert haben. Aber in diesem Fall ging es den Wissenschaftlern offensichtlich um Anderes: die Politik nicht in die gewohnte Verteidigungshandlung, sondern zum Handeln zu bringen.
Fünftens: Die Lehrkräfte tragen keine Verantwortung für die Misere, und tatsächlich haben Lehrerverbände, Gewerkschaften und Stiftungen die Not früher kommen sehen als viele (nicht alle!) Kultusminister. Folgt daraus jetzt die Berechtigung, von krisenbedingten Zumutungen ausgenommen zu werden? Nur wenn das angestrebte Ergebnis – eine kurzfristige Milderung der Notsituation an vielen Schulen – anders zu erreichen wäre. Doch selbst wenn man viele der seit Freitag gehörten (auch guten) Gegenvorschläge kombinierte, erscheinen ähnlich starke Effekte unwahrscheinlich bis unplausibel, wie sie etwa die von der SWK empfohlene Absenkung der Teilzeitquote oder – wo sinnvoll – die Erhöhung der Klassenfrequenzen haben dürften.
Sechstens: Nebenbei gesagt: Die wissenschaftlich-empirisch abgesicherte Erkenntnis, dass die Klassengröße kaum Einfluss auf die Unterrichtsqualität habe, als "realitätsfern" zu bezeichnen, grenzt in einer solchen Pauschalität an Wissenschaftsfeindlichkeit. So wie es falsch ist, so zu tun, als habe die SWK eine Teilzeit-Untergrenze unabhängig von der persönlichen Lebenssituation der Lehrkräfte gefordert. Konstruktiv wäre zudem, trotz aller Erregung über die Handvoll extrem umstrittener Vorschläge (zu denen vor allem auch die vorübergehende Erhöhung der Pflichtstundenzahl gehört) die Vielzahl weiterer Punkte zu beachten, die umgekehrt auf eine Entlastung der Lehrkräfte hinauslaufen würden.
Nein, Mehrarbeit führt nicht automatisch zu einer schlechteren Gesundheit
Siebtens: Einseitig ist im Übrigen die Kritik, dass die tatsächlich aus den SWK-Vorschlägen resultierende Mehrarbeit quasi automatisch zu einer schlechteren Gesundheit von Lehrkräften führen müsse, weshalb die Kommissionsvorschläge am Ende in mehr, sondern in weniger Unterricht resultieren würden. Gesundheit hat viele Dimensionen. Eine sehr wichtige ist das Erleben von Selbstwirksamkeit, und die könnte erhöht werden, wenn das System Schule insgesamt wieder besser funktioniert. Außerdem würden diejenigen tendenziell entlastet, die derzeit nicht in Teilzeit arbeiten.
Achtens: Was in der empörten Debatte fast völlig untergegangen ist, sind die Bedürfnisse derjenigen, um die es eigentlich gehen sollte. Nein, nicht um die Lehrkräfte, sondern um die Schülerinnen und Schüler. Wir müssen jetzt anfangen, die Bildungsmisere in den Griff zu bekommen. Das erfordert eine Anstrengung von allen – was übrigens den Lehrkräften sehr bewusst ist. Und sehr viele sind, so mein Eindruck, bereit dazu.
Neuntens: Genau deshalb ist der SWK zu danken. Sie hat einer Beauftragung zugestimmt, deren Konsequenzen für die eigene Beliebtheit ihr bewusst waren. Eben weil es keine einfachen Antworten auf die Krise gibt und weil klar war, dass diejenigen Antworten, die sie geben konnte, viele vor den Kopf stoßen würden. Die SWK hat sich am Freitag der Debatte gestellt, nein, sie hat die Debatte in der Intensität überhaupt erst ausgelöst. Das ist ein großes Verdienst und zeigt, wie richtig und wichtig die Gründung dieser Kommission war. Einer unabhängigen wissenschaftlichen Kommission wohlgemerkt.
Wie gesagt: Man kann, man muss sich mit den Vorschlägen der SWK kritisch auseinandersetzen. Und dann – hoffentlich – im Miteinander zwischen Schule und Wissenschaft Lösungen entwickeln, die der Dimension des Problems entsprechend so tragfähig wie kurzfristig sind. In jedem Fall gilt, was die Katja Knuth-Herzig vom Graduiertenkolleg "Wissenschaftsmanagement und Wissenschaftskommunikation" ebenfalls auf Twitter schrieb: "Die berechtigte Wut für schlechte Bedingungen sollte nicht Forschende treffen." Nein, nicht Wut. Sondern Anerkennung.
Kommentare
#1 - "Die berechtigte Wut für schlechte Bedingungen sollte…
Das käme einer unwissenschaftlichen Form von Immunität gleich, die letztlich schlecht für die Politikberatung als wissenschaftsnaher Dienstleistung ist. Denn wie eine Reihe aktueller Fälle zeigen, ist diese zur Zeit noch stärker eminenz- als evidenzbasiert: Die Berater*innen werden aufgrund ihres beruflichen Status ausgewählt & ihren Empfehlungen wird deswegen besondere Neutralität zugeschrieben. Sie sind in ihrem Gebiet natürlich kenntnisreicher als andere Personen, auch Fachpolitiker*innen, aber trotzdem sind die Empfehlungen regelmäßig weit von evidenzbasierten Aussagen entfernt, da es z.B. kaum Auseinandersetzung mit einem möglichen selection bias gibt. Ein besonders unrühmliches Beispiel war der Bericht der IfSG-Sachverständigenkommission, dessen Autor*innen sich ebenfalls jedes Infragestellen ihrer Eminenz verboten haben - dabei haben sie in den Bericht im Wesentlichen das reingeschrieben, was sie auch twittern. Für die methodische Qualität wäre es besser gewesen, wenn weniger prominente Wissenschaffende beauftragt worden wären. Eine KI, die kein "Ego" hat, kann die Evidenzsynthese im Rahmen von Politikberatung tatsächlich besser, weil sie z.B. nicht dazu neigt, nach Bestätigung für ihre eigenen, vorangegangenen Aussagen zu suchen. Wenn die beratenden Wissenschaffenden diese Limitationen nicht selbst mitdenken und thematisieren, müssen sie damit leben, dass es nur geringe Akzeptanz der Betroffenen für ihre Empfehlungen gibt und berechtigte, lautstarke Kritik, die auch persönliche Vorwürfe beinhaltet und die Auswahl der Expert*innen für solche Kommissionen in Frage stellt.
#2 - Volle Zustimmung, lieber Herr Wiarda! Mir fehlen bei all…
#3 - Ich Hanna, Unterrichtserfahrung, promoviert, in der…
#4 - Die lautstarke Kritik (in den Kommentaren und vor allem in…
Inhaltlich weisen die Experten zurecht darauf hin, dass viele Maßnahmen in vielen Ländern schon umgesetzt werden. Die Genehmigung von Teilzeitanträgen könnte von den Ministerien ohne weiteres eingeschränkt werden. Ich vermute allerdings, dass die daraus resultierenden Probleme von der Kommission unterschätzt werden. Lehrkräfte, die zum eigenen Gesundheitsschutz in Teilzeit arbeiten, zum vollen Stundendeputat zu zwingen, könnte eher zu einem erhöhten Krankenstand führen - aber nochmals: die Ministerien können den Spielraum durchaus ausnutzen, wenn es sein muss). "Vorgriffsstunden", die in den nächsten zwanzig Jahren nur schwerlich abgebaut werden können, sind übrigens ebenfalls keine unproblematische Lösung.
Im Detail sind manche Vorschläge einfach abenteuerlich, zwei Punkte mögen das exemplarisch zeigen: Die "Korrekturassistenten" (Studierende in den ersten Semestern) übernehmen die Bewertung von Oberstufenklausuren? In der ersten Phase der Lehrerausbildung wird das eigentlich nie thematisiert, in der zweiten Phase sind Referendare ob der Komplexität und der Wichtigkeit sehr dankbar für die Sitzungen (nebenbei: Klausuren müssen im Unterricht besprochen werden, um daraus lernen zu können - wie die Lehrkraft das ohne Kenntnis der Klausuren selbst macht?). Die angestrebte Entlastung über hybride Formate und das Zuhausebleiben der besseren Schüler waren in der Corona-Pandemie Notlösungen, die übrigens auch an den Universitäten die Studierenden vor große Probleme gestellt haben, das jetzt als "Vorbereitung auf das Studium" darzustellen, klingt dann doch wenig überzeugend. Von all den Hilfskräften, die plötzlich vielfältige Entlastungsaufgaben übernehmen, weiß auch niemand, woher sie kommen sollen, weder die Fachkräfte im IT-Bereich noch die Klassenfahrtsorganisierer).
Der Lehrkräftemangel mag so eklatant sein (grundsätzlich und vor allem in manchen Schulformen, Fächern, Regionen), dass harte Maßnahmen notwendig sind, aber ohne ein wirklich inhaltliche Auseinandersetzung gerade mit den Lehrkräften (und hätte nicht wenigstens eine Lehrkraft in der Kommission sitzen können?) werden die daraus resultierenden Maßnahmen keine wirkliche Verbesserung bringen.
#5 - "Und sich als Wissenschaftler nur auf den langfristigen…
D'accord, abgesehen von den zu erwartenden Reaktionen, hätte sich die SWK tatsächlich auf langfristige Maßnahmen beschränkt: "Was nützen uns diese Ratschläge hier und heute! Die Wissenschaft drückt sich vor den aktuen Problemen!" Oder so.
Das Problem mit Klassengrößen und Teilzeitquote ist aber doch, dass in der Außenwirkung damit eine "gefühlte" Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für Lehrer:innen transportiert wird. Die Hochschulen haben schon jetzt Probleme, ihre für die Lehrkräftebildung vorgesehenen Studienplätze zu füllen.
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